Cover
Titel
Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der Nationalsozialismus zwischen 1920 und 1960


Autor(en)
Wagner, Patrick
Reihe
Beck'sche Reihe 1498
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
218 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsten Dams, Dokumentations- und Forschungsstelle für Polizei- und Verwaltungsgeschichte, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, Münster

Die Geschichte der Polizei im Nationalsozialismus war lange Zeit ein Stiefkind der seriösen Geschichtsforschung. Die Kriminalpolizei bildete hier keine Ausnahme und Schriften ehemaliger Kriminalbeamter waren die einzige Informationsquelle.1 Dies änderte sich erst mit der bahnbrechenden Dissertation Patrick Wagners, die 1996 erschien.2 Wagner war der erste, der die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft auf die Frage nach der Rolle der Kriminalpolizei im Nationalsozialismus lenkte. Nun legt Wagner ein neues Buch vor, welches den prägnanten Titel „Hitlers Kriminalisten“ trägt, und das in weiten Teilen Ergebnisse seiner Dissertation in kürzerer Form zusammenfasst, aber auch neue Aspekte bietet.

Die Studie gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil macht Wagner deutlich, dass „die zwanziger Jahre eine Phase der Innovation und Modernisierung [...]“ für die deutsche Kriminalpolizei waren (S. 15). Vor allem in Berlin, der größten deutschen Kriminalpolizei, führte dies zu einer Spezialisierung der Beamten, die sich an dem modus operandi der Straftäter orientierte. Anzumerken ist, dass Wagner in weiten Teilen die Berliner Kriminalpolizei untersucht und dies mit der späteren Besetzung aller Schlüsselpositionen der deutschen Kripo durch Berliner Kriminalisten treffend begründet. Weitere Forschungen, insbesondere zur Arbeit der Kriminalpolizei in der Provinz sind dennoch wünschenswert. Zu überprüfen wäre etwa, ob und wie weit das Berliner Modell auf die praktische Arbeit der gesamten Kriminalpolizei übertragen wurde. Dies gilt ungeachtet der Feststellung Wagners, „dass um 1927 der praktische Blick der Berliner Kripo für alle preußischen Kriminalisten verbindlich geworden war“ (S. 20). Das Hauptaugenmerk der Berliner Kripo galt den so genannten Berufsverbrechern, die sich in den legendären Ringvereinen organisierten. Während der Weimarer Republik gelang es der Kriminalpolizei nicht, so Wagner, „die Schweigesolidarität des Milieus auszuhebeln“ (S. 38). Viele Kriminalisten erlebten diese Situation als zutiefst unbefriedigend und wünschten, die rechtstaatlichen Schranken im Umgang mit den so genannten Berufsverbrechern einzureißen. Einzelne Kommissare dienten sich daher bereits vor 1933 der NSDAP an. Unklar bleibt jedoch, wie viele dies waren und wie hoch die personelle Kontinuität im Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus in der Kriminalpolizei war.

Die Phase der Jahre 1933 bis 1936, die Wagner im zweiten Teil als autoritäre Kriminalpolitik beschreibt, war geprägt durch die Ausweitung der Kompetenzen der Kripo weit über den rechtsstaatlichen Rahmen hinaus - von den Nationalsozialisten wurde dies als „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ verbrämt. Die Kriminalisten konnten nun viele ihrer Ideen und Konzepte umsetzen. Doch trotz der brutalen Zerschlagung vieler Ringvereine war man nur bedingt erfolgreich. Immerhin waren im Jahre 1936 noch 11.000 Menschen zur Fahndung ausgeschrieben, wie ein Kriminalbeamter seinerzeit kritisch anmerkte (S. 73).

Im dritten Abschnitt analysiert Wagner die Wende zur Gesellschaftsbiologie von 1937 bis 1942 (S. 75-112). Auf organisatorischer Ebene war die Bildung des Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) aus dem preußischen Landeskriminalpolizeiamt entscheidend für die weitere Entwicklung. 1939 ging das RKPA schließlich als Amt V im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) auf. Durch diesen Prozess wurde die gesamte deutsche Kriminalpolizei nach dem preußisch-berlinerischen Modell ausgerichtet. Die Zusammenfassung von SD, Gestapo und Kriminalpolizei im RSHA führte jedoch nicht zu einer klaren Aufgabenverteilung. In der Praxis bearbeiteten Kriminalpolizei und Gestapo zum Teil die gleichen Fälle, durchaus in von Himmler beabsichtigter Konkurrenz zueinander, wie Wagner deutlich macht (S.84). Hierzu zählten die Verfolgung von Homosexuellen, Abtreibungsdelikten und Fälle von „Rassenschande“. Das Verhältnis von Kripo und Gestapo blieb zudem während der gesamten NS-Zeit ambivalent: Viele Kriminalbeamte, die zur Gestapo versetzt worden waren, bemühten sich erfolglos um eine Rückversetzung zur vermeintlich unpolitischen Kriminalpolizei. Diese Berührungsängste der Kriminalbeamten mit der politischen Polizei gab es schon zu Zeiten der Weimarer Republik. 3 In den späten 30er-Jahren setzte sich dann ein neues kriminologisches Konzept durch. Während man in der Weimarer Republik beim Berufsverbrecher von kriminellen Milieus ausging, änderte sich dies sukzessive und man sah nun im genetisch bedingten „Anlageverbrecher“ ein erweitertes Feindbild (S.100). Dieses Konzept zog eine Radikalisierung in der praktischen Arbeit nach sich, welche sich beispielhaft in der so genannten „Aktion Arbeitscheu Reich“ zeigte, die im Juni 1938 durchgeführt und bei der 9.000 Menschen inhaftiert wurden. Darunter befanden sich 1.000 jüdische Männer, die als Vorgriff auf die weitere Radikalisierung der Judenpolitik deportiert wurden.

Im vierten Teil schildert Wagner - in terminologischer Anlehnung an Rusinek - die Kripo in der Katastrophengesellschaft.4 Der Zweite Weltkrieg führte dazu, dass die Kriminalpolizei personell ausgedünnt wurde, da die jüngeren Beamten fast ausnahmslos für den Einsatz im besetzten Europa benötigt wurden. Dadurch stieg der Altersdurchschnitt auf weit über 50 Jahre. Mit dem Krieg kamen zudem neue Betätigungsfelder auf die Kripo zu: Die Kriegswirtschaftsdelikte und die Fahndung nach flüchtigen Zwangsarbeitern. Ab Mitte 1942 prägte dann der Bombenkrieg zunehmend den Arbeitsalltag der Kriminalbeamten. Hierzu zählten unter anderem die steigenden Eigentumsdelikte und die Identifizierung von Opfern des Luftkrieges. Den „Vernichtungsfeldzug gegen Sinti und Roma“ (S. 143ff.) beschreibt Wagner in einem gesonderten Kapitel. Leider verzichtet Wagner auf die Schilderung und Analyse der „Kriegsendphasenverbrechen“, an denen neben der Gestapo auch Kriminalbeamte beteiligt waren. 5

Der fünfte Abschnitt geht über die Dissertation Wagners hinaus und zeigt den Weg der NS-Kriminalisten in den ersten Jahren der Bundesrepublik, der in der Regel zurück in die Kriminalpolizei führte. Die typischen Verbrechen der Kriminalpolizei im Nationalsozialismus wurden nicht thematisiert. Daher konnten die meisten Kriminalbeamten ihren Dienst relativ unbehelligt versehen und selbst in führende Positionen des BKA vorrücken. 6 Leider kann Wagner keine Zahlen vorlegen, wie hoch die personelle Kontinuität tatsächlich war. Hier sollten künftige Forschungen u.a. ansetzen. Bei allen Schwierigkeiten, die bei der Integration der Kriminalisten des ‚Dritten Reichs’ auftraten, ist Wagners Gesamtbeurteilung zuzustimmen: „In der Summe ist es der Bundesrepublik gelungen, die ehemaligen NS-Kriminalisten zu resozialisieren und das in dieser Gruppe vorhandene Gefährdungspotential für Demokratie und Rechtsstaat zu entschärfen.“ (S. 184)

Zusammengenommen ist Hitlers Kriminalisten ein rundum gelungener Einstieg in die Geschichte der deutschen Kripo von der Weimarer Republik bis in die Frühphase der Bundesrepublik. Ihren regionalen Schwerpunkt hat die Studie freilich in Preußen/Berlin; dies sollte der künftige Leser wissen. Auf breiter Quellen- und Literaturbasis hat Wagner eine verständlich geschriebene und wohltuend knappe Übersicht vorgelegt. Es bleibt zu hoffen, dass durch Wagners Studien zur Kriminalpolizei weitere Forschungen zu dieser Thematik angeregt werden.

Anmerkungen:
1 Wehner, Bernd, Dem Täter auf der Spur. Die Geschichte der deutschen Kriminalpolizei, Bergisch Gladbach 1983. Wehner hatte bereits 1949 im Spiegel eine Artikelserie zur selben Thematik veröffentlicht.
2 Wagner, Patrick, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996.
3 Weiss, Bernhard, Polizei und Politik, Berlin 1928, S. 25; Liang, Hsi-Huey, Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik, Berlin 1977, S. 142.
4 Rusinek, Bernd-A., Gesellschaft in der Katastrophe. Terror, Illegalität, Widerstand – Köln 1944/45, Essen 1989.
5 Paul, Gerhard, „Diese Erschießungen haben mich innerlich gar nicht mehr berührt.“ Die Kriegsendphasenverbrechen der Gestapo 1944/45, in: Paul, Gerhard; Mallmann, Klaus-Michael (Hgg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront’ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 543-568.
6 Schenk, Dieter, Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA, Köln 2001.

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