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Titel
Vom Feindbild zum Fremdbild. Die gegenseitige Darstellung von BRD und DDR im Dokumentarfilm


Autor(en)
Steinle, Matthias
Reihe
Close up 18
Erschienen
Konstanz 2003: UVK Verlag
Anzahl Seiten
514 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zahlmann, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Noch bis in die 1990er-Jahre war es in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen, die sich mit der Geschichte und Analyse von Filmen befassten, wie selbstverständlich üblich, allein westdeutsche Filme mit dem Etikett “deutscher Film” zu versehen. Weniger einem politischen Alleinvertretungsanspruch der BRD verpflichtet als der Unkenntnis ostdeutscher Produktionen geschuldet, beeilte man sich nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der Archive “nachzuliefern”: In Neuauflagen von Standardwerken finden sich gesonderte Kapitel über die Arbeiten der Film- und Fernsehschaffenden der DDR und die bereits vor 1989 entstandenen Schriften über die DEFA und den DFF erhielten eine größere Aufmerksamkeit. Vor allem einer Generation jüngerer Wissenschaftler ist es jedoch zu verdanken, dass seit einigen Jahren verschiedene Aspekte der Mediengeschichte in deutsch-deutscher Perspektive verstärkt in den Blickpunkt des Forschungsinteresses gerückt sind. Einen Schwerpunkt bilden hierbei vor allem die Spielfilmproduktionen der DDR und BRD.

Die jetzt im Druck vorliegende Dissertation von Matthias Steinle widmet sich dagegen der Analyse von Dokumentarfilmen aus der Bundesrepublik und der DDR, die ihren Zuschauern eine Sicht auf das jeweils andere Deutschland boten. Sie schließt damit nicht nur eine Lücke in der vergleichenden Mediengeschichte, sondern bietet einen längst überfälligen Einblick in diesen zentralen Aspekt der dokumentarischen Kino- und Fernsehproduktionen beider deutscher Staaten.

Steinle strukturiert nach einer knappen Einleitung seine Analyse der gegenseitigen Darstellungen analog zu politikgeschichtlichen Zäsuren: 1. Doppelte Staatsgründung und Einheits-Rhetorik (1949-1955), 2. Definitive Blockintegration (1955-1961), 3. Eiszeit im Schatten der Mauer (1961-1965), 4. Vom Kalten Krieg zur internationalen Entspannung (1965-1970), 5. Von der ‘Aggression auf Filzlatschen’ zur friedlichen Koexistenz (1970-1975), 6. Business as usual (1975-1989). Mit dieser Gliederung scheint es sich der Verfasser auf den ersten Blick recht leicht zu machen, ließe sich die Geschichte des Dokumentarfilms doch auch anhand von Stilrichtungen, dem Werk einzelner Regisseure oder der medialen Verschiebung von Film- zu Fernsehproduktionen strukturieren. Es ist nun aber eine besondere Schwierigkeit einer deutsch-deutschen Perspektive, eine Vergleichbarkeit von BRD- und DDR-Dokumentationen herzustellen, die die jeweils unterschiedlichen Produktionsbedingungen und Zuschauerfokussierungen berücksichtigt, ohne sie andererseits absolut zu setzen. Mit den objektiven Daten der politischen Entwicklung im deutsch-deutschen Verhältnis ist es Steinle überzeugend gelungen, ein Raster zu bilden, mit dem stilistische, thematische und mediale Kontinuitäten und Bruchlinien in vergleichender Perspektive deutlich werden, ebenso wie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Produktionen beider deutscher Staaten.

In jedem Kapitel werden anhand von Fallbeispielen charakteristische Aspekte deutsch-deutscher Dokumentarfilmproduktion dargestellt und analysiert. “Mit ‘dem Fremden’ als Metapher der Distanz erfasst die Untersuchung die Entwicklung von Feind- zu Fremdbildern in der Spannbreite von Zurückweisung über Entfremdung bis hin zum Zugeständnis eigenständiger Andersartigkeit - nicht starr, sondern als ambivalentes Konzept, das zwischen Bedrohung, Indifferenz und Akzeptanz changiert (S. 27). Obgleich die Entwicklung „vom Feindbild zum Fremdbild“ in den Dokumentarfilmen auf beiden Seiten zu beobachten ist - wenngleich in unterschiedlichem Tempo und nicht ohne Rückschläge und Unterbrechungen -, sind auf der inhaltlichen Ebene viele Schwerpunkte und Stereotypen über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg kaum modifiziert worden. Steinle arbeitet als typisches Motiv-Ensemble zahlreicher bundesrepublikanischer Produktionen die Darstellung der DDR als “Mangelsystem” und “Propagandastaat” mit einem “Unterdrückungs- und Unrechtssystem” (S. 442) heraus. Die Filme der DDR schreiben dem westlichen deutschen Staat demgegenüber eine unsoziale Lebensweise, faschistische Kontinuität und eine dem Untergang geweihte Dekadenz zu.

An vielen Stellen der Arbeit wird deutlich, dass das Interesse an Dokumentarfilmen über das jeweils andere Deutschland beim eigenen Publikum nicht immer sehr groß war. Seine Analysen zeigen auch klar die Hintergründe dieses Phänomens: Propagandistische Verzerrungen in Kino- und Fernsehfilmen wurden vom kritischen Publikum schnell als solche erkannt, vor allem, wenn den Bildern des anderen Deutschlands sichtlich geschönte Eigendarstellungen gegenübergestellt wurden.

Spätestens mit der Einführung des Fernsehens war auch für die ostdeutschen Bürger die grenzüberschreitende Rezeption westdeutscher Selbstbilder möglich. Vor dem Hintergrund dieser individuellen Vergleichs- und Kontrollmöglichkeiten wurde für den Dokumentarfilm der DDR eine Entwicklung hin zu einer neutraleren und sachlicheren Darstellungspraxis der BRD zwar eigentlich unausweichlich, sie blieb jedoch weitgehend aus oder blieb zumindest höchst widersprüchlich. Das Ergebnis war die Ablehnung solcher zeitlos-alltagsfernen und selbstreferentiellen Sendungen wie Karl-Eduard von Schnitzlers „Der schwarze Kanal“ durch das Publikum. Wandten sich dagegen westdeutsche Dokumentarfilmer von der Politik Ost-Berlins ab und stattdessen den landschaftlichen und kulturellen Schönheiten der DDR zu, war ihnen die Aufmerksamkeit und Akzeptanz ostdeutscher Bürger sicher, sahen sie sich doch im “angehimmelten” (S. 398) Westfernsehen in anerkennender Weise dargestellt und in ihren Selbstbildern bestätigt.

Die Fülle der Einzelergebnisse der Studie kann an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden. Eine wichtige Erkenntnis zieht der Autor aus der Geschichte des bundesrepublikanischen Dokumentarfilms: Sie zeigt, dass dokumentarische Bilder einer anderen Gesellschaft auf Dauer nur dann zur Legitimation der eigenen beitragen können, wenn “nicht die Fremden, sondern der Mangel an Fremdheit, nicht die Anderen, sondern die Nivellierung der Alterität” (S. 454) als Probleme erkannt werden. Eben daran hat es in der DDR zeitlebens gefehlt.

Insgesamt imponiert an der Darstellung besonders der souveräne, unaufgeregte und zugleich kritische Umgang mit der schwierigen Quellengattung „Film“ sowie das abgewogene, nie einseitige Urteil. Steinle weist im letzten Satz seines Vorwortes auf die Frage seiner Eltern hin, weshalb er mit einem solchen, „rein deutschen“ Gegenstand in Frankreich habe studieren müssen. Der Rezensent ist geneigt, diese Qualitäten nicht unabhängig vom Entstehungskontext zu sehen, im Gegenteil: Die Distanz hat der Sache erkennbar gut getan.

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