J. Hesk: Deception and democracy

Cover
Titel
Deception and democracy in classical Athens.


Autor(en)
Hesk, Jon
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 336 S.
Preis
$ 64,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Hartmann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Es wäre gelogen, würde man behaupten, die vorliegende Studie zum Umgang mit Täuschung und Lüge im demokratischen Athen leiste Pionierarbeit. Der amerikanische Historiker Pritchett hat sich 1979 mit der Rolle der Täuschung (apate) im militärischen Bereich beschäftigt und gleichzeitig eine umfassendere Untersuchung angemahnt; die französischen Altertumswissenschaftler Kahn, Detienne, Vidal-Naquet und Vernant haben herausgestellt, dass Täuschung (apate), List (metis) und Betrügerei (dolos) wichtige Termini zum Verständnis des kulturellen Lebens der Griechen sind.1 Stärker, als in diesen grundlegenden Werken bereits geschehen, möchte Jon Hesk in der überarbeiteten Fassung seiner in Cambridge entstandenen Dissertation anhand der Analyse unterschiedlicher Textgattungen wie den Schriften der attischen Redner, dem attischen Drama (insbesondere Euripides und Aristophanes) und verschiedenen philosophischen Werken die ethischen Beurteilungen von Täuschung (apate), Lüge (pseudos) und Betrügerei (dolos) analysieren.2 Er möchte erklären, wie diese Konzepte im Drama, in der Politik und vor Gericht instrumentalisiert, diskutiert und mit differenzierten Bedeutungen versehen wurden. Seine Prämisse ist, dass es sich bei diesen Termini weniger um abstrakte Denkkategorien, sondern um in der alltäglichen Kommunikation entwickelte Kategorien handelt, die jeweils auf konkrete Verhaltensweisen Bezug nehmen (S. 10). Diese seien fundamental für das Selbstverständnis der Bürger Athens gewesen, da das gesamte demokratische System im Grunde auf eine Transparenz des politischen und militärischen Handelns angelegt gewesen sei.

Im Zentrum der Untersuchung steht daher auch der Umgang mit Täuschung und Lüge im alltäglichen politisch-öffentlichen Leben der Bürger Athens, konkret geht Hesk beispielsweise den Fragen nach, welche Assoziationen im politischen Diskurs mit der Täuschung verbunden waren, in welchem Maß Täuschung als militärische Strategie eine Rolle spielte, welcher Stellenwert der lügnerischen Rede im öffentlichen Raum beigemessen wurde, von wem und warum dieser Stellenwert reflektiert wurde usw. Der Zeitrahmen der Untersuchung ist strikt auf die demokratische Periode im engeren Sinne, d.h. auf den Zeitraum von 440-320 v.Chr. begrenzt (S. 10). Methodisch lässt sich Hesk von anthropologischen Forschungen inspirieren, warnt aber vor vorschnellen und argumentativ wenig stichhaltigen Analogien (S. 9). Indem Hesk immer wieder Aspekte politischer Debatten über die Täuschung aus Großbritannien und den USA des 19. und 20. Jahrhunderts in seine Argumentation einflicht, verfolgt er zum einen das Ziel, seinen eigenen Fragehorizont deutlich als zeitgebunden auszuweisen; zum anderen sollen die Vergleiche dazu dienen, die in seiner Argumentation wichtigen Punkte besonders herauszustellen (S. 14). Mit bemerkenswerter Offenheit und Leichtigkeit wendet er sich gegen eine dekonstruktivistische Lesart der Quellen, die diese allein als Texte zur Kenntnis nimmt und die Möglichkeit einer Rekonstruktion vergangener Lebenswirklichkeit negiert. Er selbst bezeichnet sein Werk als eine Geschichte, deren fiktionalen Charakter er deutlich herausstellt (S. 15f.).

Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte nebst Pro- und Epilog. Das Kapitel I "Deception and the rhetoric of Athenian identity" behandelt Vorstellungen von Täuschung, wie sie im Rahmen öffentlicher Projektionen der Bürger-Ideologie (etwa in den offiziellen Begräbnisreden auf die Gefallenen) nachweisbar sind. Es wird gezeigt, dass Täuschung als un-athenische, typisch spartanische, weibliche oder feige Verhaltensweise charakterisiert werden konnte und damit im Grunde gedanklich jenseits der athenischen Bürgergemeinschaft angesiedelt wurde. Dennoch - dies zeigt Kapitel II "Deceiving the enemy: negotiatioan and anxiety" - wurde der Sinn und Zweck militärischer Täuschungsmanöver keineswegs kategorisch abgelehnt, vielmehr wurde im öffentlichen Raum immer wieder die Zulässigkeit der Täuschung gegenüber dem militärischen Feind diskutiert, lag doch hierin oft genug der schnelle militärische Erfolg begründet.

Kapitel III "Athens and the 'noble lie'" führt aus, dass trotz einer grundsätzlichen Ablehnung von Lügen in der athenischen Gesellschaft, sich in Reden und Dramen gelegentlich Abwägungen über den Sinn "edler Lügen" (noble lies) und "guter Fiktionen" (good fictions) nachweisen lassen, denen durchaus eine gewisse Berechtigung attestiert wird, wenn sie etwa im Sinne des Gemeinwohls ausgesprochen werden. Im IV. Kapitel "The rhetoric of anti-rhetoric: Athenian oratory" wird die These vertreten, dass die attischen Redner selbst eine "Rhetorik der Anti-Rhetorik" gepflegt hätten (der Begriff ist von P. Valesio übernommen, der ihn im Rahmen einer Analyse der Reden bei Shakespeare angewandt hat). Bei der „Rhetorik der Anti-Rhetorik“ handele es sich freilich nicht um einen philosophischen Entwurf oder ein kohärentes Gedankengebäude. Vielmehr könne so ein Duktus der rhetorischen Selbstinszenierung der elitären Redner charakterisiert werden, die nicht müde wurden, auf die Macht und Gefahren täuschender Kommunikation hinzuweisen, obwohl sie sich mitunter selbst dieser bedienten.

Die Historiografie des Thukydides, die aristophanische Komödie und euripideische Tragödie werden schließlich im Kapitel V "Thinking with the rhetoric of anti-rhetoric" im Hinblick auf die darin ablesbare Rhetorikkritik analysiert. Hesk attestiert den Athenern eine ambivalente Haltung gegenüber der Täuschung: Zwar hätten die Athener der Täuschung grundsätzlich ablehnend gegenüber gestanden, doch sei sie in einigen Bereichen doch auch für sinnvoll oder gar notwendig gehalten worden. Das Buch verbindet die quellennahe Analyse und die Auseinandersetzung mit modernen theoretischen Ansätzen von Adorno bis Popper, die ihm hier und da Diskussionsanstöße liefern. Hesk gelingt es zu zeigen, wie unterschiedlich die offiziellen Beurteilungen von Täuschung in unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Athens (Militär, Theater, politische Rhetorik usw.) ausfallen konnten. Es wird auch deutlich, dass es dort ein Bewusstsein dafür gab, wie anfällig die demokratischen Prinzipien der Redefreiheit und offenen Entscheidungsfindung etwa für rhetorische, in manipulativer Absicht vorgenommene Täuschungsmanöver waren. Zu wenig wird m.E. darauf eingegangen, inwiefern der aufgezeigte Diskurs über die Täuschung genuin demokratisch war, oder ob sich ein ähnlicher auch in nicht-demokratischen Poleis aufspüren lässt.

Anmerkungen:
1 Detienne, M., Les ruses de l’intelligence. La mètis des Grecs, Paris 1974; Kahn, L., Hermès passe, ou les ambiguités de la communication, Paris 1978; Pritchett, W. K., The Greek State at War, Part III: Religion, Berkeley 1979; Vidal-Naquet, P., Le chasseur noir. Formes de pensée et formes de société, Paris 1981 (deutsch: Der schwarze Jäger. Denkformen und Gesellschaftsformen der Antike, Frankfurt am Main 1989).
2 Zur genaueren Bestimmung der Termini vgl. S. 10.

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