U. Manthe (Hg.): Die Rechtskulturen der Antike

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Titel
Die Rechtskulturen der Antike. Vom Alten Orient bis zum Römischen Reich


Herausgeber
Manthe, Ulrich
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Ronning, Centrum für Geschichte und Kultur des östlichen Mittelmeerraums/Seminar für Alte Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Michel Foucault hat vor nun über dreißig Jahren in Rio de Janeiro drei Vorträge gehalten, in denen er der "Wahrheit" und den "juristischen Formen" von der Antike bis in die Neuzeit nachspürte und drei Grundmodelle juristischer Erkenntnis ausmachte: "l'épreuve" - die Probe; "l'enquête" - die Untersuchung; und "l'examen" - die Prüfung.1 Foucault begreift Recht und Rechtsfindung als unauflösliche Verbindung von Wissen und Macht. In welcher Form aber diese Verbindung zustande kommt und wie Rechtserkenntnis mit dem Herrschaftssystem, der staatlichen Ordnung verflochten ist, dies variiert von Kultur zu Kultur, unterliegt im Laufe der Zeiten signifikanten Veränderungen. Und es wirkt sich bis in das Alltagsleben jedes Einzelnen aus. "Rechtsgeschichte" ist immer mehr als die Ermittlung der historischen Genese einzelner Rechtsinstitute; sie ist Spurensuche in einem Zentralbereich organisierten menschlichen Zusammenlebens und daher niemals zu trennen von Fragen des Aufbaus der Gesellschaft, von der Struktur und Funktionsweise des Wirtschaftslebens, und auch nicht - oder jedenfalls über lange Zeiten hinweg nicht - von dem Bereich des Heiligen.

Unter der Herausgeberschaft von Ulrich Manthe, Professor für Bürgerliches und Römisches Recht in Passau, sind nun mit ähnlicher Zielsetzung Beiträge ausgewiesener Forscher aus den altertumswissenschaftlichen und rechtshistorischen Disziplinen in einem Band zusammengeführt worden, der sein Publikum in die "Rechtskulturen der Antike" einführen soll. Eine wahrhaft herkulische Aufgabe. Schafik Allam widmet sich dem Recht im pharaonischen Ägypten, Hans Neumann in Mesopotamien, Richard Haase zeichnet für die Darstellung des hethitischen Rechts verantwortlich, Eckart Otto für dasjenige Altisraels, Gerhard Thür hat das Kapitel zum antiken Griechenland übernommen. Der Herausgeber selbst steuert - neben einer kurzen Einleitung - gemeinsam mit Éva Jakab einen Abschnitt zum römischen Recht bei. Den Sammelband ergänzen Anmerkungen zu den einzelnen Abschnitten, verbunden mit grundlegenden bibliografischen Hinweisen, eine Zeittafel, die angesichts der wechselvollen Geschichte des Mittelmeerraumes und Mesopotamiens sehr zu begrüßen ist, sowie ein knappes Register. Der den einzelnen "Rechtskulturen" jeweils zur Verfügung gestellte Platz schwankt zwischen knapp dreißig und über siebzig Seiten, entsprechend dem von den einzelnen Bearbeitern abzudeckenden Zeitraum sowie dem Umfang des zugrunde liegenden Materials.

Die Abschnitte, denen jeweils eine Übersichtskarte des in Frage stehenden geografischen Raumes vorangestellt ist, ähneln einander in der Untergliederung: Auf eine allgemeine Übersicht über die staatlichen Strukturen, die Religion und die sich daraus ergebenden Grundlagen des Rechtssystems folgt die Vorstellung der Quellenbasis, sodann, unterteilt in Prozessrecht und materielles Recht, eine Darstellung der signifikanten Rechtsinstitute. Neben dem Strafrecht bilden dabei das Familien- und Personenrecht sowie das Vermögensrecht im weiteren Sinne stets wiederkehrende Themenkreise. Der Sammelband folgt damit einer strengen Architektur, die an den Aufbau juristischer Lehrbücher erinnert. Den unabweisbaren Vorteilen - schnellere Orientierung gerade bei der Suche nach Entsprechungen oder Divergenzen zwischen den Rechtskulturen, Aufweis der immanenten Systematik einer Rechtsordnung (so vorhanden) - steht entgegen, dass darüber oftmals der große erzählerische Duktus verloren geht, die Dichte der Darstellung die Lektüre bisweilen zu einem Exerzitium macht. Mehr als reich wird der Leser für seine Mühe aber an Stellen belohnt, an denen er aufgrund der Kapitelüberschriften doch eher nüchterne Fakten vermuten würde: So etwa bei Eckart Ottos Darlegung des altisraelitischen Rechts, die mit ihrer Verbindung von israelitischer Rechtsgeschichte und Literaturgeschichte des Pentateuch ebenso anspruchsvoll wie ertragreich ist; so auch bei den fast vierzig Seiten zum römischen Obligationenrecht, die zum Anschaulichsten und Anregendsten gehören, was der Band zu bieten hat.

Doch drängte sich dem Rezensenten immer wieder die Frage nach dem von Verfassern und Verlag angestrebten Leserkreis auf. Die Gesamtanlage des Sammelbandes scheint vor allem dem Bemühen geschuldet zu sein, gleichsam Baupläne, Strukturen des Rechts zu skizzieren: ja es geht in der Tat mehr um die Systeme als um die Kulturen des Rechts. Eine "Einführung" kann dies angesichts der Komplexität von Materie und Präsentationsform kaum sein, oder doch nur für jemanden, dem das rechtswissenschaftliche Vokabular, das fachspezifische analytische Instrumentarium und die grundlegende juristische Denkweise des strikten Subsumierens und Abstrahierens wohlvertraut sind. Ein solcher Leser aber wird zu den einschlägigen Handbüchern greifen. Mit Blick auf ein breites Publikum wäre eine stärkere Betonung der Integration des Rechts in das Alltagsleben, wie es die angelsächsische "law and life"-Literatur seit längerem praktiziert2, sicher eine gangbare Alternative gewesen. Eine größere Anschaulichkeit, ein noch konsequenter an Fallbeispielen orientiertes Vorgehen - das sich zudem auf kasuistische Rechtstraditionen berufen könnte - hätten vermutlich stärker dazu beigetragen, das vom Klappentext versprochene "lebendige Bild des facettenreichen Rechtslebens der Antike" zu entwerfen. Auch aus diesem Grunde vermisst der Rezensent und mit ihm wohl jeder juristische Laie ein Glossar zur Erschließung der Fachtermini, die nicht immer oder nicht immer bei ihrem ersten Gebrauch erläutert werden. Und wer das Buch unter einer rechtsvergleichenden Fragestellung zur Hand nimmt und sich mittels einer Stichwortsuche raschen Aufschluss erhofft, wird relativ schnell an die Grenzen des Registers stoßen. Zu viele Begriffe sind hier leider nicht aufgenommen, die man nach der Lektüre des ganzen Bandes gerne noch einmal im interkulturellen Vergleich betrachten würde: etwa die Rechtsmängelhaftung, die Frage nach Urteilsarten (Beweis-, Leistungs- oder Feststellungsurteil?), nach Erfolgs- oder Verschuldenshaftung, nach Rechtsritualen oder Rechtsformeln, nach der Bestellung und Zusammensetzung der Gerichte, nach Eidformen usw. Das Register hilft in diesen Fällen nicht weiter.

Der Rezensent ist Althistoriker und kann daher zu einzelnen rechtsgeschichtlichen Fragen nicht Stellung nehmen. Doch wirken sich bisweilen die Bevorzugung einer rigiden Strukturierung anstelle der 'großen Linie' und die starke Konzentration auf die Rechtssystematik auch inhaltlich aus. Dass etwa die Geschworenentätigkeit einen ganz entscheidenden Teil der bürgerlichen Existenz eines Atheners darstellte, dass die attische Demokratie vor allem auch in der permanenten Mobilisierung der Vollbürger in den Dikasterien zum Ausdruck kam, wird in dem entsprechenden Abschnitt nicht recht deutlich. An anderer Stelle kann die (rechtswissenschaftliche) Terminologie zu Missverständnissen führen: So ist es zumindest problematisch, den römischen Principat als "Verfassungszustand" (S. 260), das Imperium der Hohen Kaiserzeit als einen "Verwaltungsstaat" (der doch kaum über Verwaltungspersonal verfügte) oder den Bürgerkrieg von 68/69 als "Interregnum" (S. 261) zu bezeichnen. Hier hat die neuere althistorische Forschung ein wesentlich dynamischeres Bild eines antiken Gemeinwesens entworfen, das sich den traditionellen Klassifikationen der Staatsrechtslehre in nicht wenigen Punkten entzieht.3

Der ganze Reichtum der in dem besprochenen Sammelband präsentierten Materie erschließt sich vielleicht erst, wenn der Leser sich eine eigene Schneise durch die dargebotene Fülle von Informationen schlägt; wenn er beispielsweise darangeht, die rechtlichen Rahmenbedingungen eines Frauenlebens in den unterschiedlichen Rechtskulturen der Antike ausfindig zu machen. Oder wenn er mit Foucault im Hinterkopf seine Notizen durchmustert: Nun findet man wieder "l'épreuve": das mesopotamische und hethitische Wasserordal als physische Probe, die ägyptischen Reinigungseide als ihre magisch-religiöse Spielart, die immer wieder auftauchenden Wortformeln als sprachliche Probe und schließlich die "soziale Probe", eine möglichst große Zahl angesehener Zeugen aufbieten zu können, die eher für die Person zu bürgen als über das tatsächliche Geschehen Auskunft zu geben vermögen; auch die "Untersuchung" (enquête) findet sich mit Urkunden- oder Augenscheinbeweis. Nur "l'examen", die Überprüfung und Überwachung, Foucaults panoptische Macht, bleibt wohl im Wesentlichen der Neuzeit vorbehalten.

Alles in allem haben die Beitragenden einen dichten, vor Information fast überquellenden Sammelband vorgelegt, der viele Arten der Lektüre zulässt. Es empfiehlt sich in der Tat, hier und dort aus der gewohnten Leserichtung von Buchdeckel zu Buchdeckel auszubrechen und anarchisch zu "springen", Nachrichten zu sammeln und neu zu kombinieren. Es wäre ein geeignetes Projekt für einen Hypertext; so jedoch mag der Leser sich mit Papier und Bleistift rüsten und in seinen Exzerpten und mindmaps vielgestaltige Ansichten des Rechtslebens der Alten Welt erstehen lassen, geleitet von einem Buchprojekt, bei dem viel gewagt und trotz der genannten Schwächen viel gewonnen wurde.

Anmerkungen:
1 Foucault, Michel, Die Wahrheit und die juristischen Formen. Mit einem Nachwort von Martin Saar, Frankfurt am Main 2003.
2 Vgl. etwa Crook, John A., Law and Life of Rome. 90 B.C.-A.D. 212, Ithaca 1967.
3 Paradigmatisch: Flaig, Egon, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich (Historische Studien 7), Frankfurt am Main 1992.

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