K.-M. Mallmann u.a (Hgg.): Deutscher Osten 1939-1945

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Titel
Deutscher Osten 1939-1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten


Herausgeber
Mallmann, Klaus-Michael; Pyta, Wolfgang; Riess, Volker
Erschienen
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schröders, Bonn

Seit April 2001 ist an der Ludwigsburger Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen eine Forschungsstelle der Universität Stuttgart unter der Leitung von Wolfram Pyta eingerichtet, die sich in der Tradition der Zentralen Stelle insbesondere der "Täterforschung" widmen will. Sie legt mit dieser Quellenedition eine erste Veröffentlichung vor, die sich, wie auch weitere geplante Publikationen, mit der "Verbrechensgeschichte des Dritten Reiches bzw. […] deren Rezeption und Verarbeitung nach 1945" (S. 7) befassen sollen. An der Forschungsstelle arbeiten mit Klaus-Michael Mallmann und Volker Rieß zwei Historiker, die durch zahlreiche Veröffentlichungen, u.a basierend auf Aktenbeständen der Zentralen Stelle, ausgewiesen sind. 1 Die dort seit 1958 gesammelten Ermittlungsakten bilden die Grundlage für eine Unrechtsgeschichte des Dritten Reiches und damit für das vom Institut in Anspruch genommene Konzept einer "Täterforschung". 2

Ziel der vorliegenden Edition ist es "möglichst dichte Beschreibungen der Taten zu liefern, Kontextualisierung und Konkretisierung des Massenmordes zu ermöglichen" (S. 8). Damit soll eine "sinnliche Anschauung" erreicht werden, die den Leser mit der Perspektive der Täter konfrontiere und Material für einen Einblick in Motive, Bedingungen und Handlungsspielräume bereitstelle. Ausschnitte aus Feldpostbriefen, Befehlen, Vernehmungsprotokollen der Nachkriegszeit - nicht nur von Tätern sondern auch Überlebenden -, Einsatzberichte sowie insgesamt 84 Fotos bilden die Quellenbasis dieser Publikation, die sich nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum, sondern ausdrücklich auch an "Träger der Jugend- und Erwachsenenbildung" (S. 8) wendet. Die Edition ordnet sich hinsichtlich der Quellenauswahl wie auch aufgrund ihres Anspruchs in die öffentlichen Debatten der Jahre 1997 - 1999 um die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" und deren umstrittenen Umgang mit Fotos ein. Sie steht gleichfalls im Kontext neuerer Forschungen zu Mentalitätsfragen im Vernichtungskrieg, die etwa Klaus Latzel und Martin Humburg mit der Untersuchung von Feldpostbriefen sowie Christoph Rass mit einer soziohistorisch orientierten Arbeit über die 253. Infanteriedivision vorgelegt haben. 3

Die drei Kapitel des Buches geben einen Einblick in den alltäglichen, zumeist von Einsatzgruppen und Polizeibataillonen, aber auch Einheimischen begangenen Mord an den osteuropäischen Juden, den Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen sowie den Terror gegenüber der der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten. Der erste Abschnitt, überschrieben mit "Mentalitäten", lässt erkennen, dass die Bereitschaft zum Mord sowohl auf den Ideologemen, wie dem "jüdischen Bolschewismus", basierte als auch geprägt war durch eine Bereitschaft zur Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung, die als unmittelbarer Feind wahrgenommen wurde.

In den chronologisch angeordneten Texten und Bildern wie auch mit den wiedergegebenen Quellen macht dieses Kapitel vor allem eines deutlich: In der späteren Wahrnehmung der Einsatzgruppen im Osten war die Mordpraxis in Polen 1939/40 bereits eine Vorwegnahme des weiteren "Vernichtungskriegs". "Hier haben wir den Polenkrieg in verstärkter Ausgabe" schrieb der Unteroffizier Erhard Schlenker 1941 aus der UdSSR an seine Eltern (S. 23). Somit kann der Begriff "Vernichtungskrieg", anders als es noch die erwähnte Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung und deren Nachfolgerin tat, nicht mehr allein auf den Krieg gegen die UdSSR begrenzt werden. Der Vernichtungskrieg hatte seine "Inkubationsphase" bereits seit dem 1. September 1939 erlebt. 4 An diese, in der Edition mehrfach sichtbaren Zusammenhänge gilt es zu erinnern, denn unter erfahrungsgeschichtlicher Perspektive kann es entscheidend zur Erklärung des Handelns der Träger des Vernichtungskrieges beitragen. Die Bereitschaft zu kriegsrechtswidrigem Handeln von Polizisten, Wehrmachtsoldaten oder Beamten der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten scheint durch die Erfahrung der "ideologisch bedingten Brutalisierung" 5 bereits in Polen die Hemmschwelle für das Begehen von Kriegs- und Menschheitsverbrechen in der UdSSR deutlich gesenkt zu haben.

Die beiden weiteren Kapitel "Tatorte" und "Einheiten" enthalten im Unterschied zum ersten Kapitel jeweils knappe Einleitungen mit Überblicken über die ausführlich rezipierte Forschungsliteratur. Sie werden durch 35 Seiten Anmerkungen zu den zwölf Tatorten und sieben SS-, Polizei- und Wehrmachteinheiten ergänzt, darunter mit dem Einsatzkommando 8 und der Einsatzgruppe D zwei SD-Einheiten, drei Polizeieinheiten (Polizeibataillone 318, 322, Polizeireiterabteilung III) eine Einheit der Wehrmacht (Durchgangslager 150) und eine der Waffen-SS (SS-Kavalleriebrigade). Beide Kapitel wirken vor allem hinsichtlich des angesprochenen, größeren Publikums weitaus überzeugender, da sie eine Einordnung der Quellen mit Hilfe übersichtlicher Einleitungen ermöglichen.

Besondere Sorgfalt haben die Herausgeber bei der Auswahl der 84, bislang weitestgehend unveröffentlichten Fotografien walten lassen. Diese besitzen ihrer Meinung nach über die reine Erinnerung an den mörderischen Charakter dieses Krieges hinaus einen wichtigen dokumentarischen Wert als historische Quelle. So lässt das einem Feldpostbrief beigegebene Bild eines Massengrabes (Abb. 20) versehen mit der Bemerkung: "Ja, das sind Juden. Für sie ist der Traum von Deutschlands Vernichtung aus" (S. 31) erkennen, dass dieser Schreiber nationalsozialistische Feindbild-Ideologeme tief verinnerlicht hat und diese bewusst durch die Fotos bestätigt wurden. Entstehung, Überlieferung und Kontextualisierung dieser Fotos wurden, den Herausgebern zufolge, "insbesondere dann, wenn sie ein Tötungsdelikt abbilden, nach [...] Kriterien überprüft", die infolge der Auseinandersetzungen um die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" 1999 erarbeitet wurden. 6

Allerdings werden die Herausgeber nicht in jedem Falle der dort aufgestellten Forderung gerecht, auf die "früheste vorliegende [...] Bildbeschriftung" 7 zurückzugreifen: So sagt die Beschriftung durch die Herausgeber beispielsweise im Falle von Abb. 35: "Auszeichnung eines Polizisten durch Generalleutnant Pflugbeil, 11. Juli 1941". Das Foto zeigt jedoch die Verleihung eines Eisernen Kreuzes kurz nach dem Pogrom in Bialystok durch den Kommandeur der Sicherungsdivision 221. Wäre hingegen die Originalbeschriftung unmittelbar mit dem Bild reproduziert worden und nicht erst im Abbildungsnachweis des Anhangs ausgewiesen, wären Rückschlüsse auf die Täter und ihre Einstellungen leichter möglich. So sagt der Orginaltext: "Am 11. Juli 1941 verlieh mir im Wald von Bianlonvice [=Bialowice] General-Leutnant [P]Flugbeil persönlich das EK. II. Klasse" (S. 201, Abbildungsnachweis 35). Im Zusammenhang mit der originalen Bildunterschrift wird klar: Erinnerungswürdig war nicht das Kriegsverbrechen, der Massenmord an ca. 2.000 Juden in Bialystok, sondern die nach der befohlenen "Säuberungsaktion" verliehene "Tapferkeits"-Auszeichnung. Die Bilder unterstützen also eine selektive Erinnerung, eine Funktion die man bei der Bild-Edition deutlicher hätte herausarbeiten können. Andere Bilder, wie z.B. die Bilder des brennenden Bialystok, haben hingegen eher einen begrenzten, illustrativen Aussagewert, da sie kaum Rückschlüsse auf die Mentalität der Akteure zulassen.

Abgesehen von einigen Beispielen, in denen in der genannten Weise Bildbeschriftungen ohne erkennbare Gründe von den Herausgebern geändert bzw. hinzugefügt wurden, haben Mallmann, Rieß und Pyta ein insgesamt sehr präzise recherchiertes und den Vernichtungskrieg ausführlich dokumentierendes Quellenbuch herausgegeben, das auch für den Geschichtsunterricht geeignet erscheint, da es Erkenntnisse über Handlungen und Motivationen der unmittelbar am Vernichtungskrieg Beteiligten veranschaulicht. Dies geht bis hin zu der - anhand dieser Quellen zu bejahenden - Frage, inwieweit auch nichtbeteiligte Soldaten und deren Angehörige über den völkerrechtswidrigen Charakter der Kriege im Osten informiert waren und die Kriegsziele teilten. Allerdings wäre es gerade für Nichtfachleute hilfreich gewesen, die im umfangreichen Anmerkungsteil versteckte Literatur in einem benutzerfreundlichen Literaturverzeichnis unterzubringen. So würde es leichter fallen, neben der vergleichenden Analyse von teils schockierenden Quellen, auch mit Hilfe der Forschungsliteratur der intensiv diskutierten Frage nachzugehen, warum gewöhnliche Polizisten, Soldaten und Beamte der Zivilverwaltung in Polen und der Sowjetunion zu Massenmördern wurden.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a.: Rieß, Volker u.a. (Hgg.), "Schöne Zeiten". Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt am Main 1988; Klee, Ernst; Dressen, Willi unter Mitarbeit von Volker Rieß, "Gott mit uns". Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten, Frankfurt am Main 1989; Paul, Gerhard; Mallmann, Klaus-Michael (Hgg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. "Heimatfront" und besetztes Europa, Darmstadt 2000; online Rezension: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=718 (1. Februar 2004)
2 Siehe dazu die Vorstellung des Instituts sowie eine Beschreibung der geplanten Arbeiten unter http://www.uni-stuttgart.de/uni-kurier/uk88/forschung/fw70b.html (27. Januar 2004)
3 Latzel, Klaus, Deutsche Soldaten - nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis - Kriegserfahrung 1939 – 1945 (Krieg in der Geschichte 1), Paderborn 1998; Humburg, Martin, Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtsoldaten aus der Sowjetunion 1941 - 1944, Opladen 1998; Rass, Christoph, "Menschenmaterial" Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939 – 1945 (Krieg in der Geschichte 17), Paderborn 2003.
4 Siehe im Einzelnen den Bericht der Forschungsstelle über eine gemeinsam mit dem Deutschen Historischen Institut Warschau veranstaltete Tagung am 9. und 10. September 2003 unter http://www.uni-stuttgart.de/hi/ng/lb.htm#forschung (27. Januar 2004).
5 So bereits Bartov, Omer, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek 1995, S. 96; zu Polen neuerdings Rossino, Alexander B., Hitler Strikes Poland. Blitzkrieg, Ideology, and Atrocity, Kansas City 2003. Diesen erfahrungsgeschichtlichen Aspekt vernachlässigt nach erster Lektüre m. E. Hartmann, Christian, Verbrecherischer Krieg - verbrecherische Wehrmacht? Überlegungen zur Struktur des Ostheeres 1941 - 1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52.1 (2004), S. 1-75.
6 Buchmann, Wolf, "Woher kommt das Photo?" Zur Authentizität und Interpretation von historischen Photoaufnahmen in Archiven, in: Der Archivar 52.4 (1999), S. 296-306, online unter: http://www.archive.nrw.de/archivar/1999-04/A02.html (28.01.2004); Ders., Das Photo als historische Quelle, in: Der Archivar 52.4 (1999), S. 326f., online unter: http://www.archive.nrw.de/archivar/1999-04/A11.htm (27.01.2004)
7 Ebd., S. 326.

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