K. Frieling: Bürgerliche Körperpraktiken

Titel
Ausdruck macht Eindruck. Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800


Autor(en)
Frieling, Kirsten O.
Reihe
Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 970
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
174 S.
Preis
€ 35,30
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zahlmann, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Kirsten O. Frieling hat ihre 2002 an der Universität Greifswald angenommene Magisterarbeit jetzt im Peter Lang Verlag veröffentlicht. Der Mut der Verfasserin zu diesem nicht selbstverständlichen Schritt hat sich gelohnt. Mit ihren Analysen von bürgerlichen Anstandsbüchern aus der Zeit von 1790 bis 1850 hat sie einen überzeugenden Beitrag zur aktuellen Körpergeschichte vorgelegt. Um jedoch einen negativen Kritikpunkt vorwegzunehmen: Es mag der eigentlichen Aufgabe des Textes als erste wissenschaftliche Qualifikationsarbeit geschuldet sein, dass der Anmerkungsapparat einen übermäßigen Umfang einnimmt. Dass Quellen genannt und Zitate belegt werden, ist selbstverständlich. Aber bei aller Liebe zur quellenkritischen Pedanterie hätte Frieling sich zweifellos gelegentlich etwas mehr Mut nehmen können, ihre einleuchtenden Schlussfolgerungen für sich selbst sprechen zu lassen. Die Lesbarkeit des Textes wurde hier dem Ausweis akademischer Gelehrsamkeit untergeordnet.

In ihrer übersichtlich gegliederten Studie fragt Frieling nach der Bedeutung des Körpers für die Konstituierung und Stabilisierung bürgerlicher Identität um 1800. Auf der Basis von neun Anstandsbüchern, die sich als Ratgebertexte vor allem an junge Männer und Frauen des Bürgertums richteten, analysiert die Verfasserin die in ihnen beschriebenen Körperpraktiken hinsichtlich ihrer normsetzenden und normregulierenden Funktion. In einem ersten Schritt untersucht sie die in diesen Texten entwickelten Körperkonzepte hinsichtlich ihres Stellenwertes als Ausdrucksfläche bürgerlicher Charaktereigenschaften. Das damit eng verbundene distinktive Potential des Körpers wird von Frieling in einem zweiten Schritt präzise bestimmt.

Die Erscheinungsweise des menschlichen Körpers wird bei allen von Frieling untersuchten Autoren als Ausdrucksfläche bürgerlicher Charaktereigenschaften akzentuiert. Sie weist anhand der von ihnen formulierten Hinweise hinsichtlich einer eingeforderten Mimik, Gestik und Körperhaltung nach, dass die “Bürgerlichkeit, wie sie die Autoren in ihren Anstandsbüchern entwerfen, [...] nicht mit der Sozialform Bürgertum” (S. 139) übereinstimmte. Der Unterschied zwischen beiden ist mehr als eine sprachliche Spitzfindigkeit, denn die kulturelle Physiognomie des bürgerlichen Körper sollte ebenfalls eine normative Funktion für den gebildeten Adel übernehmen. Dass das bürgerliche Körperkonzept als Ideal auch für diese Gruppe entworfen wurde, unterstreicht die wachsende Bedeutung des bürgerlichen Wertehorizontes in dieser Zeit. Wird auf der einen Seite durch das Konzept des bürgerlichen Körpers einem möglichen sozialen Aufstieg in den Adel der Weg geebnet, so steht ihm auf der anderen Seite eine strikte Abgrenzung von sozialen Unterschichten gegenüber. Hier zeigt sich zugleich die Widersprüchlichkeit und Künstlichkeit des Ideals eines bürgerlichen Körpers: Würde man “sitzen, stehen und gehen” wie man wolle, fiele man ins “Grobe, Gemeine, Poebelhafte” (S. 119) - und gliche damit etwa der Landbevölkerung, zitiert Frieling Amalie von Wallenburgs “Anstandslehre fuer das weibliche Geschlecht” aus dem Jahr 1824. Gleichzeitig reklamieren die Anstandsbücher jedoch für sich, eine Erziehung zur Natürlichkeit im körperlichen Ausdruck zu verfolgen. Angesichts der strikten Reglementierung und Normierung körperlicher Ausdrucksformen eigentlich ein Widerspruch in sich. Hier gelingt der Verfasserin, die innere Logik der Anstandsbücher nachzuzeichnen, in denen wie selbstverständlich schichtenspezifische Konzepte von Natürlichkeit für Adel, Bürgertum und Unterschichten entworfen werden, die jedoch allein dem bürgerlichen Körper eine “wirkliche” Natürlichkeit zuschreiben.

Die Körpergeschichte ist seit einigen Jahren zu einer festen Größe in der historischen Forschungslandschaft geworden. Es scheint jedoch so zu sein, dass mit diesem populären Etikett eine etwas in die Jahre gekommene Geschlechtergeschichte kosmetisch verjüngt wird. Deshalb ist eine besonders herauszustellende Leistung von Frieling, dass sie trotz einer Quellenlage, die sich für eine geschlechterwissenschaftliche Untersuchung geradezu aufdrängt, eine körpergeschichtliche Perspektive wählt, über alle Analyseschritte hinweg beibehält und hierdurch zu überzeugenden Ergebnissen kommt. Als exemplarisch für die genaue Kenntnis des gegenwärtigen körpergeschichtlichen Forschungsstandes und die Fähigkeit der Verfasserin, sich mit ihrer Arbeit wissenschaftlich zu positionieren, kann der in der Geschlechtergeschichte kontrovers diskutierte Aspekt der Geschlechterhierarchie genannt werden. Hier gelingt es Frieling mühelos, einen Nachweis für ein nichthierarchisches und symbiotisches Geschlechterverhältnis innerhalb des Bürgertums um 1800 zu liefern: Um das Projekt einer gelungenen bürgerlichen Identität auch körperlich zu repräsentieren, waren Männer und Frauen, zumindest in der Logik der Anstandsliteratur, auf die Ergänzung durch das andere Geschlecht angewiesen. Obschon sich in dieser Polarität und der mit ihr verbundenen Äußerlichkeit spätere Dominanzstrukturen ahnen lassen, verliefen die wesentlichen Achsen gesellschaftlicher Machtverteilung, so arbeitet Frieling heraus, in dieser Zeit noch nicht analog zu den Grenzen der Geschlechter. Denn viel entscheidender fällt hier ins Gewicht, dass bei der Strukturierung sozialer Hierarchien selbst vor dem Hintergrund eines idealen, “natürlichen”, bürgerlichen Körper eine Hürde kaum überwindbar schien: Die Zugehörigkeit zu dem Stand, in den man hineingeboren wurde. Die Untersuchung der Anstandsbücher verdeutlicht jedoch, dass eine soziale Modernität, die den Körper als kulturelles Medium nutzte, zunehmend in Konkurrenz zum biologistischen Konzept der Abstammung trat. Mit Sachkenntnis und Urteilssicherheit gelingt es Frieling somit, die Grenzen und Möglichkeiten einer körperhistorischen Analyse von Anstandsbüchern herauszustellen und sich gegenüber den geschlechtergeschichtlichen Gewissheiten zu behaupten.

Kirsten O. Frieling steht ihren Quellen stets kritisch gegenüber. Aus dieser Distanz heraus nimmt sie nicht nur die ihnen immanenten Widersprüche wahr. Sie kann auch problematische Aspekte und nicht zuletzt die nüchterne Einschätzung der in den Anstandbüchern entwickelten Konzepte bürgerlicher Körper selbst unaufgeregt diskutieren. Denn die in den Texten formulierten, nachdrücklichen Forderungen nach Bildung, Verstand, Mäßigung und Natürlichkeit als bürgerliche Kardinaltugenden lassen eben auch auf die Unsicherheiten und Versagensängste der Adressaten ihrer Entstehungszeit schließen, denen durch ein körperliches Ideal ein Halt und eine Orientierung in Zeiten sozialer Umbrüche gegeben werden konnte. Die normative Eindeutigkeit, die durch den bürgerlichen Körper der Anstandsbücher konstruiert wurde, musste sich, so macht die Verfasserin klar, auch in der sozialen Wirklichkeit bewähren können, wollte sie bestehen bleiben.