M. Epkenhans u.a. (Hgg.):Militär und Aufbruch in die Moderne

Cover
Titel
Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan


Herausgeber
Epkenhans, Michael; Groß, Gerhard P.
Reihe
Beiträge zur Militärgeschichte 60
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
353 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Pöppinghege, Historisches Institut, Universität Paderborn

Bei dem Begriffspaar „Militär“ und „Modernisierung“ erwartet den Leser häufig eine Auflistung waffentechnischer Verbesserungen, die allenfalls für Technik-Freaks oder Militaria-Sammler von Interesse sind. Der vorliegende Band lässt die Befürchtung als unbegründet erscheinen, eine weitere positivistische Geschichte der Militärtechnik, gepaart mit einer fruchtlosen Strategiediskussion, auf den Tisch zu bekommen. Ganz im Sinne der neueren sozialhistorischen Militärgeschichte, die in den letzten Jahrzehnten selbst einen Modernisierungsprozess erlebte, befassen sich die verschiedenen Beiträge mit einem umfassenderen Verständnis des Spannungsverhältnisses von Militär und Gesellschaft. Der Band enthält die Beiträge einer internationalen Tagung der Otto-von-Bismarck-Stiftung und des Militärgeschichtlichen Forschungsamts. Die fachhistorischen Fragestellungen werden in drei Sektionen präsentiert: Militär und Politik, Militär und gesellschaftlicher Wandel, Militär und technologischer Wandel. Die insgesamt 15 Aufsätze und die zusammenfassenden Kommentare zu den Sektionen beleuchten die politischen, gesellschaftlichen und technischen Modernisierungsaspekte in den Streitkräften des Deutschen Reichs, der USA, Österreich-Ungarn, Großbritanniens, Frankreichs, Japans und Russlands. Hinzu kommen drei etwas isoliert stehende Aufsätze von Museumspraktikern aus Deutschland, den USA und Großbritannien über die Visualisierungsmöglichkeiten von Militärgeschichte.

Die Beiträge der Sektion Militär und Politik lassen sich unter der Leitfrage subsumieren, inwieweit sich die beiden Sphären in den einzelnen Ländern voneinander abgrenzen lassen. Denn im Untersuchungszeitraum wurde – oft unter dem Reformdruck eines verlorenen Krieges – das Verhältnis von Militär und Politik neu definiert. Während für Frankreich, die USA und Großbritannien der Primat der Politik festzustellen ist, erscheinen die Verhältnisse in Österreich-Ungarn, dem Deutschen Reich und vor allem Russland nicht so eindeutig. In Deutschland war es u.a. der von Moltke neu geschaffene Generalstab, der sich erfolgreich gegenüber der Politik zu behaupten wusste; in Russland sind im Untersuchungszeitraum zahlreiche Versuche des Militärs zu erkennen, sich in politische Fragen einzumischen.

Als heterogen erweist sich das Verhältnis des Militärs zu den jeweiligen Zivilgesellschaften. Mit der nahezu flächendeckenden Einführung der Wehrpflicht bekam der Staat ein Instrument zur Disziplinierung in die Hand, das andererseits verschiedene gesellschaftliche Schichten mit ihrem Streben nach politischer Partizipation verbanden. Das Militär konnte somit z.B. in Deutschland und Österreich-Ungarn als „Schule der Nation“ erscheinen, in Russland sogar ganz konkret im Rahmen einer Alphabetisierungskampagne eine Bildungsfunktion wahrnehmen. Dagegen hatten in den USA nach dem Ende des Bürgerkriegs sowohl die Armee als auch die Marine einen deutlichen Bedeutungs- und Ansehensverlust zu erleiden, bevor sich in den 1880er-Jahren der zunehmend wichtiger werdende militärisch-industrielle Komplex herausbildete. In Japan mussten sich die Soldaten bis nach dem erfolgreichen Krieg gegen Russland 1905 gedulden, um größere gesellschaftliche Anerkennung zu finden. In allen behandelten Staaten ist für die Zeit von 1860 bis 1890 ein zunehmender Einfluss des Industrialisierungsgrades auf die Streitkräfte festzustellen. Die Massenmobilisierung, der technologische Fortschritt und eine effizientere Militärorganisation erlangten erhöhte Bedeutung.

In der Sektion Militär und technologischer Wandel zeigt sich, wie die waffentechnischen und infrastrukturellen Verbesserungen weit reichenden Einfluss auf den Ausgang von Kriegen ausübten. Modernisierung war hier gleichzusetzen mit der Lernfähigkeit der Akteure, neue technologische Entwicklungen abzuschätzen und wenn möglich in ihre Handlungskonzepte zu integrieren. Neben dem Einsatz von Dampfkraft und Telegrafie war es das berühmte Zündnadelgewehr, dessen Durchbruch zuerst in der preußischen Armee taktische Anpassungen erforderte und gleichzeitig neue operative Perspektiven eröffnete. Auch hier spielen die Zusammenarbeit zwischen Militär und zivilen Firmen sowie die Modernisierungseffekte dieser Zusammenarbeit eine beträchtliche Rolle, was die Darstellungen wohltuend von strikt technikgeschichtlichen Untersuchungen abhebt. Lediglich im Falle des US-amerikanischen Beispiels erscheint die achtseitige Erörterung neuer Beschaffungs-Formulare für die zivile Auftragsvergabe als reichlich überzogen.

Die vierte Sektion zum Thema „Militärmuseum als Lernort“ wirft zunächst die Frage auf, ob Militärmuseen überhaupt noch ihre Existenzberechtigung haben. Sollte man vielleicht nicht gleich die Militärgeschichte in allgemeingeschichtliche Museen integrieren? Sicher nicht, wenn man der Ansicht ist, dass nichts „rascher und besser Auskunft über das Selbstverständnis eines Landes wie gerade ein militärhistorisches Museum“ (S. 298) gibt. Auch wenn man dieser enormen Bedeutungszuschreibung nicht vollends zuzustimmen vermag, so sprechen moderne museumsdidaktische Konzepte doch für eine gesonderte Darbietung der Militärgeschichte. Die Beispiele zeigen nämlich, dass militärgeschichtliche Museen dann ihren Wert haben, wenn sie mit ihren Darstellungen die Anbindung an die Gesellschafts- und Kulturgeschichte ermöglichen und sich von den herkömmlichen Konzepten regimentsgeschichtlicher Rumpelkammern alter Prägung verabschieden.

Der Untersuchungszeitraum (1860-1890) des Tagungsbandes erscheint etwas willkürlich gewählt, bietet bei den heterogenen nationalstaatlichen Entwicklungen aber so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner. Sein Ende fällt wohl nicht von ungefähr mit dem Abgang Bismarcks zusammen – offenbar eine Reminiszenz an die beteiligte Otto-von-Bismarck-Stiftung. Insofern ist es durchaus gerechtfertigt, von einem „Aufbruch“ in die Moderne zu sprechen, denn ein mindestens ebenso starker Modernisierungsschub ist erneut in den folgenden Jahren mit der Flottenrüstung und im Ersten Weltkrieg zu verzeichnen. Trotzdem eröffnen die Aufsätze neue Zugänge und ermöglichen vergleichende Perspektiven, die freilich von den Autoren nicht selbst explizit gemacht werden. Der Mangel an international vergleichenden Studien macht sich auch hier bemerkbar, obwohl der Tagungsband mit dem ausdrücklichen Anspruch antritt, einen internationalen Vergleich anstellen zu wollen (S. XI). Eine dezidiert vergleichende Perspektive nimmt jedoch keiner der Beiträge ein. Allerdings wird dieses Defizit ansatzweise durch die den einzelnen Sektionen vorangestellten einleitenden Kommentare sowie durch Hans-Ulrich Wehlers Einführungsartikel kompensiert.

Es ist wohlfeil, einem solchen Tagungsband vorzuwerfen, bestimmte Themen nicht behandelt zu haben, denn er kann einen komplexen internationalen Modernisierungsprozess nur umreißen. So hätten beispielsweise die vielschichtigen Humanisierungsbemühungen im Bereich des Kriegs- und Völkerrechts berücksichtigt werden können. In den Untersuchungszeitraum fallen so wichtige Meilensteine wie die Genfer Konvention von 1864 und die Gründung des Roten Kreuzes. Doch diese Hinweise sollten lediglich als Ergänzungen und nicht als Kritik verstanden werden. Zum Schluss stellt sich die Frage, mit welchem Modernisierungsbegriff die Militärgeschichte überhaupt operieren kann. Angesichts hoch technologisierter, asymmetrischer Kriege zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirkt ein industrialisierter Massenkrieg, wie er noch vor 100 Jahren als Inbegriff von Modernität galt, heute nur noch anachronistisch – ein weiterer Hinweis darauf, dass es gerade die Lernfähigkeit der Akteure und die Akzeptanz permanenten Wandels sind, durch die sich nichtlineare Modernisierungsprozesse auszeichnen.

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