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Titel
Die fragile Grundlage. Auf der Suche nach der deutsch-jüdischen "Normalität". Mit einem Geleitwort von Joschka Fischer


Autor(en)
Korn, Salomon
Erschienen
Berlin 2003: Philo Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Panwitz, Institut für Geschichtswissenschaften, Universität Potsdam

Der Architekt Salomon Korn, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt (Main) und Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat eine Sammlung seiner neueren Zeitungs- und Zeitschriftenartikel in Buchform vorgelegt.1 In den Aufsätzen, deren Erstfassungen unter anderem in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der „Süddeutschen Zeitung“, der „Zeit“ und der „Tribüne“ (Zeitschrift zum Verständnis des Judentums) erschienen sind, möchte sich Korn dem komplizierten deutsch-jüdischen Verhältnis aus mehreren Blickwinkeln facettenartig annähern. Dementsprechend sind die Artikel in fünf Abschnitte gegliedert: I. Für Ignatz Bubis, II. Architektur und Judentum, III. Gegenwart der Vergangenheit, IV. Kultur und Judentum sowie V. Jüdisches Leben in Deutschland.

Das Verdienst des Buches dürfte darin liegen, dass es Historikern in künftigen Jahren und Jahrzehnten die Möglichkeit gibt, sich von Korns Ansichten, Interessen und Anliegen ein vielschichtiges Bild zu machen. Der Charakter als zeitgenössische Quellensammlung wird durch das fast zwanzigseitige Publikationsverzeichnis des Autors noch unterstrichen, das dem Buch beigefügt wurde.

Inhaltlich bietet die Publikation leider kaum Neues. Da die Aufsätze bis auf eine Ausnahme aus den Jahren 1999–2002 stammen, sind die vorgebrachten Positionen weitestgehend bekannt und wurden sowohl in der allgemeinen Öffentlichkeit als auch im wissenschaftlichen Rahmen schon ausführlich diskutiert. Ein weiterer Nachteil der Kompilation besteht in den häufigen sachlichen und argumentativen Wiederholungen, vor allem innerhalb der einzelnen Abschnitte. Wenn sich ein Leser zum Beispiel für „Architektur und Judentum“ interessiert, so fragt er sich bald, warum Korn nicht mit wenig Aufwand und viel Gewinn die drei Zeitungsartikel zu einem neuen, konzentrierten und aktualisierten Aufsatz zusammengefügt hat.

Die Wiederholungen wirken umso ermüdender, je weniger die vorgebrachten Argumente überzeugen. Auf eine Architekturdebatte über den von Korn propagierten und psychologisch begründeten Dekonstruktivismus und darüber, inwiefern Synagogalarchitektur „fortschrittlich“ (S. 59) sein kann, möchte sich der Rezensent als Historiker nicht einlassen. Doch auf Korns Interpretation der deutsch-jüdischen Geschichte muss näher eingegangen werden. Sie zieht sich durch das gesamte Buch, tritt aber besonders deutlich im Aufsatz „Die fragile Grundlage“ hervor und wirkt wie eine Wiederauferstehung der zionistischen Kampfpropaganda aus dem frühen 20. Jahrhundert. Korn vertritt die These, die „Mehrheit der deutschen Juden sei ‚für das Linsengericht der ersehnten Emanzipation’ zur Aufgabe aller jüdischen Werte bereit“ gewesen (S. 105f.). Im 19. Jahrhundert sei im deutschen Judentum „deutsch-preußische Ordnung“ an die Stelle „jüdisch-familiärer Lebendigkeit“ getreten (S. 107). Es habe die „Auflösung eines originären Judentums in Deutschland“ stattgefunden (S. 110), und „ein deutsches Judentum, das diesen Namen wirklich verdiente“, lasse sich nur im Zionismus und in der national-jüdischen Bewegung sehen (S. 111).

Korn artikuliert hier eine Vorstellung von Judentum, die das „wirklich“ Jüdische auf eine eher statisch verstandene vormoderne Tradition beschränkt. In seiner zionistisch/national-jüdisch geprägten Sicht beurteilt Korn die Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht auf der Grundlage der Möglichkeiten, Probleme, Werte und Erwartungen jener Zeit, sondern nutzt die Rückschau für eine erneute Verurteilung des angeblichen Irrwegs der Akkulturation und jeglicher weitergehenden Annährung an die Mehrheitsgesellschaft. Ohne es zu merken, läuft Korn selbst in die Falle, vor der er mit einem Börne-Zitat warnt (S. 110): „Wer für die Juden wirken will, der darf sie nicht isolieren; das tun ja eben deren Feinde zu ihrem Verderben.“

Die Politik des Abstands, die Korn verfolgt, führt konsequenterweise auch zu einer Ablehnung der Annahme, es habe vor 1933 eine „deutsch-jüdische“ Kultur gegeben. Korns Argumente wirken hier aber ebenfalls eklektisch und wenig überzeugend. Zuerst führt er die Statistik ins Feld – Juden stellten im Durchschnitt nicht mehr als 1 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung – und vergisst dabei, dass die Prägung einer Kultur nicht nur eine Frage der Quantität, sondern auch der Qualität ist. Dann behauptet er voller Überzeugung (S. 109): „Mir ist kein Fall bekannt, in dem ein Deutscher christlicher Herkunft Bedeutendes auf dem Gebiet der sogenannten ‚deutsch-jüdischen’ Kultur oder gar auf dem der jüdischen Kultur geleistet hätte.“ Und schließlich erklärt er die Kulturleistungen deutscher Juden im 19. Jahrhundert zum ausschließlichen Produkt ihrer rechtlichen Ungleichstellung – nicht etwa eines friedlichen und fruchtbaren Zusammenwirkens – und spricht ihnen jeglichen „jüdischen Ursprung“ ab. Eventuell eigene, positiv formulierte Vorstellungen vom „Jüdischsein“ konkretisiert Korn dabei ebensowenig wie seinen Kulturbegriff. Neuere Wissenschaftsdiskurse darüber, ob man das deutsche Judentum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit dem Begriff einer „Jewish subculture“,2 eines „sozialmoralischen Milieus“3 oder der „situativen Ethnizität“4 umreißen kann, erwähnt Korn nicht.

Eine wirkliche Chance verschenkt Korn, weil es ihm nicht gelingt, von der Stellung der Juden als Minderheit in Deutschland auf das Thema „Stellung der Minderheiten“ an sich zu abstrahieren. Zwar verweist er im Aufsatz „Nur wo Kultur nicht leiten muss, leitet Kultur Kulturgenuss“ durchaus auf die fatalen Konsequenzen eines „Leitkultur“-Modells, das zu kultureller Uniformierung und Stillstand führt. Dass es aber „die Juden“ sind, die für „die Deutschen“ noch heute die Funktion des „gänzlich Anderen“ ausfüllen (S. 136), ist schlichtweg falsch. Gerade in den größeren Kommunen finden sich deutlich häufiger Reibungspunkte mit türkischen Migranten und deren Nachkommen, die von vielen als sehr viel fremder empfunden werden als jüdische Deutsche. Die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion werden, egal ob deutscher oder jüdischer Abstammung, im Alltag vorrangig als „Russen“ wahrgenommen, deren Integration ebenfalls mit spezifischen, ausgesprochen dringenden Problemen verbunden ist. Aus der Analyse der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland besonders während der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte ließen sich wichtige Direktiven für den Umgang mit diesen „neuen“ Minderheiten ableiten. Ihre erfolgreiche Eingliederung auf der Grundlage der Toleranz gegenüber dem Fremden, des Verzichts auf Kollektivhaftung (Beispiel Kopftuchstreit!) und eines Selbstverständnisses als multikulturelle Gesellschaft ist nicht nur hilfreich, sondern unabdingbar für mehr „Normalität“ im deutsch-jüdischen Verhältnis. Solche Überlegungen jedoch fehlen bei Korn vollkommen.

Zukunftsweisend für die innere Entwicklung der jüdischen Gemeinden könnte dagegen der Aufsatz „Juden in Deutschland. Ansichten an der Schwelle des 21. Jahrhunderts“ sein. Korn führt aus, wie die bisher fast durchgängig religiös-orthodox geprägten deutschen Einheitsgemeinden mit dem Selbstverständnis der sozialistisch geprägten Zuwanderer aus den sowjetischen Nachfolgestaaten kollidieren. Hinzu kommt das Erstarken eines aus den USA und Großbritannien „reimportierten“ liberalen Judentums, das mit der Orthodoxie in Konkurrenz tritt. Zwar stellt Korn beide Entwicklungen nur nebeneinander, ohne Bezugslinien zu ziehen. Auch schweigt er sich über die in diesem Zusammenhang wichtige „World Union for Progressive Judaism“ und die mit ihr verbundenen Gemeinden aus. Dennoch weist sein Plädoyer für eine Öffnung der Gemeinden hin zu wirklicher religiöser Pluralität den einzigen Weg zum weitgehenden Erhalt des Konzeptes „Einheitsgemeinde“.

Am überzeugendsten ist das Buch dort, wo Korn persönliche Erlebnisse als Schilderungen einfließen lässt, so anfangs in den „Erinnerungen an Ignatz Bubis“ und im Schlussartikel „Auf der Suche nach der deutsch-jüdischen ‚Normalität’“. Es bleibt daher zu hoffen, dass Korn in einigen Jahren nicht einen weiteren Sammelband vorlegen wird, sondern eher seine autobiografischen Perspektiven in den Mittelpunkt rückt.

Anmerkungen:
1 Eine Auswahl früherer Artikel, Reden und Interviews findet sich bei Salomon Korn, Geteilte Erinnerung. Beiträge zur ‚deutsch-jüdischen’ Gegenwart, Berlin 1999 (rezensiert von Jan-Holger Kirsch: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=205).
2 Sorkin, David, The Transformation of German Jewry 1780–1840, New York 1987, v.a. S. 173, 176-178.
3 Volkov, Shulamit, Jüdisches Leben und Antisemitismus, München 1990, v.a. S. 114, 170.
4 van Rahden, Till, Weder Milieu noch Konfession. Die situative Ethnizität der deutschen Juden im Kaiserreich in vergleichender Perspektive, in: Blaschke, Olaf (Hg.), Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996, S. 409-434.

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