S. Bollinger u.a. (Hgg.): Deutsche Einheit und Elitenwechsel

Cover
Titel
Deutsche Einheit und Elitenwechsel in Ostdeutschland.


Herausgeber
Bollinger, Stefan; van der Heyden, Ulrich
Reihe
Gesellschaft - Geschichte - Gegenwart 24
Erschienen
Berlin 2002: Trafo Verlag
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Prokop, Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg, Potsdam

Reichlich ein Jahrzehnt nach Herstellung der deutschen Einheit erlangte die Frage, ob die Entscheidung der Regierung Kohl für einen Wandel Ostdeutschlands auf der Basis des exogenen Transformationstyps als optimal angesehen werden kann, immer mehr Aktualität. Der mit diesem Typ verbundene Elitenaustausch schuf in den neuen Bundesländern kulturell-mental ein Problem zwischen Außenseitern (Mehrheit) und Etablierten (Minderheit). Dabei zeigte sich, dass ein politischer Ordnungsrahmen zwar übertragen werden kann, aber die dazugehörende zivile Gesellschaft und politische Öffentlichkeit nicht. Viele offene Fragen und Probleme drängten und drängen nach einer Antwort.

Der inzwischen gewonnene Abstand erlaubt es jetzt offenbar, auch aus der Sicht von Betroffenen den Übergang von der moralischen Verurteilung der Abwicklung zur weiter führenden Sachbeurteilung zu vollziehen. Der vorliegende Band markiert in diesem Zusammenhang eine Zäsur. Die 11 Arbeiten von sieben Autoren sind sowohl individuelle Selbsterinnerung an die Abwicklung aus der Sicht von Opfern, natürlich auch mit Enthüllungsabsichten (Stefan Bollinger, Ulrich van der Heiden, Ingrid Matschenz, Ulrich Busch, Wolfgang Dümcke), als auch Beiträge mit zusammenfassenden Aussagen für einzelne Wissenschaftsdisziplinen. Zu denen gehören die beiden Beiträge von Helmut Steiner zur Sozialgeschichte der DDR-Intelligenz. Sieben Beiträge sind Reprisen, die bereits woanders veröffentlicht worden waren.

Die tragende Studie über "Revolutionsopfer, Kolonialisierungsverluste und Modernisierungsverlierer" wurde von Bollinger verfasst. Er geht über die Sicht von Einzel- und Gruppenschicksalen hinaus und arbeitet heraus, was aus der bisher vorliegenden Literatur bisher an Generalaussagen zur Charakterisierung des Gesamtvorgangs als gesichert angesehen werden kann. Für ihn war der Vorgang ein eher "gesamtdeutscher Verlust" (S. 81), der heute lediglich danach fragen lässt, ob noch Restpotenziale zu retten sind.

Van der Heyden beschreibt in seinem Beitrag die "späte Abwicklung der Afrikawissenschaft der DDR". An Hand eines beeindruckenden empirischen Materials wird belegt, in welch großem Umfange die Geisteswissenschaften zum Verlierer der Einheit gemacht wurden. Bei der Frage der Besetzung der Stellen sei nicht das Können ausschlaggebend gewesen, sondern die Herkunft: "Nicht einmal ein Prozent der neu ausgeschriebenen Lehrstühle im geisteswissenschaftlichen Bereich sind in den vergangenen Jahren mit Professoren besetzt worden, die aus dem Osten kamen." (S. 140f.)

Vilmar referiert ein Gespräch mit Heinz Niemann über dessen autonomen Versuch, im Jahr 1990 ein Seminar über die Theorie der Wirtschaftsdemokratie an der Humboldt-Universität anzubieten. Das Projekt hätte bei der Neuorientierung des "Instituts für Politikwissenschaft" eine Rolle spielen können. In der Zeit des "Beitritts" wurde der Neuansatz unter konservativer Dominanz "plattgemacht". Niemann bemerkt dazu: "Wer nicht um Gnade winselte, würde keinerlei Chance haben. Jetzt versuchte man sich als Versicherungsvertreter oder bemühte sich als Nachwuchswissenschaftler um ein Stipendium in den USA." (S. 166)

Ingrid Matschenz beschreibt, wie "68 Historiker der Berliner Humboldt-Universität ihren Job" verloren. Ausführlich geht sie auf den Eifer ein, den Gerhard R. Ritter und Winfried Schulze an der Spitze der Struktur- und Berufungskommission der Historiker an den Tag legten. Sie würdigt aber auch die Haltung von Karlludwig Rintelen, der die "selbstgerechte Siegeraggressivität" (S. 206), die in einem mittlerweile veröffentlichten "Abwickel"-Gutachten von Hans-Ulrich Wehler zum Ausdruck kam, empört zurückwies.

Ulrich Busch benennt die positiven Traditionen der Wirtschaftswissenschaft an der Humboldt-Universität, die nach 1990 ignoriert und liquidiert wurden: "die Beziehungen zu Osteuropa, die Sprach- und Regionalkenntnisse, die intime Kenntnis der DDR-Ökonomie, die Disziplinen Demographie, Ökologie und Wirtschaftsgeschichte als Lehr- und Forschungsgebiete, der interdisziplinäre wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschungsansatz u.a.m." (S. 215f.).

Die Quintessenz der Analysen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der von Helmut Kohl bevorzugte exogene Transformationstyp sah den Institutionen-, Eliten- und Ressourcentransfer von West- nach Ostdeutschland in einem bisher nicht gekannten Ausmaß vor. Das darin enthaltene Konzept des Elitenaustauschs machte Tausende Wissenschaftler der DDR zu Rentnern, Vorrentnern und Arbeitslosen. Nicht nur die Positionselite wurde deklassiert, auch große Teile der Funktionselite. Lebensläufe, Lebensentwürfe, Qualifizierungen, Leistungen, Berufs- und Bildungsabschlüsse, individuelle und gesellschaftliche Wertorientierungen galten, da in der "zweiten Diktatur" erworben, nur noch als Erblasten. Zwischen Ost und West schob sich eine "geistige Mauer" (S. 7). Viele Ostdeutsche empfanden diese Art der Herstellung der deutschen Einheit als Kränkung. Die negativen Spätfolgen, die dieser Vorgang für das innerdeutsche Gefüge haben wird, sind noch nicht vollständig absehbar.

Der soziale und politische Wandel in den neuen Bundesländern erfolgte durch Außensteuerung, während endogene Faktoren zunehmend an Gewicht gewannen. Das war in der Ära der Globalisierung eine Entwicklung gegen den Trend. Der politische Transformationsprozess verdrängte alles, was die demokratische Volksbewegung im Jahre 1989/90 in der DDR hervorgebracht hatte. Auf den demokratischen Aufbruch von 1989 folgten in Ostdeutschland Apathie und Depression. Das Gegenteil aber hätte sich vollziehen müssen, wenn ein Aufbau Ost tatsächlich zum Erfolg geführt werden sollte.

Bollinger und van der Heyden gehen in dem Vor- und Nachwort zutreffend davon aus, dass der Osten Deutschlands ein neues geistiges Klima braucht. Ohne in der Region verwurzelte und aus ihr kommende Intellektuelle werde es das jedoch nicht geben. Hält die aktuelle Entwicklung an, werden in absehbarer Zeit kaum noch einheimische Wissenschaftler an den Hohen Schulen tätig sein.

Bollinger und van der Heyden greifen aber in ihren Analysen zu kurz, wenn sie sich eine Problemlösung von einem "Rettungsprogramm" für Reste von Sozialwissenschaftlern der DDR erhoffen. Eine Umsteuerung grundsätzlicher Art auf den endogenen Transformationstyp hin, d.h. auf die Entwicklung der autochthon ostdeutschen Potenziale, ist erforderlich, wenn es künftig zu einem selbsttragenden Aufschwung Ost kommen soll. Die Politik, die sich diesbezüglich unter Gerhard Schröder im Vergleich zu Helmut Kohl kaum geändert hat, wird sich früher oder später grundsätzlichen Entscheidungen stellen müssen; denn noch steigt die Summe der unter den gegebenen Bedingungen notwendigen und unabdingbaren Transfers aus dem Westen in die neuen Bundesländer von Jahr zu Jahr.

Kurzlebensläufe der Herausgeber und Autoren schließen den Band ab.

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