Cover
Titel
Recht, Unrecht, Gerechtigkeit. Von der Weimarer Republik bis heute. 75 Jahre D.A.S. Rechtsschutz


Autor(en)
Wesel, Uwe
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 301 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gusy, Falkultät für Rechtswissenschaft, Universität Bielefeld

Schon der Titel des Bandes lässt aufhorchen. Sollte hier etwa eine späte Bestätigung Hegelscher Dialektik bei gleichzeitiger Entdeckung immanenter Fortschrittsgesetze in der Rechtsgeschichte gelungen sein? Wie schön wäre es doch, ließe sich durch Zuordnung der Weimarer Republik zum Recht, des Nationalsozialismus zum Unrecht und der Bundesrepublik zur Gerechtigkeit aufzeigen, dass Hegel doch Recht gehabt habe und die Geschichte auf dem richtigen Wege sei. Und wir, so könnte hinzugefügt werden, befänden uns auf ihrem Höhepunkt. Doch so einfach können wir es uns nicht machen, und so einfach macht es sich auch der Autor nicht.

Die D.A.S. Rechtsschutzversicherung hat aus Anlass ihres 75. Firmenjubiläums ein gut aufgemachtes Buch herausgebracht, welches – eingerahmt von Präsentationen des Unternehmens und seiner Geschichte – einen ca. 240 Seiten langen Essay über die Rechts- und Justizgeschichte seit 1918 enthält. Die reich bebilderten, durch kurze Artikel unter anderem von Jutta Limbach und Wolfgang Ullmann ergänzten Ausführungen beziehen sich also auf den Rahmen, in welchem die Versicherung agierte. Uwe Wesel ist sowohl als herausragender Kenner der älteren und neueren Rechtgeschichte wie auch als brillanter Autor und Formulierungskünstler weithin bekannt. Er geht sein Thema so an, wie man es von ihm erwartet: Nicht durch penible und damit fast notwendig dröge philosophische Ausführungen zum Thema „Recht und Gerechtigkeit“. Sein Zugriff ist vielmehr gegenständlich umfassend und zugleich thesenhaft prägnant (S. 206): „Philosophie ist die Kunst, mit Worten, die niemand versteht, etwas zu sagen, was jeder weiß.“ So sind die Thesen der Frankfurter Schule wohl noch nie zusammengefasst worden.

Besorgt mag sich der PISA-geschädigte Leser fragen, was denn heute noch jeder weiß. Diese Frage wird jedoch glücklicherweise nicht einmal gestellt. Stattdessen präsentiert uns der Autor, was er weiß. Er versteht es meisterhaft, mit wenigen Sätzen Verfassungsordnungen zu charakterisieren und Probleme auf den Punkt zu bringen. Dabei geht er mit Prädikaten wie „recht“ oder „gerecht“ sparsam um. Er zeigt eher Tendenzen auf („gerechter“, „ungerechter“), ohne allerdings seine eigene Position im Unklaren zu lassen: Für ihn verwirklicht sich Gerechtigkeit in der sozialen Demokratie. Diese findet er ganz am Anfang seines Untersuchungszeitraums, nämlich im Text des Artikels 151 der Weimarer Reichsverfassung. Dort blieb sie nach Ansicht des Autors aber bloßes Papier. Und er findet die soziale Demokratie im Sozialstaat des Artikels 20 Absatz 1 des Grundgesetzes – juristisch garantiert, politisch umgesetzt, aber zugleich aktuell gefährdet. So schließen sich Kreise und öffnen sich zugleich. Das große Versprechen der Weimarer Verfassung wie auch des Grundgesetzes muss immer neu eingelöst werden, jetzt und in Zukunft.

Da der Autor auf eindimensional zuspitzende Charakterisierungen verzichtet, rücken die Extreme näher aneinander heran. Nie standen Recht und Unrecht allein, stets fand man sie in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Dabei wirkt die Weimarer Republik so formal und kühl, wie frühere Verfassungskritiker sie sahen: Recht und Rechtsphilosophie schienen mehr um ihrer selbst als um der Menschen willen da zu sein. Dagegen wird der Nationalsozialismus – im Widerspruch zu Ernst Fraenkels Doppelstaatsthese – nur als Unrechtsstaat gekennzeichnet. Die Besatzungszeit 1945–1949 war von guten Absichten und teils zu weit gehenden, teils zu halbherzigen Maßnahmen geprägt. In der DDR entdeckt der Autor neben vielen Maßnahmen von Unterdrückung, Bespitzelung und Diskriminierung – hier eher mit der Doppelstaatsthese – einen „weiblichen“ Zug des Rechts und der Rechtspflege. In der demgegenüber mehr „männlich“ geprägten Rechtsordnung der Bundesrepublik war der Weg zur sozialen Gerechtigkeit bisweilen schmal und steinig.

Dies alles wird an bekannten Fällen und Beispielen illustriert. Sie sind für den politisch oder historisch interessierten Leser überwiegend nicht neu. Bestechend ist dagegen ihre Auswahl, ihre Stilisierung und Charakterisierung durch den Autor sowie die Verallgemeinerung der aus ihnen herzuleitenden Konsequenzen. Es sind Sprache und Formulierungskunst, die Freude am Lesen bereiten. Es macht Spaß, neue Nuancen zu entdecken, sich vom Autor führen und manchmal irritieren zu lassen. Wer hier an Einzelheiten Anstoß nimmt, wirkt eher kleinlich: Der angefügte Literaturnachweis (S. 278ff.) ist weder vollständig noch aktuell und wohl eher assoziativ zu verstehen. Und ist Hitler wirklich auf Vorschlag Schleichers Kanzler geworden (so S. 45, differenzierter aber S. 47ff.)? Warum ist Roland Freisler nur als Bombenopfer, nicht hingegen als Mörder in Robe erwähnt? Führte das Wirtschaftswunder tatsächlich zum Erfolg der Entnazifizierung (S. 94, aufschlussreich aber auch S. 162), oder ermöglichte es nicht eher eine Vergangenheitspolitik, welche deren Scheitern überdeckte? Und das Urteil über das Wirken Hilde Benjamins changiert (einerseits S. 97, andererseits S. 118). Die Darstellung der DDR ist überhaupt der informativste Teil. Wesel hat hier offenkundig das Bedürfnis, nicht nur neu zu bewerten, sondern auch die immensen Wissenslücken namentlich westlicher Leser über Recht und Rechtspflege im „anderen“ Teil Deutschlands zu verkleinern. Dabei lässt sich der Autor nicht dazu verführen, Forschungsdefizite durch schnelle und knappe Wertungen zu ersetzen. Im Gegenteil: Er verdeutlicht gerade hier, dass man eigentlich nur bewerten kann, was man kennt – das macht die Sache schwierig.

Wer so fragt, lässt sich auf den Autor und sein Werk ein: Er will auch provozieren, und zwar zu Fragen, zur Diskussion und Kritik. Sich darauf einzulassen bedeutet: Das Buch hat seinen Zweck erreicht. Und man lässt sich gern darauf ein, denn das Buch ist ein Lesevergnügen. Wohl nicht zufällig finden sich einzelne Zitate von Kurt Tucholsky, dessen Anliegen ähnlich war. Daher kennen wir ihn noch heute – im Unterschied zu nahezu allen anderen Juristen seiner Zeit. Seine Werke wurden nicht nur aus Gründen der Steuerersparnis gekauft und dann ins Regal gestellt. Ähnliches ließe sich auch von dem hier angezeigten Buch hoffen.

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