H. Knoch u.a. (Hgg.): Kommunikation als Beobachtung

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Titel
Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960


Herausgeber
Knoch, Habbo; Morat, Daniel
Erschienen
Paderborn 2003: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Requate, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Medien- und insbesondere Pressegeschichte war lange Zeit nicht gerade ein Bereich, der sich durch besonders intensive Theoriedebatten ausgezeichnet hätte. Mit dem jüngsten Aufschwung der Medien-, Öffentlichkeits- und Kommunikationsgeschichte entwickelt sich nun auch ein neues Interesse an theoretischen Debatten. Dieses Interesse ist selbst dann uneingeschränkt zu begrüßen, wenn der „nachholende“ Charakter der Debatte diese zum Teil als etwas hektisch und überladen erscheinen lässt. Das wiederum hängt damit zusammen, dass die medien- und kommunikationstheoretische Reflexion der letzten rund 30 bis 40 Jahre ein so hohes Maß an Komplexität und Unübersichtlichkeit angenommen hat, dass Historiker sich hier zunächst mühsam orientieren müssen, um dann zu fragen, wo Anknüpfungspunkte für die konkrete historiografische Arbeit bestehen.

In diese Debatte schaltet sich auch der von Habbo Knoch und Daniel Morat herausgegebene Band „Kommunikation als Beobachtung“ ein, dessen Beiträge durchgehend empirische mit theoretischen Fragen zu verbinden suchen. Die untersuchte Zeitspanne zwischen 1880 und 1960 ist in den Augen der Herausgeber als „massenmediale Sattelzeit“ zu verstehen. Diese sei nicht nur gekennzeichnet vom beginnenden Aufstieg der Massenpresse bis zur beginnenden Durchsetzung des Fernsehens, sondern umfasse auch die Spanne der „vorwissenschaftlichen“ Beschäftigung mit den Medien bis zur Etablierung einer eigenen Medienwissenschaft. Nicht ganz klar ist allerdings, wie genau die „vorwissenschaftliche“ von der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Medien zu unterscheiden ist und was aus dieser Perspektive die Einheit der Zeitspanne ausmachen soll. Die Medienentwicklung wurde seit jeher von einer Debatte begleitet; die 1880er-Jahre bedeuten hier keinen markanten Einschnitt. Zudem bildete sich Anfang des 20. Jahrhunderts eine „Zeitungswissenschaft“ heraus, die zumindest nach einer Einordnung verlangt. Vor allem aber müsste deutlich gemacht werden, worauf die Unterscheidung von wissenschaftlicher und vorwissenschaftlicher Debatte genau zielt.

In der Einleitung greifen die Herausgeber zunächst eine ganze Reihe theoretischer Ansätze auf, um schließlich im Anschluss an Vilém Flusser eine „historische Kommunikologie“ als spezifisch historischen Zugang für eine „Mediengeschichte der Gesellschaft“ zu präsentieren. Angestrebt wird eine „gleichzeitige Analyse medialer Kommunikationsverhältnisse und ihrer Beobachtungsphänomene“. Dies ziele nicht auf eine „Aneignungs- und Massennutzungsgeschichte“. Vielmehr gehe es um die „Rekonstruktion der Beobachtungen, Interpretationen und Konstruktionen des Verhältnisses von ‚Medien‘ und ‚Massen‘ durch Meinungsführer, Entscheidungsträger und Multiplikatoren“ (S. 19).

Die oftmals große Distanz zwischen medientheoretischen Überlegungen und mediengeschichtlicher Empirie wird dadurch überbrückt, dass nur zeitgenössische theoretische und prototheoretische Erklärungsmuster zur Funktionsweise der Medien herangezogen werden. Dieser Ansatz ist ohne Zweifel legitim und verspricht Erkenntnisgewinn, wirft gleichzeitig jedoch nicht unerhebliche Probleme auf. Nur zwei seien hier genannt: Zum einen tendieren theoretische und prototheoretische Überlegungen zu den jeweils neuen Medien oftmals dazu, deren technische Neuheit überzubetonen und damit die Vorstellung einer tiefen Zäsur zu verbinden. Dies gilt für die Telegrafie ebenso wie für das Radio, das Fernsehen und später das Internet. So erklärt sich auch ein deutlicher Hang der Herausgeber, dem „technischen Apriori“ der Medien ein besonderes Gewicht zuzuschreiben. Zum anderen führt eben dies dazu, dass an die jeweiligen technischen Neuerungen zum Teil sehr weitreichende Wirkungsvermutungen angeschlossen werden. Die Annahme, dass das Fernsehen durch seine gegenüber dem Radio und erst recht gegenüber der Zeitung gesteigerte „Wahrnehmungs- und Reproduktionskomplexität“ leichter dazu verleite, „das Gesehene und Gehörte für ‚die Wirklichkeit‘ zu halten“ (S. 23), dürfte schwer zu belegen sein.

Eine nochmalige Zuspitzung des technizistischen Zugangs liefert Wolfgang Ernst mit seinem Ansatz einer „Medienarchäologie“, die er als „Provokation der Kommunikationsgeschichte“ verstanden wissen will. Medienarchäologie wende sich „konsequent der technischen Logik von Medien zu, die nicht-diskursiv verfasst ist und aus der anthropologischen Perspektive nur noch bedingt nachvollzogen werden kann“ (S. 45). Die Umsetzung eines solchen Ansatzes in konkrete geschichtswissenschaftliche Arbeit dürfte ausgesprochen schwerfallen, zumal Ernsts Beispiele eher auf Setzungen als auf tatsächlicher historischer Analyse beruhen.

Der Band umfasst insgesamt neun weitere Beiträge, die von den Herausgebern noch einmal zu vier Abschnitten gruppiert werden. Dabei unterscheiden sich die drei Beiträge von Habbo Knoch, Daniel Morat und Detlev Schöttker insofern von den Übrigen, als sie sich mit zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die neuen audiovisuellen Medien der 1920er und 1930er-Jahre befassen. Knoch hebt die Bedeutung des Radios für die Zeitgenossen gegenüber dem immer wieder behaupteten „Primat des Optischen“ hervor. Er arbeitet plausibel heraus, dass der Rundfunk nicht nur für sich selbst stand, sondern als „Medium gemäßigter Modernität“ (S. 149) zu einer Projektionsfläche sozialer Veränderungen insgesamt wurde.

Daniel Morat setzt die medienbezogenen Arbeiten Walter Benjamins und Siegfried Kracauers mit den Schriften Ernst Jüngers in Beziehung. Dabei geht es Morat nicht darum, Jünger als Medientheoretiker zu entdecken, sondern umgekehrt Benjamin und Kracauer gerade auch in ihren medienbezogenen Arbeiten zunächst als „Deuter der modernen Massenkultur“ zu lesen und auf dieser Ebene Ernst Jünger an die Seite zu stellen. In dem dritten Beitrag zur Frühgeschichte medientheoretischer Überlegungen widmet sich Detlev Schöttker aus einer stärker wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive der „Archäologie der Medienwissenschaft im New Yorker Exil“. Er zeigt auf, wie die emigrierten Theoretiker der Massenmedien – insbesondere Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Paul Lazarsfeld, aber auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – ihre Überlegungen im Exil weiterführten, in der wechselseitigen Auseinandersetzung ihre unterschiedlichen Ansätze schärften und so die theoretischen und methodischen Grundlegungen einer Medienwissenschaft vorbereiteten.

Die weiteren sechs Beiträge des Bandes haben einen deutlichen empirischen Schwerpunkt, wobei die Ebene der medialen Selbstbeobachtung weiter eine wichtige Rolle spielt. In ihrer Untersuchung der Darstellungen Wilhelms I. in der illustrierten Familienpresse widmet sich Alexa Geisthövel dem wechselseitigen Beobachtungsprozess von Herrschern und Beherrschten. In einer sehr reflektierten und genauen Analyse untersucht Geisthövel exemplarisch „verschiedene Inszenierungen von Beobachtung“ in den Zeichnungen der Zeitschriften und arbeitet heraus, wie auf der einen Seite für den Beobachter die Illusion der Anwesenheit erzeugt werden sollte und auf der anderen Seite eine Mischung aus Nähe und Distanz vermittelt wurde, die dem Monarchen ebenso Schutz vor Kritik verschaffen wie ihn als „begreifbaren“ Herrschenden stilisieren sollte.

Uffa Jensen verweist darauf, dass die Auseinandersetzung um die so genannte „Judenfrage“ in der Zeit zwischen 1870 und 1890 zum großen Teil im Flugblatt stattfand, und verbindet so die inhaltliche Frage mit deren medialer Repräsentation. Angesichts der – von Jensen wohl etwas zu pauschal gesehenen – Skepsis der „gebildeten Bürger“ gegenüber der oftmals als „jüdisch“ wahrgenommenen Massenpresse wandte sich zumindest ein gewisser Teil dieser Bürger dem alten Medium der Flugschrift zu, nicht ohne sich dabei ständig „auf die Leitwerte Sachlichkeit, Autorität und Gemeinwohl“ zu berufen (S. 94).

Andreas Mai und Rainer Gries befassen sich mit Fragen der Werbung und der Medialisierung von Produkten und stellen auf diese Weise interessante Verbindungen zwischen Konsum- und Kommunikationsgeschichte her. Mai untersucht Anzeigen für „Sommerfrischen“ im 19. Jahrhundert und arbeitet deren über den reinen Werbezweck hinausgehende kommunikative Bedeutung heraus. Gries setzt sich sowohl theoretisch als auch empirisch mit der Entwicklung der modernen Markenwerbung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinander.

Till Kössler und Frank Bösch thematisieren schließlich „Selbst- und Fremdbeobachtungen in der politischen Kultur“. Kössler untersucht in seinem Beitrag über „die Partei als Medium“ die „Kommunikationspolitik und Kommunikationsverweigerung in der SED/KPD 1945–1956“. Er schildert dabei die intensiven Bemühungen der Parteiführung, die innerparteiliche Kommunikation so zu gestalten, dass alle neuen Beschlüsse und Sprachregelungen möglichst schnell und reibungslos bis zum letzten Mitglied vordringen sollten. Die Darlegung des Scheiterns dieses Versuchs ist aufschlussreich. Ob es dazu allerdings notwendig ist, Luhmann zu bemühen, ist eine andere Frage. Mit einer gewissen Entspannung liest man am Ende den Beitrag von Frank Bösch, der sich ohne nochmalige größere theoretische Bemühungen mit der Professionalisierung des Wahlkampfs in den 1950er-Jahren beschäftigt. Viel früher als gemeinhin angenommen habe sich die CDU um moderne Werbestrategien bemüht. Entgegen der These, dass Willy Brandt mit seinem „Kennedy-Wahlkampf“ von 1960 hierzulande erstmals „moderne“, „amerikanische“ Methoden verwendet habe, kommt Bösch zu dem pointierten Ergebnis, weniger Brandt als vielmehr Adenauer sei „Wegbereiter“ des „Medienkanzlers“ Schröder gewesen.

Insgesamt vereint der Band eine Reihe interessanter mediengeschichtlicher Beiträge, die sich an verschiedenen Überlegungen der Einleitung orientieren, ohne sklavisch ein Programm abzuarbeiten. Für die theoretische Auseinandersetzung mit mediengeschichtlichen Fragen liefert er verschiedene Anstöße, auch wenn manches etwas überladen und gewollt opak wirkt. (Ergibt der Titel „Kommunikation als Beobachtung“ wirklich einen Sinn?) Ob die Herausforderung, medien-, kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Problemstellungen aufeinander zu beziehen, in der Perspektive einer „Gesellschaftsgeschichte der Medien“ oder einer „Mediengeschichte der Gesellschaft“ (deren Umrisse mir noch etwas nebulös erscheinen) angegangen wird, hängt letztlich von der jeweiligen Fragestellung ab. Die Einbeziehung der zeitgenössischen (Selbst-)Beobachtung der Medien ist in jedem Fall ein wichtiges Element. Dabei jedoch nicht stehen zu bleiben gehört auch zu den Stärken einer ganzen Reihe der hier versammelten Beiträge.

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