Cover
Titel
Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters 1


Herausgeber
Wolf, Herta
Reihe
Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 1598
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
468 S.
Preis
€ 14,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Engelbart, Evangelisches Zentralarchiv, Berlin

Die vorliegende Aufsatzsammlung ist der erste Teil einer Anthologie, deren zweiter Teil bereits seit September 2003 unter dem Titel "Diskurse der Fotografie" ebenfalls bei Suhrkamp vorliegt. Im hier besprochenen ersten Band versucht Herta Wolf mit dem Begriff des Paradigmas eine Auswahl von zwanzig Texten aus einem Entstehungszeitraum von vierzig Jahren theoretisch zu bündeln. Es geht ihr dabei weniger um die fotografische Bildproduktion im Einzelnen als um die mentale Repräsentanz dieses Mediums, um "das Fotografische", wie es seit dem 19. Jahrhundert ganze Bereiche des Wissens neu modellieren konnte. Damit liegt dem Arrangement des Bandes eine epistemologische Fragestellung zugrunde. "Episteme" meint hier nicht das Wissen allgemein, sondern ein durch epochenspezifische Vorstellungen geprägtes Wissen. In diesem Sinne wird die Fotografie zunächst als wirkungsmächtiges Paradigma für Wahrnehmung, Erinnerung, Bewusstsein und Verdrängung im psychoanalytischen und erkenntnistheoretischen Subjekt vorgestellt. Im Weiteren wird die Fotografie als epistemologisches Paradigma des Medialen, der Kunst- und Medientheorie, der technologischen Zäsur und der Neuformierung von Archiven erörtert, d.h. von Ordnungssystemen im Sinne Michel Foucaults. Die einzelnen Sparten der fotografischen Bildproduktion hingegen, und die spezifischen Probleme ihrer Theorie sind dann eher Gegenstand des zweiten Bandes. Dort hat sich glücklicherweise die zum Teil sehr schlechte Qualität der Abbildungen nicht wiederholt.

Bei "Paradigma Fotografie" handelt es sich also um den Versuch, eine kritische Metatheorie des durch "das Fotografische" geprägten Wissens mit Hilfe einer geschickten Auswahl von Texten zu entwickeln. Der Ansatz kann kritisiert werden. So könnte man zum Beispiel fragen, ob es sich bei der Rede vom Fotografischen als apparativem Paradigma für mentale Vorgänge nicht doch nur um eine zeitgenössische Metapher handelt, die nur illustrierende, aber wenig prägende Kraft gehabt hätte. Auch die ketzerische Frage nach dem Motiv eines ausdrücklich epistemologischen Diskurses darf gestellt werden. Man könnte behaupten, dass nur unter dem Vorbehalt einer epistemologischen Begrifflichkeit noch über "die Fotografie" im Ganzen statt über konkrete Fotografien geschrieben werden kann. Leicht könnte deshalb der Verdacht entstehen, die epistemische Ebene sei nur eine Projektion, die ein solches Schreiben weiterhin ermöglichen soll. Zudem begeben sich die Dinge im Bereich dieser Metatheorie in ein so komplexes Geflecht, dass Einteilungsschemata einander überlagern und durchdringen. So wirkt es zunächst verwirrend, dass die Modalitäten des Paradigmatischen, die Herta Wolf in der Einleitung entwickelt, die Ordnung des Buches nur zum geringeren Teil bestimmen. Hier herrscht eher die bewährte Ordnung historischer Sektionen. Diese zu den konzeptuellen Überlegungen der Einleitung in Beziehung zu setzen, bleibt dem Leser überlassen.

Die Beiträge sind durchweg lesenswert, schon weil mit ihrer Zusammenstellung eine im Wesentlichen angloamerikanische und französische Diskussion erstmals in deutscher Sprache ausführlicher dokumentiert wird. Noch ganz im Einklang mit der Einleitung steht am Anfang eine Textgruppe, in der die Fotografie als apparatives Paradigma analysiert wird. Joel Snyder gibt zunächst eine kritische Geschichte des optisch-perspektivischen Sehens (1980). Die Apparatur und das Positiv-Negativ-Verfahren der Fotografie als prägende Metaphern in der Psychoanalyse sind Gegenstand einer Freud-Exegese von Sarah Kofman (1988). Den entsprechenden Versuch für die Funktion der Camera obscura bei der Konstitution des Subjekts in der Erkenntnistheorie unternimmt Jonathan Crary (1988). In seinem Beitrag "Die Modernisierung des Sehens" (1988) weist er zugleich nach, dass das erkenntnistheoretische Paradigma der Kamera schon zum Zeitpunkt der Erfindung der Fotografie von der Wahrnehmungsphysiologie überholt war. Roland Barthes ist mit zwei erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Interviews vertreten (1977/1979), die Aufschlüsse über seine Konzeption der "hellen Kammer" geben. Herta Wolf untersucht dieses Konzept daraufhin auf seine semiotischen Implikationen (1985); Margaret Iversen setzt es wiederum zur Psychoanalyse in Beziehung, insbesondere zum Verhältnis von imaginärer, symbolischer und realer Ordnung bei Lacan (1994).

Eine zweite Gruppe von Beiträgen ist dem Übergang von der analogen zur digitalen Technologie gewidmet und damit einer historisch vorbildlosen Zäsur, die in ihrer Bedeutung noch nicht abzuschätzen ist. In den Beiträgen wird eine Reihe tief greifender Unterschiede präzise benannt, die dennoch nicht den Schluss auf ein "Ende des fotografischen Zeitalters" zulassen, wie ihn die Herausgeberin nahe legt. Peter Lunenfeld weist in seinem Aufsatz "Digitale Fotografie. Das dubitative Bild" (2000) zu Recht darauf hin, dass das Foto mit dem Übergang zur digital gespeicherten (und damit prinzipiell leichter manipulierbaren) Bilddatei gewissermaßen zu einer Unterabteilung der Computergrafik wird. Deren technologischer Status quo wird von Friedrich Kittler (1998) skizziert. Wolfgang Hagen zeigt auf einem langen, für den Laien manchmal dornigen Weg durch die Theorie der Quantenmechanik ("Die Entropie der Fotografie", Originalbeitrag), dass der Belichtungsakt in der digital gespeicherten und als Computergrafik ausgegebenen Fotografie nicht eigentlich ein digitaler ist. Die Lichtempfindlichkeit der Halbleiter bedeutet den Umstieg vom optisch-chemischen auf ein optisch-elektrophysikalisches Verfahren, aber nicht per se auf das digitale, das erst im Speichermodus zum Tragen kommt. Auf dem analog belichteten, entwickelten und fixierten Negativ herrscht die Entropie der Silbersalze, die einem komplexen Prozess unterworfen waren. Dies gilt auch für den Fotochip, der den durch ein Objektiv gebündelten Reflexionen des Sonnenlichts ausgesetzt ist. Der entscheidende Unterschied ist für Hagen, dass sich der Fotochip "resetten" lässt, die durch die Belichtung erwirkte Entropie der Silbersalze dagegen zwar weiteren Veränderungen ausgesetzt sein mag, insgesamt aber irreversibel ist. Es ist allerdings fraglich, ob die Verschiedenheit der Entropie in der analogen und in der digitalen Fotografie, auf die Hagen solchen Wert legt, mehr bedeutet als eine akademische Pointe. Entropisch und irreversibel ist auch die Verteilung der Druckfarben im Computerausdruck, der in den meisten Gebrauchsweisen der Fotografie ohne wesentliche Manipulationen der Bilddatei erfolgen wird. So ist es fraglich, ob ein digitales Familien- oder Urlaubsfoto sich in seinem Realitätsgehalt und seiner sozialen Funktion von einem analogen unterscheidet; davon abgesehen hält auch der traditionell-analoge Laborprozess bekanntlich zahlreiche manipulative Optionen bereit.

In einer dritten Gruppe von Texten wird die Nobilitierung der Fotografie zur Kunst nachgezeichnet. John Taggs Beitrag (1981) referiert im Wesentlichen die umfangreichere Studie von Bernard Edelman, "Le droit saisi par la photographie" (erweiterte Ausgabe Paris 1980), in der die Konstituierung des künstlerisch-schöpferischen Subjekts im Medium der französischen Rechtssprechung am Beispiel der Fotografie dargelegt wird. Diese avancierte unter dem Druck der Fotoindustrie per Gesetz von der mechanischen Duplikation "materieller Objekte", die ja jeweils schon Eigentum sind, zu deren schöpferischer Aneignung. Es fehlt auch nicht an kritischer Theorie der Fotografie, explizit vertreten durch den Aufsatz von Allan Sekula "Der Handel mit Fotografien" (1981). Sekula geht es nicht darum aufzuzeigen, wie Fotografien sich zur Ware auf dem Bildmarkt des Journalismus oder im Kunsthandel entwickelten. Er untersucht fotografische Konzepte und Großprojekte wie die Ausstellung "The Family of Man" als allgemeine Äquivalente zur globalen Durchsetzung von Ideologien. Dagegen gelingt es Christopher Phillips in seinem Beitrag "Der Richterstuhl der Fotografie" (1982), den Prozess der Musealisierung der Fotografie dingfest zu machen, und zwar anhand einer Geschichte der Fotografieabteilung des New Yorker Museum of Modern Art und ihrer Kuratoren bzw. Leiter Beaumont Newhall, Edward Steichen und John Szarkowski. Phillips analysiert die Ambitionen, Strategien und Ideologeme, mit denen das MoMA die Fotografie der Kunstgeschichte und damit der Museumskunst einverleibte. Diese Analyse ist auch deshalb so aufschlussreich, weil das MoMA sicherlich nicht nur ein Beispiel unter vielen, sondern als Motor einer Entwicklung anzusehen ist. Es ist der Herausgeberin zu danken, dass sich Abigail Solomon-Godeaus "Tunnelblick" (1982) unmittelbar an Phillips Text anschließt. 1981 kuratierte Peter Galassi im Auftrag John Szarkowskis die Ausstellung "Before Photography" am MoMA. In dieser Ausstellung und einem einflussreichen Katalogtext reduzierte Galassi die Erfindung der Fotografie auf das Resultat einer sich verändernden Raumauffassung in der europäischen Malerei. Solomon-Godeau unterzieht diese fotogeschichtliche Perspektive Galassis, der heute Leiter der MoMA-Fotoabteilung ist, einer fundierten Kritik, deren deutschsprachige Publikation überfällig war.

Was dem Aufsatzband auch auf der epistemologischen Ebene fehlt, ist die Reflexion des historischen Zeugnischarakters der Fotografie. Analogen und digitalen Fotografien ist gemeinsam, dass sie unter historischen Gesichtspunkten nicht ohne Kontext verstanden werden können, genauer: dass die Interpretation nur so weit gehen darf, wie der Kontext bekannt ist. Interpretationen ohne Kenntnis des Kontextes können im Bereich der Kunst produktiv sein - in der Kunstwissenschaft sind sie es nicht, ebenso wenig wie in der Forensik oder in der Geschichtsschreibung. An keinen Zeugnissen der Vergangenheit ließe sich die Notwendigkeit der Kontextualisierung derzeit so deutlich aufzeigen wie an den fotografischen. Es muss jedoch zugestanden werden, dass dieser Fragekomplex in dem vorliegenden Sammelband sozusagen im Negativ präsent ist, nämlich mit der Problematik der Dekontextualisierung. Dies gilt besonders für die letzte Gruppe von Beiträgen, die sich unter der Überschrift "Museum ohne Wände" damit beschäftigen, wie sich die in der Fotografie scheinbar duplizierten Dinge in Bildarchiven oder im Sinne eines Malrauxschen "Imaginären Museum" zueinander und zu ihren Urbildern verhalten.

Herta Wolf (1995) analysiert die Ambitionen Albrecht Meydenbauers, des Initiators der preußischen Königlichen Meßbildanstalt, ein globales Denkmälerarchiv zu schaffen. Die von ihm angestrebte Duplikation der Weltarchitektur im Medium der Fotografie mag als megalomanes Projekt erscheinen, folgte aber immerhin einer noch heute nachvollziehbaren sachlichen Systematik. Dagegen verdeutlicht Douglas Crimp in seinem aufschlussreichen Beitrag (1981), wie die Einführung des "Paradigmas Fotografie" in die Ordnung einer Bibliothek deren sachliche Systematik fragmentieren kann. Crimp erzählt das Beispiel einer Bibliothekarin der New Yorker Public Library: Um 1980 bemerkte sie, welche museale Kostbarkeit die in die Expeditionsbücher des 19. Jahrhunderts eingebundenen Originalabzüge darstellten. Sie wurden dann auf ihr Betreiben in einer fotografischen Sonderabteilung zusammengeführt. Bisher etwa unter "Ägypten" registrierte, fotografisch illustrierte Druckwerke wurden nun auf das eher spröde alphabetische Register der Fotografennamen verteilt. Der in Wolfgang Hagens Beitrag signifikante Begriff der Entropie lässt sich also im negativen Sinne auch auf die Auswirkungen anwenden, die die Entdeckung der Fotografie als Sammlungs- und Wertobjekt auf ihre räumliche Verteilung und ihren systematischen Ort hat.

Dennoch ist mancher entropische Zustand, aus anderer Perspektive gesehen, Ergebnis eines ebenso innovativen wie begrifflich undurchdringlichen Ordnungssinns. Benjamin H. D. Buchlohs Beitrag (1999) über Gerhard Richters fotografischen "Atlas" thematisiert das "anomische Archiv" und damit jene antipositivistische Tradition, in der heterogene fotografische Abbildungen und Reproduktionen in einen thematischen Zusammenhang gebracht werden. Dabei greift Buchloh vergleichend auf dadaistische und politische Fotomontagen sowie auf Aby Warburgs "Mnemosyne-Atlas" zurück. Rosalind Krauss (1989) untersucht die Funktion der fotografischen Reproduktion in André Malraux' "Musée Imaginaire". Sie erhellt die Genese dieses Konzeptes in den Kunsttheorien Wölfflins, Kahnweilers und Benjamins. An ihren Ausführungen wird auch deutlich, dass der in der Kunstgeschichte gebräuchliche Vergleich fotografischer Reproduktionen bereits das Signum des Virtuellen trägt, das gewöhnlich erst mit der digitalen Fotografie assoziiert wird. Auf Malraux bezieht sich auch Hal Foster in seinem anregenden Beitrag "Das Archiv ohne Museen" (1996); er thematisiert den Umgang mit Bildern in den Datenbanken der "Visual Culture Studies", die er als moderne Hybridform aus Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft analysiert.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die bei weitem überwiegende Mehrheit der Beiträge zum vorliegenden Band kunsthistorischer Provenienz ist. In Fragen des Bildes hat sich die Kunstwissenschaft mit ihrem stilgeschichtlichen, ikonografischen, ikonologischen und kunstsoziologischen Methodenrepertoire eine unbestreitbare Kompetenz erworben, der allerdings auch eine eigene Problematik innewohnt. Wie dem phrygischen König Midas alles zu Gold wurde, was er berührte, und damit auch das Brot, so droht der Kunstwissenschaft alles, womit sie sich befasst, zu Kunst zu werden und infolgedessen zu dekontextualisierter Sammlerware. Diesen Vorgang am Beispiel der Fotografie kritisch nachgezeichnet zu haben, ist ein besonderes Verdienst von Autoren und Herausgeberin der vorliegenden Anthologie. Ihre epistemologische Fragestellung zielt auf eine Transzendierung des kunstwissenschaftlichen Methodenrahmens, ließe sich aber auch als dessen konsequente Erweiterung verstehen; meint doch das "Paradigma Fotografie" nicht die fotografische Apparatur und Prozedur als solche, sondern die wiederum bildliche Vorstellung davon, die sich auf die Organisation verschiedenster Wissensgebiete auswirkte und sie "modellierte". Das Bildmedium Fotografie ist also in dieser Perspektive seinerseits ein Bild. So könnte man den epistemologischen Ansatz des vorliegenden Bandes auch als Meta-Ikonologie beschreiben und darüber hinaus fragen, ob nicht jegliche Epistemologie ein ikonologisches Moment enthält. In dieser Konstellation bestünde die wissenschaftstheoretische Chance der Kunstwissenschaft. Sie wird in "Paradigma Fotografie" auf ebenso informative wie anregende Weise ergriffen. Wer in diesem Buch allerdings Aufschlüsse über den historischen Zeugnischarakter und die sozialen Gebrauchsweisen von Fotografien sucht, dessen Erwartung wird enttäuscht werden.

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