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Titel
Nach der Diktatur. Demokratische Umbrüche in Europa - zwölf Jahre später


Herausgeber
Veen, Hans-Joachim
Reihe
Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
225 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beate Ihme-Tuchel, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin

Die Stiftung Ettersberg, die der „vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung“ gewidmet ist (http://www.stiftung-ettersberg.de), hat im Oktober 2003 ihren ersten Sammelband vorgelegt. Seine Grundlage bilden die Beiträge eines Internationalen Symposiums der Stiftung im Herbst 2002, die eine Bilanz des Scheiterns und Gelingens demokratischer Umbrüche im Europa des 20. Jahrhunderts aufstellen. Zehn Autoren und eine Autorin analysieren darin sowohl synchron wie auch diachron spezifische historische Zäsuren am deutschen, polnischen, tschechoslowakischen und ungarischen Beispiel.

Die Mehrzahl der Beiträge untersucht die Zäsuren von 1918, 1945 und 1989 aus einem Abstand von jeweils zwölf Jahren heraus, also die Jahre 1931, 1957 und 2001. Hervorzuheben ist der gelungene Versuch, abseits der üblichen Pfade der Transformationsforschung zur „dritten Demokratisierungswelle“ des 20. Jahrhunderts die sozialistischen Zusammenbrüche der Jahre 1989/90 vor dem Hintergrund historisch vorangegangener Zusammenbrüche in historisch vergleichender Analyse zu spiegeln. Hier ist eine Grundlage für weitere historisch-komparative Analysen geschaffen.

Vorangestellt ist dem Band eine gut lesbare und schlüssig argumentierende Einführung des Herausgebers über die „Formen diktatorischer Herrschaft in Europa“ im 20. Jahrhundert. Hans-Joachim Veen folgt hier vor allem den totalitarismustheoretischen Überlegungen von Juan Linz. Zwar sei das Totalitarismuskonzept keineswegs ein nur „normativ aufgeladenes Produkt des Kalten Krieges“, wie vielfach behauptet, doch müsse sorgfältig mit ihm umgegangen werden. So seien die mittel- und südosteuropäischen sozialistischen Länder zum Zeitpunkt ihres Niedergangs „nicht mehr uneingeschränkt totalitär“ gewesen. Das Totalitarismuskonzept müsse auf den „Extremfall“ beschränkt bleiben und zugleich offen sein für Systemwandlungen, „etwa in posttotalitärer, autoritärer oder gar liberal-demokratischer Richtung“. Unter „Posttotalitarismus“ versteht Veen keinen irgendwie gearteten „idealtypischen Systemzustand“, sondern eher ein Kontinuum, „das verschiedene Stadien abnehmender nachtotalitärer Systemkonsistenz durchlaufen und schließlich in pluralistisch-demokratische Entwicklungen umbrechen kann“ (S. 11f., S. 20f.).

Der (inzwischen ehemalige) thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel zieht für sein Bundesland eine Bilanz nach zwölf Jahren Transformation, wobei er auch die Aufgaben der Stiftung Ettersberg erläutert. Es folgen zwei sich aufeinander beziehende Beiträge zu Polen. Sowohl der Historiker Włodzimierz Borodziej als auch der Publizist Adam Krzemiński analysieren die Umbrüche von 1918, 1945 und 1989 aus einem Abstand von jeweils zwölf Jahren, also die Jahre 1931, 1957 und 2001. Einige der darin aufgeworfenen Fragen, wie diejenige nach dem EU-Beitritt Polens, haben sich durch das im Mai 2003 erfolgreich absolvierte Referendum inzwischen allerdings erledigt. Das Urteil über den erreichten Stand der polnischen Transformation im Jahr 2001 ist dem ungarischen Beispiel recht ähnlich: Während die jüngere, besser ausgebildete Großstadtbevölkerung zu den Gewinnern zähle, stelle die ältere und weniger gebildete kleinstädtische Bevölkerung das Gros der Wendeverlierer (S. 46).

Zwei weitere, wiederum aufeinander bezogene Beiträge sind den tschechoslowakischen Umbrüchen gewidmet: František Černý, dem ein Zwölf-Jahres-Zyklus für das tschechoslowakische Beispiel verständlicherweise nicht recht einleuchtet, weil dieses Land in seinen Entwicklungsphasen doch eher einen ausgeprägten 20-Jahres-Rhythmus aufweist (1918, 1938, 1968, 1988/89), behandelt vor allem das auch für die Tschechoslowakei wichtige Jahr 1957 sowie den „Prager Frühling“. Miroslav Kunštát analysiert diese Zäsuren ebenfalls für die Tschechoslowakei. Als ostdeutsch-tschechoslowakische Parallele identifiziert er die in den 1970er-Jahren unter Husak und Honecker in beiden Ländern ausgeprägt vorhandene Koinzidenz von Diktatur und Konsumgesellschaft. Aufschlussreich sind seine Ausführungen über die Gründe, warum seit Mitte der 1990er-Jahre in der Tschechischen Republik nicht mehr von einer „samtenen Revolution“ gesprochen werde (S. 82f.).

Maria Schmidt und Tibor Dömötörfi analysieren die ungarischen Zäsuren von 1918, 1945 und 1989 – wiederum jeweils im Abstand von zwölf Jahren. Schmidt verweist darauf, dass es die Kádár-Regierung nach der traumatischen Erfahrung von 1956 nicht mehr gewagt habe, den „Bogen zu überspannen“. In Ungarn sei die Diktatur nicht länger durch offenen Terror, „sondern durch die unterschwellige und wechselseitige Angst“ der Herrschenden und der Bevölkerung aufrecht erhalten worden, was bis in die Gegenwart deutliche Spuren zeige. Wie die polnische sei auch die ungarische heute eine Ein-Drittel-Gesellschaft; inzwischen sei das Wort „Kommunist“ völlig aus der ungarischen Öffentlichkeit verschwunden – als ob es niemals eine kommunistische Diktatur gegeben habe (S. 96f.).

Charles S. Maier befasst sich mit dem deutschen Beispiel, indem er Weimarer Republik und Bundesrepublik nach jeweils zwölf Jahren, also 1931 und 1957, analysiert. Trotz alt- und neonazistischer Strömungen habe sich die Bonner Republik von Anfang an stabil entwickelt, während in Weimar selbst grundlegende Fragen der politischen Ordnung und politischen Kultur offen geblieben seien. Der Unterschied zwischen beiden Demokratien liege darin, dass es in Weimar zwar eine „viel brillantere und viel grundlegendere Diskussion über die Grundprinzipien der Demokratie“ gegeben habe, aus Bonn aber „bei allem Schweigen über demokratische Fragen“ eine viel stabilere Republik geworden sei (S. 116f.).

Stefan Wolles Beitrag über „Dorfgeschichten als Heilsgeschichte“ unterläuft den gesteckten Rahmen, indem er für die DDR lediglich auf das Jahr 1957 im Zusammenhang mit dem DEFA-Film „Schlösser und Katen“ eingeht. Dennoch liest sich sein Beitrag amüsant. Ehrhart Neubert analysiert die neuen Bundesländer zwölf Jahre nach der „Wende“ und hält fest, dass die deutsche Einheit ökonomisch, sozial, institutionell und auch politisch eine Erfolgsgeschichte sei. Dies gelte gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung in den übrigen postsozialistischen Ländern. Spannend sind insbesondere Neuberts Ausführungen zur stärkeren Staatsorientierung und Fürsorgeerwartung der Ostdeutschen oder zur unterschiedlichen Auffassung von Political Correctness in Ost- und Westdeutschland. Neubert reflektiert zudem kritisch den Boom der ostdeutschen Alltagsmuseen sowie die Diskussion über eine „Ostidentität“.

Hans-Peter Schwarz hat den weitaus umfangreichsten Aufsatz dieses Bandes beigesteuert. Er untersucht darin die internationalen Rahmenbedingungen der „deutschen Demokratie“ nach jeweils zwölf Jahren, also 1931, 1957 und 2002, unter drei Schlüsselfragen: 1. Welche Grundstruktur und welche Entwicklungstendenzen ließ das europäische Staatensystem jeweils erkennen? 2. Welchen Einfluss hatten und haben dabei die großen Mächte Amerika, Großbritannien, Frankreich auf die Destabilisierung oder Stabilisierung der deutschen Demokratie? 3. Wie haben sich in Deutschland „generationsbedingte Erfahrungen, Perzeptionen und Festlegungen“ sowohl bei den politisch Verantwortlichen wie auch bei der Masse der politisch Aktiven sowie der Wähler ausgewirkt? Dieser Beitrag ist für alle an Überblicksanalysen zur politischen Entwicklung im Deutschland des 20. Jahrhundert Interessierten uneingeschränkt zu empfehlen.

Den Band beschließt ein die Folgen des Endes des Totalitarismus in Europa abwägender Essay von Hans Maier, dessen drittes Sammelwerk zum Großthema „Totalitarismus und Politische Religionen“ jüngst erschienen ist.1

Die Stiftung Ettersberg hat sich für die Zukunft viel vorgenommen. Dieser erste Band mit seinem tragfähigen Konzept, Umbrüche diachron und synchron im Abstand von jeweils einem Dutzend Jahren zu analysieren, lässt weitere interessante Arbeiten erwarten, die vor allem in der politischen Bildung von sehr großem Nutzen sein können.2

Anmerkungen:
1 Maier, Hans (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Bd. III: Deutungsgeschichte und Theorie, Paderborn 2003.
2 Als Bd. 2 ist angekündigt: Veen, Hans-Joachim (Hg.), Die abgeschnittene Revolution. Der 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte, Köln 2004.

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