C. Tagsold: Die Inszenierung der kulturellen Identität in Japan

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Titel
Die Inszenierung der kulturellen Identität in Japan. Das Beispiel der Olympischen Spiele Tôkyô 1964


Autor(en)
Tagsold, Christian
Erschienen
München 2002: Iudicium-Verlag
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Manzenreiter, Institute for Japanese Studies, University of Vienna

Vielleicht sind sie das herausragende Wahrzeichen der japanischen Nachkriegsgeschichte: Die Olympischen Spiele von Tokyo. In der Retrospektive markieren sie den Zeitpunkt, zu dem Japan in die internationale Staatengemeinschaft zurückkehrte und das ehemals als Land der Kirschblüten, Geisha und Samurai exotisierte Land mit wirtschaftlicher Macht und technologischer Avantgarde assoziiert wurde. Außerdem stehen die Olympischen Spiele von 1964 im kollektiven Bewusstsein für die Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Polarisierungen, die in der noch jungen Demokratie häufig auf der Straße oder mit radikalen Mitteln ausgetragen worden war. Zu dieser Zeit entstand der Mythos der klassenlosen Mittelstandsgesellschaft, deren Mitte sich über 90 Prozent der Japaner zugehörig fühlten. Warum individuelle Erinnerungsbilder von kollektiven Mustern der Sinnzuschreibung geprägt sind, hat auf theoretischer Ebene vor allem der Durkheim-Schüler Maurice Halbwachs nachdrücklich dargelegt (vgl. etwa die posthum veröffentlichte Studie „La mémoire collective“). Eine Archäologie der Sinnzuschreibungen im konkreten Fall der Olympischen Spiele von Tokyo war aber lange überfällig.

Christian Tagsolds deskriptive Studie zur Rolle der Tokyo Olympics im Konstruktionsprozess der nationalen Identität vermag ihre Grundthese, dass die Spiele ein wichtiges Instrument der Neubestimmung der nationalen Identität waren, überzeugend vorzutragen. Wohlgemerkt, es handelt sich um keine Beweisführung im empirischen Sinne, sondern um eine schlüssige und in sich stimmige Lesart der Vergangenheit, die in Japan und unter Japankundigen wahrscheinlich keine Kontroversen aufwerfen wird. Tagsolds Verdienst beschränkt sich aber nicht auf Übersetzungsleistungen. Vielmehr ist ihm zu verdanken, dass die Mainstream-Perspektive der weitgehend marxistisch geprägten Sportgeschichtswissenschaften in Japan mit einem der spannendsten Diskursfelder der Geschichtswissenschaften aus den letzten zehn Jahren verknüpft und damit neuen Publikumsschichten zugänglich gemacht wurde.

Die historische Untersuchung rekonstruiert die Sommerspiele von 1964 und ihre rituellen Bestandteile als Gruppierung von „Erinnerungsorten“ (im Sinne der lieux de mémoire von Pierre Nora, an die Tagsold explizit anknüpft) um die eigentliche Sportveranstaltung herum, der auf einer japanischen Landkarte solcher nationaler Erinnerungsorte und -momente eine ganz zentrale Stellung zugestanden werden muss. Erinnerungsorte, so die Herausgeber eines Großprojekts zur Bestimmung der kollektiven Gemeinplätze des Geschichtsbewusstseins in Deutschland, sind „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert“. 1 Weitere konzeptionelle Anleihen in Tagsolds Studie stammen aus Arbeiten zur symbolischen Politik (Murray Edelman) und der Nationalismusforschung – Benedict Andersons „imaginierte Gesellschaften“ oder Kosaku Yoshinos „sekundärer Nationalismus“, der sich über die in einer Nation etablierten Symboliken hinausgehend aus neuen Quellen nährt.

Tatsächlich geht es Tagsold weniger um den Prozess des Erinnerns, in dem der Blick zurück „Ikonen“ ihrer symbolischen Funktion wegen „entortet“ und im Verlauf der kollektiven Identitätsbildung einvernimmt, sondern eher um den Prozess der Inszenierung nationaler Symbole und den politökonomischen Rahmen für die Neukonstruktion einer japanischen nationalen Identität und die Bedingungen, unter denen diese zu lesen war. Essenz und Rezeption der nationalen Identität (Zu der im Titel aufgeworfenen kulturellen Identität ist definitiv nichts zu vernehmen.) waren in Japan nicht nur von der Kriegsniederlage und den radikalen sozio-politischen Umbrüchen der Besatzungszeit in Frage gestellt worden. Auch die bis heute noch weitgehend fehlende Aufarbeitung von Schuld und Verantwortung für die Verbrechen des Pazifischen Kriegs hat ihren Teil zu der Erosion der einst dominanten Selbstwahrnehmung als führendes Volk in Asien und der Entwertung ihrer tragenden Symbole beigesteuert.

Zur Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins setzten die Organisatoren der Olympischen Spiele, darunter der Staat, regionale politische Größen und der mit Sportfragen befasste Beamtenapparat, zum einen auf etablierte „lieux de mémoire“, zu denen neben Flagge und Hymne, den klassischen Elementen des Nationalismus, auch die Institution des Kaiserhauses zählte. Zum anderen wurden neue Symbole, die auf wirtschaftlichem und technologischem Erfolg (der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen, mehrstöckig geführte Stadtautobahnen, Sattelitenübertragung) beruhten, oder mit der olympischen Formensprache (Feuer, Staffellauf, Tauben etc.) in Übereinklang zu bringen waren, in die Dramaturgie eingewoben. Das Friedensmotiv der Olympischen Spiele ermöglichte dem japanischen Heer („Selbstverteidigungsstreitkräfte“), das eine wichtige Rolle in der Logistik der Spiele übernommen hatte, weiten Zuspruch unter der Bevölkerung zu finden und damit die Diskussion um die verfassungsrechtlich (JV §9a) in ihrer Legitimität umstrittene Armee zu unterdrücken. Am deutlichsten äußerte sich die gewünschte Verortung des neuen Japans aber in dem symbolischen Arrangement der Nationalflagge auf dem weißen Trikot des Schlussläufers, der mit der durch ganz Japan getragenen Fackel das olympische Friedensfeuer entzündete. Der junge Mann, der für dieses Zeremoniell ausgewählt worden war, hatte zwar die sportliche Qualifikation für das nationale Team nicht gemeistert, aber seine Biografie qualifizierte ihn für die ehrenvolle Aufgabe: Sakai Yoshinori war am 6. August 1945, genau zum Zeitpunkt des Atombombenabwurfs, in Hiroshima geboren worden.

Den ausgefallenen Olympischen Spiele von 1940, die Japan 1936 zugesprochen worden waren, ist ein eigenes Kapitel gewidmet, weil sie eine wichtige Referenzrolle spielen; erstens für die zeit- und kontextabhängig unterschiedliche Bewertung nationaler Symbole, zweitens für die Unterschiede der vom politischen Rahmen vorgegebenen Bedingungen, unter denen sich Japan der Welt gegenüber repräsentieren wollte. Mit dem gleichen Anliegen widmen sich die letzten Kapitel späteren Großveranstaltungen wie der Osaka Expo (1970), den Olympischen Winterspielen von Sapporo (1972) und Nagano (1998), oder der Fußballweltmeisterschaft 2002, die allerdings nur sehr kursorisch angesprochen werden.

Die Auswahl von Primärmaterial und Sekundärliteratur orientiert sich an dem Programm. Tageszeitungen, die das Sportspektakel von der Bewerbung über Vorbereitung und Ausführung bis zur Reflektion begleitet haben, stellen die wichtigsten Schriftquellen dar; ergänzt werden sie durch Schlussberichte der Institutionen, die maßgeblich in die Durchführung eingebunden waren, und zahlreiche populäre Publikationen, die zu den Olympischen Spielen entstanden sind. Oral Histories kommen in einem Kapitel zum Einsatz, in dem Tagsold auf die nach regionalen Gesichtspunkten verlaufende, unterschiedliche Tiefenwirkung der Inszenierungsbemühungen hinweist. Räumlich war die Veranstaltung auf Tokyo beschränkt, repräsentiert werden sollte aber ganz Japan. Je größer der Abstand zwischen Zentrum und Peripherie, desto stärker waren die Spannungen und umso notwendiger propagandistische Veranstaltungen zur Stimulierung der allgemeinen Begeisterung für das nationale Projekt. Nicht zu unterschätzen war die Rolle der Medien, vor allem des Fernsehens, in der Konstruktion der „imaginierten japanischen Gesellschaft“.

Tagsold weist zu Recht darauf hin, dass sich den Veranstaltern der „unpolitischen“ Spiele hinter den olympischen Ritualen immer schon genügend Freiraum für politische Instrumentalisierungsstrategien geboten hatte. Das war nicht erst seit den Berliner Olympischen Spielen so, auch wenn die nazideutsche Dramaturgie 1936 neue Maßstäbe für spätere Veranstaltungen setzte. Bis 1964 hatten sich die Kernelemente des olympischen Zeremoniells, die hier als „olympische Erinnerungsorte“ aufgefasst werden, längst verfestigt. Dass sich Tagsold prinzipiell der Unterschiede zwischen historisch gewachsenen kollektiven Erinnerungsmustern und strategisch inszenierten Symbolen bewusst ist, kommt in seinen theoretischen Vorüberlegungen deutlich zum Ausdruck. Die Transformation von Symbolen in Erinnerungsorte, die dann wieder zu Symbolen umfunktioniert werden, erscheint mir aber angesichts der mangelhaften Differenzierung als Schwachpunkt in der theoretischen Fruchtbarkeit des Konzepts, wenn es so behandelt wird. Eventuell wäre eine Arbeit, die weniger an der retrospektiven Verortung (bzw. an der Semantik der Differenz zwischen historischem Ereignis und rekonstruierter Deutung) interessiert ist, mit Maurice Roches Auffassung von Mega-Events (2000) als „diplomatic territory“ besser bedient gewesen. Dass Roches für dieses Thema wegweisende Studie 2, in der er sich explizit neben den Weltausstellungen vor allem den Olympischen Spielen als „großformatige kulturelle Inszenierungen von internationaler Bedeutung und mit dramatischem Charakter und Massenappeal“, gewidmet hat, in dem umfangreichen Literaturverzeichnis fehlt, liegt eventuell an dem Zeitpunkt, zu dem Tagsold seine Doktorarbeit, damals noch unter dem Titel „Die Olympischen Spiele Tokyo 1964 - Olympische Idee und nationale Identität“, vorgelegt hat. Diesem Hintergrund dürften auch der sprachliche Duktus und die strenge Form der Studie zu verdanken sein, die dem Lesevergnügen kaum zuträglich sind. Dem Nationalen Olympischen Komitee Deutschlands war die unpublizierte Studie dennoch ihren akademischen Sonderpreis wert.

Zusammenfassend lässt sich die Studie eindeutig empfehlen. Sie wird ihren Leserkreis disziplinenübergreifend in Bereichen wie Geschichte, Politologie, Soziologie oder Japanologie finden, vor allem bei LeserInnen, die zudem in den Feldern der symbolischen Politik und des kulturellen Nationalismus zu Hause sind. Da in beiden Fällen das Eigene und das Fremde, etwa in Fragen der Abgrenzung oder der Wahrnehmung, oder auf der kollektiven Ebene die internationale Dimension, etwa in der politologischen Theorie internationaler Normen, eine wichtige Rolle spielen, stellt das Beispiel Japans einen wichtigen und höchst willkommenen Beitrag für die weitere Diskussion und Theorieentwicklung dar.

Anmerkungen:
1 François, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde. München 2000/01; hier Bd. 1, S. 18.
2 Roche, Maurice, Mega Events and Modernity, London 2000.

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