K. Acham u. K. Scherke (Hg.): Zentraleuropa um 1900 und 2000

Titel
Kontinuitäten und Brüche in der Mitte Europas. Lebenslagen und Situationsdeutungen in Zentraleuropa um 1900 und um 2000


Herausgeber
Acham, Karl; Scherke, Katharina
Reihe
Studien zur Moderne 18
Erschienen
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 37,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sönke Neitzel, Historisches Seminar, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis eines im November 2001 in Krakau durchgeführten Symposiums. Die 17 Beiträge von Soziologen, Philosophen und Historikern, die zumeist mit einem überschaubaren Anmerkungsapparat auskommen, befassen sich mit der geistigen Verfasstheit Zentraleuropas in den drei großen Bereichen von Staat, Nation und transnationalen Prozessen, von Gesellschaft, Religion und Mentalitäten sowie von Philosophie, Kunst und Kunstkritik.

Den Herausgebern geht es vor allem darum, Probleme aufzuzeigen, die mit der EU-Osterweiterung verbunden sind, ihren historischen Wurzeln nachzuspüren und die Umbruchszeit Europas des Jahres 2000 mit jener des Jahres 1900 zu vergleichen. Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Darstellung eines facettenreichen Bildes des Europas um 1900 und um 2000, ohne hierbei einen direkten Bezug herzustellen. Obgleich die vergleichende Perspektive in etlichen Beiträgen immer wieder anklingt, verfolgt nur Werner Suppanz mit seinen Ausführungen zum Thema „Antisemitismus und Xenophobie – Konstruktionen des Eigenen und des Fremden in Österreich um 1900 und um 2000“ eine dezidiert vergleiche Fragestellung. Die Kontinuitäten und Brüche erschließen sich also vornehmlich nach der Lektüre der verschiedenen Beiträge.

Auch der einleitende Beitrag von Karl Acham „Europa im Umbruch. Zentraleuropäische Befindlichkeiten um 1900 und in der Phase der EU-Osterweiterung“ weist nur schwache historische Bezüge auf und legt sein Hauptaugenmerk auf die Probleme der EU-Osterweiterung. Acham beleuchtet vor allem die durchaus nachvollziehbaren Empfindlichkeiten der Beitrittskandidaten und fordert eine stärkere Weckung des gemeinsamen kulturellen Bewusstseins sowie eine eigenständigere Rolle der EU in der Weltpolitik.

Den Band durchziehen keine klar definierten Fragestellungen, die von den Beiträgern unter den verschiedensten Aspekten aufgegriffen werden. Der Gewinn der Lektüre besteht vielmehr darin, dass man unterhalb des Generalthemas einer ganzen Vielzahl durchaus unterschiedlicher Einzelperspektiven nachspüren kann. Dem Leser wird ein reicher, manchmal freilich etwas zusammenhangloser Strauß an Abhandlungen dargeboten.

Im ersten Abschnitt über den Themenbereich Staat, Nation und Transnationale Prozesse wird einmal mehr die – allerdings nicht neue – Erkenntnis deutlich, dass die Europäische Union vor allem ein Projekt der gesellschaftlichen Eliten ist, die den breiten Massen Sinn und Ziele dieses Vorhabens oft nur schwer vermitteln können. So zeigt Ingeborg Zelinka in ihrem Beitrag „Schaffung von Identität – Österreich und Polen in Europa“ anhand von empirischen Untersuchungen, dass bei der österreichischen und polnischen Bevölkerung das Streben nach ökonomischer Sicherheit das Hauptmotiv für die Befürwortung der EU ist. Die von den Eliten propagierten Mythen der gemeinsamen Geschichte entfalten kaum Wirkung und vermögen auch die im Zuge der Osterweiterung aufkommenden Ängste nicht zu zerstreuen. Lesenswert ist weiterhin der Aufsatz von Peter Stachel „Kritische Anmerkungen zu Nation, Konfession und ‚europäischen Werten’ vor dem Hintergrund der geplanten EU-Erweiterung“. Stachel benennt deutlich die enormen Widerstände in den Beitrittsländern, wie sie etwa anhand der Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien abgelesen werden können. Gemäß dem allgemeinen Konsens, dass an der Idee Europa keine Kritik geübt werden darf, wurden diese Probleme anfangs weitgehend ignoriert und später als „uneuropäisch“ abgetan. Gewiss hat Stachel Recht, wenn er oftmals eine mangelnde Sensibilität insbesondere Deutschlands und Frankreichs gegenüber den Empfindlichkeiten der Beitrittskandidaten beklagt und zu dem Schluss kommt, „dass die Tragweite der anstehenden Probleme innerhalb der entscheidungsmächtigen Institutionen der EU noch nicht einmal im Ansatz wahrgenommen wurde“ (S. 131). Wenn er allerdings davon spricht, dass der Nationalismus der großen Staaten mit „Fortschritt“ und mit „Europa“ identifiziert, jener der kleinen Staaten aber als „Sünde“ wider den europäischen Geist gebrandmarkt werde, schießt er über das Ziel hinaus. Leider bringt er keine Beispiele, mit denen sich diese These erhärten ließe. Angesichts des Tones, den gerade Polen und Tschechen bei den Beitrittsverhandlungen zuweilen angeschlagen haben, muss man sich doch fragen, wer es an Sensibilität hat fehlen lassen. Man kann nun wahrlich nicht behaupten, dass Warschau und Prag durch eine besonders kooperative Verhandlungspolitik aufgefallen wären. Es mag freilich unangebracht gewesen sein, dies auf dem Symposium in Krakau zum Ausdruck zu bringen.

Im Kontrast zu den eher kritischen Tönen bei Stachel plädiert der Schweizer Professor Urs Altermatt optimistisch für ein Schweizer Modell der zweierlei Loyalitäten – einer politischen und einer kulturellen – als Vorbild für die neue EU. Da kann man nur hinzufügen: Dies hört sich in der Theorie gut an. In der Praxis hat es wohl noch keine Aussicht auf Akzeptanz. Dazu dürfte bei der Masse der EU-Bevölkerung noch auf längere Sicht die politische und kulturelle Identität zu sehr mit der eigenen Nation und zu wenig mit Europa verbunden sein.

Im zweiten Teil des Sammelbandes werden vor allem die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse thematisiert, denen etwa die katholische Kirche und das Judentum unterworfen waren. So zeigt Mariano Delgado den Ablösungsprozess der Kirche von ihrer mittelalterlichen Gestalt auf, der auf eine Gradwanderung zwischen der Treue zum Glaubensbekenntnis einerseits und der Anpassung an die modernen Lebensverhältnisse andererseits hinauslief.

Ein besonderen Blick auf die europäischen Mentalitäten unternimmt in dieser Rubrik Helmut Kuzmics, indem er sich mit dem Thema „Neue Moral im neuen Europa. Europäische Einigung, nationale Mentalitäten und nationales Gedächtnis am Beispiel der ‚Sanktionen’ gegen Österreich“ widmet. Er macht die „dauerhafte Erinnerung an den Rückfall in die Barbarei“ (S. 257) 1938-1945 als ein einigendes Band unter den europäischen Intellektuellen aus. Gegen diese Moral habe Haider mit seinen beschönigenden Bemerkungen zur NS-Zeit verstoßen und damit die Ächtung Österreichs bewirkt. Hierbei seien allerlei nationale Animositäten zum Vorschein gekommen, vermutet Kuzmics hinter dem französisch-belgischen Vorstoß gegen Wien doch vor allem die Angst vor einem national erstarkenden Deutschland. Wenngleich man seinen Thesen nicht in allen Punkten wird folgen können, bleibt doch festzuhalten, dass trotz aller Fortschritte bei der europäischen Integration die oftmals traumatisierenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts im nationalen Gedächtnis der EU-Mitglieder nach wie vor eine zentrale Rolle spielen. 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wirkt dies auf die Nachgeborenen freilich immer befremdlicher und man fragt sich, wie lange derartige Argumente in der öffentlichen Diskussion noch eine Rolle spielen werden. Es bleibt zu hoffen, dass auch hier eines Tages endlich ein Wandel eintreten wird.

Im dritten Teil über Philosophie, Kunst und Kulturkritik wird das Phänomen der Selbstreflexion in der Moderne und Postmoderne einigen allgemeinen Betrachtungen unterzogen, um dann zu zeigen, wie die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der Jahrhundertwende in der Kunst und Literatur verarbeitet worden sind. So zeichnet Karl Schlögels Beitrag über den Jugendstil das Bild einer Stilrichtung, deren Überreste in osteuropäischen Städten an ihren gesamteuropäischen Charakter erinnern. Sicherlich geht man nicht zu weit, dass wieder erwachende Interesse am Jugendstil als ein Indiz für das trotz aller Probleme zusammenwachsende Europa zu interpretieren. Den Abschluss des interessanten Bandes bildet ein ideengeschichtlich spannender Beitrag über Romain Rollands Roman Jean-Christophe, der zwischen 1904 und 1912 in mehreren Teilen publiziert wurde. Er ist ein klassischen Beispiel für die von pazifistischen und supranationalen Idealen getragenen Europa-Vorstellungen der Jahrhundertwende, die dem aufbrausenden Nationalismus ihrer Zeit einen zukunftsweisenden Gegenentwurf für die Gestaltung Europas entgegengehalten haben.

In summa bleibt festzuhalten, dass hier eine vielschichtige und interessante Zusammenstellung von Reflexionen über vielfältige Probleme der europäischen Integration vorgelegt worden ist, die dem Leser zahlreiche neue Anregungen vermittelt. Wer eine einheitliche Ausrichtung der Beiträge etwa auf die jüngste ideengeschichtliche Forschung erwartet, wird freilich enttäuscht werden.

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