R. Hering: Der Alldeutsche Verband

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Titel
Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939


Autor(en)
Hering, Rainer
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Darstellungen 40
Erschienen
Anzahl Seiten
600 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Hufenreuter, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

„Was verbindet man mit den Alldeutschen?“ Mit dieser Frage beginnt Rainer Hering die Einleitung seiner Habilitationsschrift und wird damit den Nerv all derer treffen, die seine Studie zur Hand nehmen. Über den Alldeutschen Verband existieren bereits eine ganze Reihe von Untersuchungen, die von Aufsätzen bis hin zu Monografien reichen und sich mehr oder minder umfangreich einzelnen Ideologie- oder Tätigkeitsfeldern des Verbandes gewidmet haben. Dennoch ist Herings Frage berechtigt, denn er beantwortet sie so, wie viele Historiker und historisch Interessierte geantwortet hätten: Eine skurrile, kleine Gruppe bildungsbürgerlicher Honoratioren, bekannt durch ihre extremen Kriegszielforderungen vor und während des Ersten Weltkriegs, die einen gewichtigen aber nur schwer zu definierenden gesellschaftlichen und politischen Einfluss besaßen.

Herings Anliegen ist es, diesen Gesamteindruck zu relativieren und der Frage nachzugehen, welche Stellung der Verband bei der Etablierung eines radikalen Nationalismus in Teilen des Bildungsbürgertums des Kaiserreiches und der Weimarer Republik einnahm. Unmittelbar damit verbunden war die Entwicklung und Ausformung seines streng fremdenfeindlichen und antisemitischen Programms, das der Autor detailliert darstellt. Das ist auch nötig, denn Zentrum seiner Untersuchungen sind die innenpolitischen Komponenten der alldeutschen Nationsvorstellungen, also die durchaus unterschiedlichen Interpretationen der Konstruktion einer deutschen Nation durch den Alldeutschen Verband und seine einflussreichen Vertreter. Hierfür analysiert er die Konzeptionen führender Alldeutscher (Heinrich Claß, Johannes Unolds, Konstantin von Gebsattels, Leopold von Vietinghoff-Scheel, Arthur Müller) zum Wahlrecht, zur Ausgestaltung des Staates („der völkische Staat“) und das Verhältnis des Verbandes zu den politischen Parteien. Deutlich arbeitet Hering das antidemokratische Elitedenken des Verbandes und sein Bemühen um „(Re-)Stabilisierung“ des fragwürdig gewordenen gesellschaftlichen und politischen Führungsanspruches eines in die Krise geratenen männlichen Bildungsbürgertums heraus. Dies geschah unter Rückgriff auf vormoderne, autokratische Herrschaftsformen, die in einer „völkischen Diktatur“ münden sollten und das Ziel hatten, die gesellschaftliche und politische Partizipation von Frauen, Arbeitern, Katholiken sowie nationalen und regionalen Minderheiten zu verhindern. Dabei gelingt es dem Autor, die Vorreiterstellung des Verbandes aufzuzeigen, die dieser bei der breiten Etablierung von Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und Antislavismus noch lange vor dem Ersten Weltkrieg inne hatte.

Doch verharrt Hering nicht bei der inhaltlichen Untersuchung alldeutscher Programmatik. Auch wenn er in der Einleitung darauf hinweist, dass die Studie keine umfassende Gesamt- oder Organisationsgeschichte des Alldeutschen Verbandes darstelle, so bietet er doch eine knapp einhundert Seiten umfassende Geschichte des Verbandes von seiner Gründung im Kaiserreich bis zu seiner Auflösung im Nationalsozialismus, die an Faktendichte kaum Wünsche offen lässt. Ganz besonders sei hierbei auf das Kapitel um die organisatorische und gesellschaftliche Einbettung des Verbandes in das politische und gesellschaftliche System des Deutschen Reiches verwiesen, das von der Fülle an Details und Untersuchungsaspekten alles Bisherige weit hinter sich lässt. Eindrucksvoll bildet Hering das ideologische und organisatorische Milieu ab, in dem der Alldeutsche Verband durch seine Integrationskraft eine kontinuierliche Schnittstelle zwischen dem nationalistischen Bürgertum und der radikalen völkischen Bewegung darstellte. Vor diesem Hintergrund setzt sich der Autor in einem eigenen Kapitel auch mit der Stellung des Antisemitismus innerhalb des Verbandes auseinander, ein Thema, das in der bisherigen Forschung nicht selten zu auffälligen Unsicherheiten geführt hat. Auch hier beeindruckt der Autor mit einer überzeugenden Darstellung vom „langen Weg zur Durchsetzung des Antisemitismus“ und widmet sich eingehend der antisemitischen Publizistik des Verbandes. Zudem veranschaulicht er die wechselseitigen Einwirkungen und Kontroversen, die zwischen Verbandsführung und den Ortsgruppen beim Thema Antisemitismus auftreten konnten.

Da die angeführten Untersuchungen Herings zu weiten Teilen an der Verbandsführung orientiert sind, unterlässt es der Autor nicht, auf das ‚kleine’ Leben und Wirken der Ortsgruppen einzugehen. Zu diesem Zweck untersucht er die alldeutsche Ortsgruppe Hamburgs und ermöglicht somit vergleichende Betrachtung im Hinblick auf die Studie von Gerald Kolditz über die Dresdener Ortsgruppe der Alldeutschen. Neben der Darstellung der Geschichte der Ortsgruppe gelingt es, konkrete Auswirkungen alldeutscher Arbeit vor Ort darzustellen und damit den Einfluss des Verbandes auf lokaler Ebene durch gesellschaftlich einflussreiche Mitglieder als Multiplikatoren aufzuzeigen.

Zum Schluss seines Buches widmet sich Hering inhaltlichen und personellen Kontinuitäten der Alldeutschen nach 1945. Auch wenn alldeutsche Nationenkonzepte spätestens Mitte der 50er-Jahre nicht mehr öffentlich diskutierfähig waren, sieht der Autor mit der „Rückkehr zum Primat der Nation“ vor allem konservativer Kreisen in den 80er und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts das Konstrukt der Nation noch nicht am Ende.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass es Rainer Hering nicht nur gelungen ist, eine genaue Analyse alldeutscher Nationenvorstellungen zu erarbeiten, also das inhaltliche Schwerpunktthema des Alldeutschen Verbandes gelungen darzustellen, sondern auch mit seinen organisationsgeschichtlichen Kapiteln zum Verband und der Hamburger Ortsgruppe die wirkungsgeschichtliche Breite und gesellschaftliche Tiefenwirkung dieses kaum zu überschätzenden Agitationsverbandes überzeugend offen zu legen. Herings quellengesättigte und durch die kaum zu überschauende Menge archivalischer Materialien gestützte Arbeit wird zu Recht für die kommenden Jahre ein unumgänglicher Standard, nicht nur für den Alldeutschen Verband sein, sondern auch für die Politik-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“.

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