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Titel
Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke


Autor(en)
Zertal, Idith
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv 24
Erschienen
Göttingen 2003: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moshe Zimmermann, History Department, The Richard Koebner Minerva Centre for German History, The Hebrew University of Jerusalem

Manche Israel-Freunde werden über den folgenden Satz sicher nicht begeistert sein: „Mit Hilfe von Auschwitz – Israels ultimativer Trumpfkarte bei seinen Beziehungen zu einer Welt, die immer wieder aufs Neue als antisemitisch und auf ewig feindselig definiert wurde – immunisierte sich Israel selbst gegen jedwede Kritik und genehmigte sich einen quasi sakrosankten Status, verschloss sich einem kritischen, rationalen Dialog mit seiner Umwelt“. Dieser Satz (S. 11) erläutert, was Idith Zertal in den Mittelpunkt ihres Buches gestellt sehen möchte, nämlich die „fatale Verbindung“ zwischen dem israelischen Nationalismus und dem „Tod in Israels öffentlichem Bereich“ (S. 7). Damit ist bereits die These des Buches umrissen, zu deren Untermauerung Zertal detailliert die Rezeption und Erinnerung des Holocaust in der israelischen Gesellschaft seit der Staatsgründung von 1948 verfolgt. Darüber hinaus geht es im Kontext des Themas um die Auseinandersetzung mit zwei weiteren Fällen der Rezeption von Tod, die das nationale Selbstverständnis der jüdischen Israelis geprägt haben. Diese Ereignisse setzen den chronologischen Rahmen des Buches: der Tod Joseph Trumpeldors im Jahre 1919 in einem zum Mythos gewordenen Kampf um die Siedlung Tel Chai auf der einen Seite der Zeitlinie, die Ermordung Yitzhak Rabins 1995 auf der anderen.

Im ersten Kapitel schildert Zertal „konstituierende historische Ereignisse“ und weist auf die Diskrepanz zwischen Ereignis und Erinnerung hin (Tel Chai, Masada, der Aufstand im Warschauer Ghetto und andere Beispiele). Im zweiten Kapitel wird das Holocaust-Bewusstsein im ersten Jahrzehnt nach der Gründung des Staates Israel behandelt. Dabei vertritt die Autorin die These von der verdrängten Erinnerung. In diesem Zusammenhang beschreibt sie vor allem die Prozesse gegen vermeintliche Kollaborateure mit dem NS-Regime, allen voran den Kasztner-Prozess. Das dritte Kapitel setzt sich äußerst kritisch mit dem Eichmann-Prozess auseinander, „Ben-Gurions letztem großen nationalen Projekt“ (S. 14), aus dem die Israelis mit einer „radikalen Bewusstseinsveränderung“ (S. 154) hervorgegangen sind. Im vierten Kapitel wird der Deutungsstreit um den Holocaust im zionistischen Diskurs mit Hannah Arendts Person als Aufhänger oder Alibi angegangen. Im letzten Kapitel wird dann die Verbindung zwischen Holocaust-Bewusstsein und Israel als Militärmacht einerseits bzw. Israels Grenzen andererseits umfassend beschrieben und dokumentiert.

Bereits ein Blick auf das Personen- und Sachregister zeigt, dass der Eichmann-Prozess und Hannah Arendt der eigentliche inhaltliche Kern des Buches sind. Dieser Prozess veranschaulichte eben optimal die Verknüpfung, die das offizielle Israel von Anfang an den Köpfen der Menschen einprägen wollte – die Verbindung zwischen Holocaust/Shoah und „Tekuma“ (Entstehung des Staates Israel), „zwischen dem Untergang des europäischen Judentums und israelischer Stärke“, wobei Israel als einzige Alternative zur Diaspora, zur Vernichtung der Juden, dargestellt wurde. „Der gesamte Fall Eichmann [...] mutierte im israelischen Diskurs zu einem Symbol israelischer Souveränität und Stärke“ (S. 157). Mehr noch (S. 161): „Der Fall Eichmann [...] sollte zu einem Wendepunkt auf dem Weg hin zu einer systematischen, unverblümten Verwendung [sic!] des Holocaust im Dienste israelischer Interessen, für politische Zwecke innerhalb Israels und besonders im Kontext des israelisch-arabischen Konflikts werden.“ Die israelische Atombombe ist hierfür ein Beispiel; der andere, von Zertal stark betonte illustrierende Fall ist die Gleichsetzung zwischen Nazis und Arabern. Die Allianz zwischen dem Mufti von Jerusalem und dem „Dritten Reich“ wurde zum Ausgangspunkt für eine derartige Gleichsetzung, die den gesamten Ablauf des Konflikts mit den Arabern begleiten sollte. Wie wirkungsvoll Ben-Gurions Parole „Araber gleich Nazis!“ war, zeigt die im Buch zitierte Stelle aus der liberalen Tageszeitung „HaAretz“ vom ersten Tag des Sechs-Tage-Krieges 1967: „Für uns ist Nasser Hitler“ (S. 192). Der Sechs-Tage-Krieg selbst galt somit als „abgewendete Shoah“ Nummer zwei (S. 198).

Besonders ausführlich befasst sich Zertal mit Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“, ihrer These von der Kollaboration der jüdischen Führung mit den Nationalsozialisten und ihrer Auseinandersetzung mit israelischen Freunden, in erster Linie mit Gershom Scholem. Lange Zitate werden angeführt, die die Debatte um Arendt, ihre Position im Eichmann-Prozess sowie ihre Haltung zum Zionismus im Allgemeinen illustrieren sollen. Dabei ist das Thema bereits auf der vom Richard-Koebner-Minerva-Zentrum der Hebräischen Universität Jerusalem organisierten Konferenz „Hannah Arendt in Jerusalem“ im Jahre 1997 und im daraus hervorgegangenen Sammelband gründlich bearbeitet worden.1

Ein weiterer Schwerpunkt des Buches wird im letzten Kapitel behandelt: die Präsenz des Holocaust in der Rhetorik sowie im Tun und Handeln des neuen Israel. Hier setzt Zertal bei der Todesrhetorik des offiziellen Israel in den 1950er-Jahren ein und führt die Erörterungen bis zur Rhetorik der Siedler in den 1980er-Jahren und zur Ermordung Yitzhak Rabins Mitte der 1990er-Jahre fort. Moshe Dayan, israelischer Generalstabschef in den 1950er-Jahren, hielt nach der Ermordung eines Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen eine Grabrede, in der sich der typische Satz findet (S. 279): „Die Millionen von Juden, die vernichtet wurden, weil sie kein Land hatten, sehen uns aus der Asche der israelischen Geschichte zu und befehlen uns, zu siedeln und ein Land für unser Volk zu errichten.“ Als es sich dann später – nämlich nach 1967 – bei dem zu besiedelnden Land nicht mehr nur um das international als Israel anerkannte Kernland, sondern vor allem um das Westjordanland handelte, wurde erneut zu dieser Argumentation gegriffen. Alle Versuche, die fanatische Siedlerbewegung zu zähmen, wurden von den Siedlern stets mit der NS-Judenpolitik verglichen. Nicht nur Araber, sondern auch die israelische Linke – und dazu zählte Ministerpräsident Yitzhak Rabin – konnten so mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt werden: Israel habe keine Regierung, sondern einen Judenrat, hieß es. Zertal achtet nicht darauf, dass diese Rhetorik nur für legitim gehalten wurde, wenn sie aus dem rechten Flügel des politischen Spektrums kam, von Siedlern und ihren Sympathisanten. Bezugnahmen des linken Flügels auf die NS-Vergangenheit galten dagegen nicht als legitim und führten sogar zu entsprechenden Gerichtsverfahren.

Zertal rechnet mit der gesamten israelischen Politik und Kultur ab – von David Ben-Gurion bis zu Menachem Begin und Ariel Scharon, von der Arbeiterpartei bis hin zu Gush Emunim. Für den israelischen Leser ist dies ein Schlachten von heiligen Kühen. Der deutsche Leser, für den Personen wie Chaim Guri oder Yitzhak Tabenkin unbekannte Größen sind, fällt angesichts einer solchen Abrechnung eher in Verwunderung oder Bestürzung. Die Texte, die Zertal ausführlich zitiert, reichen für den kritischen Leser allerdings aus, um sich eine eigene Meinung über die im Buch erörterte Entwicklung zu bilden.

Israelischen Lesern dürften darüber hinaus Teile des Buches bekannt gewesen sein, denn noch bevor die hebräische Ausgabe erschien, wurden bestimmte Abschnitte bereits als Artikel in israelischen Zeitschriften publiziert. Auch deutsche Leser werden sich über dieses Buch nicht zum ersten Mal einen Zugang zu den Details des internen israelischen Holocaust-Diskurses verschaffen. Tom Segevs „Die siebte Million“2 ist mittlerweile zum Standardwerk geworden, und für einen systematischen Überblick sorgten israelische Autoren schon vor zehn Jahren in dem von Rolf Steininger herausgegebenen Sammelband „Der Umgang mit dem Holocaust“.3 Dem deutschen Leser wird zudem auffallen, dass die in Deutschland vor allem bekannten israelischen Historiker, die sich mit der Problematik der Holocaust-Erinnerung in Israel und Deutschland befassen – Yehuda Bauer, Dan Diner, Shulamit Volkov, um hier nur einige zu nennen – bei Zertal unerwähnt und unberücksichtigt bleiben. Infolge mangelnder Sprachkenntnisse hatte Zertal wohl keinen Zugang zur deutschsprachigen Literatur.

Anmerkungen:
1 Aschheim, Steven (Hg.), Hannah Arendt in Jerusalem, Berkeley 2001.
2 Segev, Tom, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Hamburg 1995.
3 Steininger, Rolf (Hg.), Der Umgang mit dem Holocaust: Europa – USA – Israel, Wien 1994.

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