Ch. Pletzing: Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt

Titel
Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt. Deutscher und polnischer Nationalismus in Ost- und Westpreußen 1830-1871


Autor(en)
Pletzing, Christian
Reihe
Quellen und Studien des Deutschen Historischen Instituts Warschau 13
Erschienen
Wiesbaden 2003: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut, Darmstadt

Gemischtnationale Gebiete sind für die Herausbildung des modernen Nationalismus von besonderer Bedeutung. In den östlichen Teilen Preußens begegneten sich der deutsche und der polnische Nationalismus; die sich vor diesem Hintergrund entwickelnden nationalen Diskurse hatten für die jeweiligen Nationalisierungsprozesse eine entscheidende Rolle. Deshalb ist die Untersuchung der politischen Mentalitäten „an der Grenze“ so wichtig. Es ist gut, dass wir nun Christian Pletzings beeindruckende Berliner Dissertation über den deutschen und polnischen Nationalismus in West- und Ostpreußen vorliegen haben. Diese Region war, kaum minder als die Provinz Posen/Großpolen, für die Herausbildung des deutschen Liberalismus wie des Konservativismus, aber auch der polnischen Nationaldemokratie, ausgesprochen wichtig. Im Zeitraum zwischen 1830 und 1871 verloren das traditionelle Landesbewusstsein und der preußische Staatspatriotismus angesichts der neuen nationalen Leitvorstellungen einen Gutteil ihrer sozialen (oft auch übernationalen), kulturellen und politischen Bindekraft.

Pletzing geht den Nationalisierungsprozessen in Ost- und Westpreußen erstmals vergleichend auf den Grund, erweitert die Forschung zum polnischen Nationalismus 1 und öffnet die Erforschung des deutschen Nationalismus in der Region im Grunde überhaupt erst für die Wissenschaft. 2 Er stützt sich auf den wissenschaftlichen Ertrag der deutschen wie der polnischen Nationalismusforschung, hat umfangreiche Archivstudien getrieben und nach eigenem Bekunden fast 3.500 Zeitungsartikel aus 71 Zeitungen ausgewertet. Die Arbeit ist in drei große, chronologisch geordnete Teile untergliedert. Pletzing zeichnet hier jeweils die wichtigsten Faktoren der Nationalisierungsprozesse nach. Im Vereinswesen erkennt er ein entscheidendes Werkzeug zur Nationalisierung der Massen, obschon die nationale Funktion der Vereine im Untersuchungszeitraum nach Mobilisierungsphasen wie 1848/49 rasch wieder zurückging und das Vereinsleben meist erneut eher von „praktisch-lebensweltliche[n] Motive[n]“ (S. 472) beherrscht wurde. Besonders wichtig war der zu jener Zeit gewaltig anwachsende Pressemarkt, der nicht nur Informationen transferierte –insbesondere in einer vergleichsweise städtearmen Gegend diente er der schichtenübergreifenden Kommunikation –, sondern auch neue Identitäten generierte. Die Bedeutung der Presse für Verbreitung und Rezeption des Nationalismus schätzt Pletzing sehr hoch ein.

Die Konfessionen spielten für die Herausbildung des Nationalismus unterschiedliche Rollen – war der Katholizismus für die (mit Ausnahme der national noch nicht „erweckten“ Masuren) monokonfessionellen Polen Kern nationaler Identität, so kam es auf der gemischtkonfessionellen deutschen Seite zu Differenzen zwischen der meist konservativen (und im Falle der Protestanten pro-preußischen) Geistlichkeit und der nationalen Bewegung; mancher deutsche Katholik war für die antagonisierenden Tendenzen des Nationalismus überhaupt nicht zu gewinnen. Deshalb war die nationale Mobilisierung der Polen 1848/49 in Westpreußen sehr viel erfolgreicher als jene der Deutschen – rund 15.000 Mitgliedern der „Liga Polska“ standen 4.600 Mitglieder deutscher politischer Vereine (Liberale, Demokraten, Konservative) gegenüber (S. 313). Die Juden, kaum verwunderlich, sahen ihre Zukunft in der deutschen Nationalbewegung.

In weiteren Unterabschnitten geht Pletzing auf die Wandlung von Feind- und Fremdbildern (Russland, Frankreich, Preußen) ein und untersucht die Funktionalisierungen der deutschen Polenfreundschaft und deren Wendepunkt zwischen dem großpolnischen Aufstandsversuch von 1846 und den Revolutionsjahren von 1848/49. Damals wurde die Konkurrenz der nationalen Ansprüche gerade in Ost- und Westpreußen sichtbar, zunächst in den tatsächlich gemischtnationalen Gebieten und – hier würde ich dem Autor widersprechen – erst um einiges später in den national unstrittigen Großstädten (Danzig, Elbing, Königsberg). Schließlich fasst Pletzing die Entwicklung der nationalen Vorstellungen von Deutschen und Polen zusammen. Als Fazit hält Pletzing fest, dass nationale Mobilisierung in der Provinz Preußen im Untersuchungszeitraum „fast immer [durch] Impulse von außen und/oder innenpolitische Machtwechsel“ ausgelöst wurden (S. 470). Dabei war weniger die ‚politische Großwetterlage‘, sondern vielmehr die „Gefährdung individueller Interessenlagen“ ausschlaggebend (ebd.). Wichtig waren zudem Generationswechsel und die Existenz „wirkmächtiger Feindbilder“, „die gerade in Krisensituationen als Katalysator des Nationalen wirkten“ (ebd.).

Pletzings aufwendig recherchierte, dichte, aber zugleich konzise und gut lesbare, überall schlüssig argumentierende Arbeit ist ein vorbildliches Beispiel für die vergleichende Nationalismusforschung „an der Grenze“. Manche Fragen, die er nur am Rande streift, könnten eingehender untersucht werden. Eine von ihnen ist die Rolle der Frauen im Prozess der Nationsbildung, die der Autor als „nur ansatzweise“ (S. 312) beschreibt. Außerdem könnten soziale Fragestellungen verstärkt aufgegriffen werden; die Sozialgeschichte West- und Ostpreußens ist für das 19. Jahrhundert in vielen Aspekten nach wie vor wenig erforscht. Schließlich gibt es guten Anlass, die Rolle des ost- und westpreußischen (und posenschen) Nationalismus für den gesamtdeutschen nationalen Diskurs neu zu thematisieren, um so die Konstruktion eines antagonisierenden Topos im Rahmen der Konstruktion des Nationalstaats von einem kulturgeschichtlichen Standpunkt aus zu erhellen.

Anmerkungen:
1 Vgl. v.a. Böhning, Peter, Die Nationalpolnische Bewegung in Westpreußen, 1815-1871. Ein Beitrag zum Intergrationsprozeß der polnischen Nation, Marburg 1973; Wierzchowslawski, Szczepan, Polski ruch narodowy w Prusach Zachodnich w latach 1860-1914 [Die polnische Nationalbewegung in Westpreußen zwischen 1860 und 1914], Wroclaw 1980.
2 Zu manchen Aspekten jüngst Niedzielska, Magdalena, „Was heißt liberal?“ Opozycja polityczna w Prusach Wschodnich w pierwszej polowie XIX wieku (do 1847 r.). Program i dzialalnosc [„Was heißt liberal?“ Die politische Opposition in Ostpreußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (bis 1847). Programm und Aktivitäten], Torun 1998.

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