F.-L. Kroll: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert

Titel
Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Kroll, Frank-Lothar
Reihe
Enzyklopädie deutscher Geschichte 65
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
170 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Das gegenwärtige Zusammentreffen einer Medienrevolution mit einem massiven Abbau von Standards der Sozial- und Kulturstaatlichkeit gibt Anlass zur Frage, ob wir heute Zeugen einer epochalen Entwicklung sind. Ist nach der Epoche des Bildungsbürgertums auch die demokratischer Massenbildung vorbei? Da kommt ein enzyklopädischer Überblick über die „Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert“ gerade recht, der historische Vergleichsparameter zu liefern verspricht. Kroll meint auch: „Ab Mitte der 1980er Jahre bewirkte [...] die Einführung völlig neuer Medien und Kommunikationstechniken (CD, Computer, Internet) einen qualitativen Entwicklungsschub, dessen Folgen für das Verständnis von Kultur und Bildung mit Blick auf das beginnende 21. Jahrhundert noch unabsehbar sind.“ (S. 41) Einen anderen epochalen Einschnitt setzt er relativ unabhängig von den politischen Großzäsuren mit dem Aufbruch der kulturellen Avantgarde um 1910 an. So schreibt er eine kurze, stofflich extrem kondensierte Studie über die „kurze“ Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Die Aufgabe ist immens, ist kaum zu schaffen. Sie kann auch einem so souveränen Autor, wie Kroll es ist, nur gelingen, wenn der Deutungsanspruch hinter den enzyklopädischen Überblick und individuellen Blick auf die Forschungsdynamik zurücktritt. Der Aufbau der Reihe kommt dem Weg entgegen. Die knappe Studie gliedert sich in drei quantitativ etwa gleich umfängliche Teile: I. Enzyklopädischer Überblick; II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung; III. Quellen und Literatur. Der Deutungsanspruch artikuliert sich in diesem Arbeitsbuch in Form der Sondierung des Forschungsstandes. So eröffnet Krolls Überblick weitere Diskussion um die epochale Einheit dieser Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Kroll möchte die „Motive, Intentionen und Inhalte der Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsentwicklung, weniger dagegen deren gesellschaftliche Funktionen, Wirkungen und Folgen“ (S. XI) darstellen. Den Kulturbegriff verwendet er dabei weit und berücksichtigt neben dem Schulwesen und der Wissenschaftsgeschichte sowie den einzelnen künstlerischen Entwicklungen auch die Alltags-, Populär- und Medienkultur. Im enzyklopädischen Überblick datiert er die Anfänge des kulturellen Aufbruchs zunächst auf den Durchbruch des Naturalismus um 1890 (S. 1), skizziert weitere Innovationen im späten Wilhelminismus, datiert dann aber die kulturgeschichtliche Epochenzäsur strikter mit der Formierung der kulturellen Avantgarde um 1910. Sie radikalisierte sich in der Kriegserfahrung und dominierte nach 1918, meint Kroll, als „‚Stil von Weimar’“ (S. 11). Ihr Kennzeichen war der „radikalen Bruch“ (S. 56) mit bildungsbürgerlichen Traditionen und auch die elitäre Distanz zum Weimarer Staat. Ähnliches gelte für die Universitäten. Ihre Professorenschaft und besonders auch die Studentenschaft war „mehrheitlich antidemokratisch“ (S. 17) ausgerichtet, so dass die „fundamentale Infragestellung tradierter Formen und Inhalte“ (S. 19) viele kulturelle Eliten kennzeichnete. Die Kultur, Wissenschaft und Bildung im nationalsozialistischen Deutschland sieht Kroll dann, absetzend vom älteren Bild totaler Gleichschaltung und Ideologisierung, nicht zuletzt infolge der „polykratischen“ Struktur des Nationalsozialismus durch eine „Bandbreite geduldeter öffentlicher Äußerungsformen“ (S. 22) und Spielräume begrenzter Nonkonformität gekennzeichnet. Für die bundesdeutsche Nachkriegszeit tritt Kroll der Rede vom „restaurativen“ Charakter entgegen (S. 87f.) und betont die Ambivalenz der Zeit zwischen Restauration und Modernisierung. Das Jahr „1968“ markierte einen Einschnitt (S. 95). Nach 1975 macht Kroll eine neue Phase der Legitimationskrise und Stagnation, des definitiven Endes bildungsbürgerlicher Gelehrsamkeit und Rückzugs in einen Wertekonservatismus aus. Für die Entwicklung in der DDR betont er zunächst liberale Spielräume im „Kulturbund“ (S. 99f.) und dann die starke Reglementierung seit den frühen 50er-Jahren mit Durchsetzung des „sozialistischen Realismus“ als Staatskunst. Kroll nennt die DDR eine „Erziehungsdiktatur“ (S. 47), die wenig Freiräume zuließ.

Der zweite Teil „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“ bestätigt dieses Bild in umfassender Sondierung des Forschungsstandes. Dieser Überblick kann hier nicht näher kritisiert werden. Eine besondere Schwierigkeit lag darin, dass Kroll große Menge neuerer und jüngst erschienener Literatur auf Tendenzen sondierte. Eine solche Standardisierung der Forschung ist immer selektiv und trägt Züge von Kontingenz, Zitationspolitik und „Siegerhistorie“. Kroll gelingt aber das Kunststück, einen freien Blick auf Tendenzen zu werfen, der verlässliche Orientierungen bietet. Dabei verabschiedet er simplifizierende Formeln von wilhelminischer „Mandarinenmentalität“, von einer „einheitlichen Kultur der Republik“ (S. 89) oder von total gleichgeschalteter Kultur „des“ Nationalsozialismus (vgl. S. 81). Zweifellos ist sein erlesenes Literaturverzeichnis für die weitere interdisziplinäre Erforschung dieser kurzen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts sehr hilfreich. Liest man diese Enzyklopädie als Panorama der Durchsetzung kultureller Modernisierung und Avantgarde gegen widerstrebende Tendenzen, so beunruhigt die Frage nach dem gegenwärtigen Stand. Es fällt schwer, heute nicht „Kulturpessimist“ zu sein und nicht einer etwas anderen Form von Kultpessimismus anzuhängen als derjenigen, die Fritz Stern einst für den Wilhelminismus beschrieb: derjenigen nämlich, die dem Abschied des 20. Jahrhunderts von der klassischen Moderne und Kultur nachtrauert.

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