H. Maier (Hg.): Totalitarismus und Politische Religionen

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Titel
Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs. Band III: Deutungsgeschichte und Theorie


Herausgeber
Maier, Hans
Reihe
Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 21
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Jörg Sigwart, Institut für Politische Wissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Der vorliegende Sammelband schließt eine dreibändige Reihe zum Thema „Totalitarismus und Politische Religionen“ ab. Während die ersten beiden Bände jeweils auf Tagungen zum Thema zurückgingen und unmittelbar den aktuellen Stand des Forschungsprozesses widerspiegelten,1 wird mit dem dritten Band der Versuch unternommen, die Ergebnisse in einer Gesamtbilanz zusammenzufassen. Das Resultat ist eine profunde und facettenreiche Darstellung der Geschichte des Diktaturvergleichs und der Diktaturkritik – und damit ein wichtiges Stück der intellektuellen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Buch ist in fünf Hauptkapitel gegliedert, ergänzt durch eine sehr hilfreiche lexikalische Übersicht von „Interpreten des Totalitarismus“ (S. 327ff.). Es bietet damit ein breites Panorama der kritischen Auseinandersetzung mit totalitären Regimes und ihren Verbrechen, von den ersten Versuchen einiger weitsichtiger Prognostiker über die unmittelbaren Zeitgenossen der Katastrophe bis hin zu dem weiterhin unabgeschlossenen Versuch der nachgeborenen Generationen, mit der – wie es Hermann Lübbe ausgedrückt hat – „herausforderndsten“ der „historischen Erklärungsbedürftigkeiten“2 des zu Ende gegangenen Jahrhunderts intellektuell zurande zu kommen.

Die Darstellung wird – nach einem einführenden Kapitel des Herausgebers – eröffnet durch die sehr gelungene ideengeschichtliche Untersuchung von Hella Mandt zu den klassischen Begriffen Tyrannis und Despotie. Der Beitrag ist konzeptionell auf das Hauptthema des Bandes zugeschnitten und setzt deutlich andere Akzente als der Aufsatz, den die Autorin in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ zum gleichen Thema veröffentlicht hat.3 Mandts Untersuchung, die die ungebrochene Wichtigkeit „des klassischen Vokabulars als Bestandteil einer gemeinsamen politisch-moralischen Sprache der European family of nations“ unterstreicht (S. 105), konzentriert sich auf die Rekonstruktion der neuzeitlichen Entwicklung. Diese sei, so Mandt, durch eine Gleichzeitigkeit von „Konstanz und Marginalisierung“ geprägt, mit deutlichen Gewichtsverschiebungen in den verschiedenen nationalen Geistestraditionen. Während das angelsächsische Denken „grundsätzlich dem klassischen Vokabular verpflichtet“ geblieben sei (S. 40), seien die Begriffe vor allem in Deutschland bereits Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend marginalisiert und ihrer politisch-kritischen Bedeutung entkleidet worden. Diesen politisch problematischen Zustand des deutschen Wissenschafts- und Geisteslebens habe die „wertrelativistische Staatslehre und Sozialwissenschaft des neuen 20. Jahrhunderts“ schließlich „theoretisch sanktioniert“ (S. 56). Abschließend bespricht Mandt die frühen Konzeptualisierungen von Totalitarismus und Politischer Religion bei Boris Souvarine, Franz Borkenau, Raymond Aron und anderen. Überraschend ist, dass sie Eric Voegelin nicht erwähnt, der den Begriff der „politischen Religionen“ 1938 erstmals in die Diskussion einführte und damit unter anderem gerade auf jene Debatten innerhalb der deutschen Staatsrechtslehre kritisch reagierte,4 denen Mandt zuvor eine längere Passage gewidmet hat. Voegelins Theorie wird an anderen Stellen des Bandes ausführlich betrachtet, allerdings ohne dabei an diese Zusammenhänge anzuknüpfen.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich – ebenfalls vorwiegend historisch – mit den „neuen Ansätzen“ Totalitarismus und Politische Religion (mit Abschnitten zu Voegelin, Aron, Leo Strauss, Hannah Arendt und anderen). Besonders gelungen ist in diesem Kapitel der Aufsatz von Michael Schäfer, der sich mit Ernst Jünger, Carl Schmitt und Erich Ludendorff prominente „Denker des Totalen“ vorgenommen hat. Schäfer versteht es, die zum Teil analytisch-hermeneutisch bzw. diagnostisch motivierten, zum Teil aber auch affirmativ vorwegnehmenden Konzeptualisierungen des „Totalen“ bei Jünger, Schmitt und Ludendorff in ihrer eigentümlichen Spannung zu beschreiben. Die „Denker des Totalen“ erscheinen als Vorläufer der Totalitarismus-Theoretiker und zugleich als Teil des Phänomens selbst, als Protagonisten der totalitären Bewegung. Einem vergleichsweise kurzen systematischen vierten Kapitel folgt abschließend eine ausführliche empirisch-vergleichende Untersuchung von Juan J. Linz zum Thema „Faschismus und nicht-demokratische Regime“.

Das zentrale Thema des Bandes ist also die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Konzepte. Der relativ breite Raum, den die Rezeptionsgeschichte einnimmt, geht einerseits auf Kosten konzeptioneller und systematischer Aspekte (darauf wird gleich noch zurückzukommen sein), ist aber andererseits durchaus gerechtfertigt. Denn an der Rezeptionsgeschichte lässt sich nicht nur die Problematik, sondern auch die besondere Sprengkraft der beiden Konzepte gut ablesen – man kann auch sagen: ihr kritisches Potenzial und ihre analytische Fruchtbarkeit. So stellte der Begriff des Totalitarismus, indem er eine grundsätzliche Vergleichbarkeit von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus behauptete, bis weit in die Nachkriegszeit hinein vorherrschende intellektuelle und politisch-ideologische Frontstellungen radikal in Frage und war bis 1989 höchst umstritten. Der Begriff der Politischen Religionen, der überhaupt erst seit Anfang der 1990er-Jahre breiter diskutiert wird, konfrontiert wesentliche Elemente des Selbstverständnisses der westlichen (vor allem aber der zentraleuropäischen) liberal-säkularen demokratischen Gesellschaften mit zunächst widersprechenden Thesen und Befunden. Diese Eigentümlichkeit der Konzepte spiegelt sozusagen die Fernwirkung der Phänomene selbst wider, die sie zu beschreiben versuchen.

Die Interpretation und Kritik von Kommunismus und Nationalsozialismus als singulärer Erscheinungen des 20. Jahrhunderts impliziert immer auch eine potenzielle Verunsicherung, zumindest die Problematisierung und eine sich daraus ergebende kritische Selbstvergewisserung des Politik- und Ordnungsverständnisses der westlichen Demokratien.5 Das kann man – je nach Forschungsinteresse mitunter sicherlich zu Recht – als Überfrachtung der Konzepte beklagen oder aber konstruktiv umzusetzen versuchen. Denn gerade in diesem Punkt liegt die Relevanz und Aktualität der beiden Konzepte begründet. Von hier aus ergeben sich Anschlusspunkte zur Demokratie- und Politischen Kulturforschung, insbesondere der Forschung zu den Konzepten der Zivilreligion bzw. Ziviltheologie,6 ebenso zur neueren Fundamentalismusforschung und allgemein zu zivilisationsvergleichenden Fragestellungen. Die spezifisch europäischen Konzepte des Diktaturvergleichs können daher über ihren engeren Gegenstand hinaus fruchtbare Beiträge leisten – etwa zu Fragen der Transformation und Demokratisierung, aber auch zu den Herausforderungen durch neu erstarkende religiöse Fundamentalismen und einen vermeintlichen „Clash of Civilizations“.

Aus diesem breiteren Blickwinkel treten eine Reihe keineswegs neuer, aber unvermindert fruchtbarer theoretisch-konzeptioneller Fragestellungen in den Vordergrund: Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Totalitarismus und der modernen Demokratie allgemein?7 Wie lässt sich die Beziehung zwischen den politischen Religionen einerseits und der politischen Form des Nationalstaats andererseits verstehen?8 Wie kann generell das Verhältnis von Politik und Religion beschrieben werden,9 und was bedeuten die beiden Begriffe je einzeln,10 wenn man diese Frage vor dem Erfahrungshorizont der westlichen Moderne und insbesondere des 20. Jahrhunderts stellt?

Derartige Perspektiven, zu denen die ersten beiden von Hans Maier herausgegebenen Bände eine Vielzahl interessanter Beiträge geliefert haben, kommen im jetzigen dritten Band etwas zu kurz. Die handbuchartige Zusammenfassung gibt der historischen Darstellung den weitaus größeren Raum. Gerade die angedeuteten konzeptionellen Aspekte aber finden in der neueren politikwissenschaftlichen Forschung besonderes Interesse.11 Der Aufbau des vorliegenden Kompendiums darf also nicht missverstanden werden. Zwar trägt er der Tatsache Rechnung, dass die Ergebnisse der bisherigen Forschung zum Thema mittlerweile Eingang in den analytisch-theoretischen Grundbestand der Politikwissenschaft gefunden haben. Aber einen auch nur vorläufigen Abschluss bedeutet dies nicht. Vielmehr wird hier eine erste und anregende Zwischenbilanz gezogen in einem Forschungsfeld, das sich überhaupt erst voll entfaltet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Maier, Hans (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, 2 Bde., Paderborn 1996/97. Vgl. außerdem den nicht in der Reihe erschienenen, aber unmittelbar in den Forschungszusammenhang gehörenden Band von Maier, Hans (Hg.), Wege in die Gewalt. Die modernen politischen Religionen, Frankfurt am Main 2002 (siehe dazu die Rezension von Nikolaus Buschmann: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=595).
2 Lübbe, Hermann, Totalitarismus, Politische Religion, Anti-Religion, in: ders. (Hg.), Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20 Jahrhunderts, Düsseldorf 1995, S. 7-14, hier S. 7.
3 Vgl. Mandt, Hella, Art. „Tyrannis, Despotie“, in: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 651-706.
4 Zu Voegelins Auseinandersetzung mit der deutschen Staatsrechtslehre und insbesondere mit der „reinen Rechtslehre“ seines akademischen Lehrers Hans Kelsen vgl. Henkel, Michael, Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938), München 2003 (Eric Voegelin Archiv, Occasional Papers XXXVI).
5 Vgl. dazu die Anfangspassagen des Beitrags von Karl-Josef Schipperges im vorliegenden Band: „Zur Instrumentalisierung der Religion in modernen Herrschaftssystemen“ (S. 223ff.).
6 Vgl. dazu den kurzen Beitrag von Hans Maier im vorliegenden Band (S. 217ff.).
7 Vgl. Baczko, Bronslaw, Französische Revolution und Totalitarismus, in: Maier 2002 (wie Anm. 1), S. 11-36; Henningsen, Manfred, Politische Religion versus Zivilgesellschaft, in: Ley, Michael; Neisser, Heinrich; Weiss, Gilbert (Hgg.), Politische Religion? Politik, Religion und Anthropologie im Werk von Eric Voegelin, München 2003, S. 101-113, hier S. 108f.
8 Bei Voegelin selbst ist dieser Zusammenhang sehr eng. Vgl. Voegelin, Eric, Die politischen Religionen (1938), hg. von Peter J. Opitz, München 1993, S. 44ff. Vgl. auch Ley, Michael, Zur Theorie der politischen Religionen. Der Nationalismus als Paradigma politischer Religiosität, in: Ley; Neisser; Weiss (wie Anm. 7), S. 77-85.
9 Vgl. Hildebrandt, Mathias; Brocker, Manfred; Behr, Hartmut (Hgg.), Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften. Ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven, Wiesbaden 2001; dies. (Hgg.), Religion – Staat – Politik. Zur Rolle der Religion in der nationalen und internationalen Politik, Wiesbaden 2003; Minkenberg, Michael; Willems, Ulrich (Hgg.), Politik und Religion, Wiesbaden 2003.
10 Vgl. Di Rienzo, Stephen R., The Non-Optional Basis of Religion, in: Totalitarian Movements and Political Religions 3.3 (2002), S. 75-98; Gebhardt, Jürgen, Voegelin und das Politische, in: Ley; Neisser; Weiss (wie Anm. 7), S. 199-208; Gentile, Emilio, Le religioni della politica: Fra democrazie e totalitarismi, Laterza 2001.
11 Vgl. neben den bereits angeführten Beispielen auch Bärsch, Claus-E., Der Topos der Politischen Religion aus der Perspektive der Religionspolitologie, in: Ley; Neisser; Weiss (wie Anm. 7), S. 176-197.