H. Roewer u.a. (Hgg.): Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Roewer, Helmut; Schäfer, Stefan; Uhl, Matthias
Erschienen
München 2003: Herbig Verlag
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Stöver, Lehrstuhl Zeitgeschichte, Universität Potsdam

Jeder, der sich schon einmal mit Geheimdiensten beschäftigt hat, weiß, wie schwierig es ist, die vielen Namen, Tarnnamen, Operationen, auch die bewussten Fehlinformationen usw. richtig einordnen zu können, um einigermaßen den Überblick zu wahren. Umso verdienstvoller ist die Herausgabe eines voluminösen "Lexikons der Geheimdienste im 20. Jahrhundert", das vor kurzem im Münchener Herbig-Verlag erschienen ist und Hunderte von interessanten Einträgen verzeichnet. Besonders hinzuweisen ist darüber hinaus auf die Vielzahl von Fotos. Eines belegt die Herausgabe des Lexikons in jedem Fall: Den wahrscheinlich nicht groß genug veranschlagbaren Arbeitsaufwand für ein solches Unternehmen.

Das Lexikon sei ein "Versuch" (S. 5), sagen die drei Herausgeber Helmut Roewer, Stefan Schäfer und Mathias Uhl bescheiden in ihrem Vorwort. Nach "bestem Wissen" und "möglichst nüchtern" 1 (S. 5) werde Auskunft über die Geheimdienste im 20. Jahrhundert gegeben. Allerdings sind sich die Autoren auch sicher, "dass sie in Einzelfällen Irrtümern und Lügen aufgesessen sind" (S. 6). Man könnte ergänzen, dass die Verwendung neu erschienener Literatur (nicht nur aus der angloamerikanischen Produktion, gerade der letzten Jahre) manche der von den Einzelautoren getroffenen Einordnungen und Bewertungen richtig gestellt oder gerade gerückt hätte. Leider wurden die Autoren der einzelnen, in ihrer Qualität höchst unterschiedlichen Artikel nicht namentlich gekennzeichnet. Vorsichtshalber haben die Herausgeber aber bereits in ihrem Vorwort angekündigt, dass man alle Mängel in der zweiten Auflage verbessern werde (S. 6).

Entstanden ist ein höchst gemischtes Lexikon, das sich wohl eher an einen breiteren, eher nicht primär wissenschaftlich interessierten Leserkreis wendet und hier mit Sicherheit und auch zu Recht auf Interesse stoßen wird. Dies natürlich nicht zuletzt deswegen, weil im Gegensatz etwa zum englischsprachigen Büchermarkt, wo Lexika dieser Art mittlerweile häufiger vorgelegt werden, hierzulande nur wenig zu finden ist.

Der Schwerpunkt des Bandes, so der Verlagshinweis, liege auf den deutschen Diensten seit dem Kaiserreich; darüber hinaus finden sich jedoch natürlich viele Hinweise auf ausländische (insbesondere russische/sowjetische oder angloamerikanische) Dienste. Hilfreich sind in jedem Fall die fast 1.500 Bilder und Diagramme, die viele der Artikel ergänzen und den Überblick erleichtern.

Wo die Auswahl der Lemmata bei einem Lexikon beginnt und wo sie endet, bleibt häufig das Geheimnis der Autoren und Herausgeber und ist wohl eher dem subjektivem Empfinden überlassen. Auch in diesem Nachschlagewerk sucht man einen Hinweis, unter welchen Kriterien ausgewählt wurde, vergeblich. Insofern finden sich zum Beispiel die eher minder interessanten Begriffe wie "nützliche Idioten", "Hetze", "Befragung", "Werben" oder gar ein Hinweis darauf, dass der Begriff "Spion" gleichbedeutend sei mit dem Terminus "Agent". Auch Dinge, die nun nicht unbedingt etwas mit dem Geheimdienst zu tun haben, wie zum Beispiel die Morde der so genannten Einsatzgruppen im Zweiten Weltkrieg, werden ausführlich erklärt. Um so rätselhafter, warum dann wichtige Begriffe, die nun zentral für fast ein halbes Jahrhundert Kalter Krieg waren (z.B. "Verdeckte Operationen", aber auch "Rollback"), nicht vorhanden sind.

Auch anderes vermisst man, zum Beispiel, wenn es um die Emigrationszeit vor und nach 1945 geht. Gut, man kann sich darüber streiten, ob etwa die geheimen Informationssammlungen der sozialistisch-sozialdemokratischen Exilorganisationen (z.B. Neu Beginnen, Sopade) in NS-Deutschland Spionage war und somit in einen solchen Band hineingehören. Wenn aber auch Otto Ohlendorf erwähnt wird, der für die so genannten "SD-Berichte" im Dritten Reich verantwortlich zeichnete, so scheint die Aufnahme der NS-Gegner und ihrer Berichte doch nur gerechtfertigt, zumal deren geheime Berichtsserien von der Forschung seit vielen Jahren parallel zu den offiziellen "Meldungen aus dem Reich" benutzt werden. Auch hier gibt es natürlich Kontinuitäten, die man erwähnen sollte: Das "SPD-Ostbüro" nach 1945, das als Begriff im Lexikon auftaucht, orientierte sich in seiner Arbeit eng an den Erfahrungen der Sopade im Dritten Reich.

Das eher mindere Interesse der Herausgeber an den nichtstaatlichen oder auch nichtoffiziellen Gruppen zeigt auch ein weiteres Beispiel: Die USA finanzierten und/oder förderten nach 1945, als der Konflikt mit der Sowjetunion sich deutlich abzeichnete, eine Fülle von offiziellen, halboffiziellen und privaten Gruppen, die im antikommunistischen Kampf überall hinter dem Eisernen Vorhang eingesetzt wurden. Die KgU (Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit) gehörte dazu oder auch der NTS. Beide Gruppen werden im Lexikon in der Tat erwähnt - der NTS allerdings leider in einer falschen Übersetzung. 2

Für den NTS wäre es dann auch wichtig gewesen, etwas über die höchst aufschlussreiche Vorgeschichte der Gruppe im Dritten Reich zu erfahren, weil ohne sie die Geschichte des NTS im Kalten Krieg nur schwer zu verstehen ist. Die US-Stellen waren an der Gruppe nicht zuletzt deswegen so interessiert, weil sie enge Beziehungen zur so genannten Wlassow-Bewegung unterhalten hatte und diese Bewegung in der Frühzeit des Kalten Krieges als "verpasste Chance" der Deutschen im Zweiten Weltkrieg interpretiert wurde. Vergeblich sucht man auch den organisatorischen Zusammenhang mit anderen Gruppen: So arbeitete der NTS z.B. eng mit der KgU in dem vom West-Berliner Magistrat am 13. Mai 1951 konstituierten "Freibund für Deutsch-Russische Freundschaft" zusammen.

Solche Hinweise auf fehlende Querverweise kann man weiter fortsetzen: So sucht man auch die 1952 in München gegründete Gruppe "TsOPE" (auch: "ZOPE") im Lexikon vergeblich. Auch TsOPE ("Zentralverband der Nachkriegsemigranten aus der UdSSR") fusste auf der Tradition der Wlassow-Bewegung. Das könnte völlig nebensächlich sein, wenn TsOPE nicht eine direkte Gründung des amerikanischen "Office of Policy Coordination" (OPC) zur verdeckten Sammlung von antikommunistischen Emigranten gewesen wäre, die dann in Geheimoperationen in der UdSSR und anderen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang eingesetzt wurden. Klassischer Geheimdienstkrieg sozusagen. Merkwürdigerweise ist das OPC wieder im Lexikon vermerkt - wenn auch nur mit sehr kurzen Hinweisen. Für den Zusammenhang hätte man auch in die neue Literatur schauen müssen. 3

Dieses Manko der fehlenden Informationen oder nicht vorhandenen oder höchst pauschal gegebenen Querverweise setzt sich bei anderen Begriffen fort, was schade ist, weil die Literatur zu manchen Termini ja seit Längerem existiert und viele dieser Zusammenhänge längst erforscht sind. Dies trifft im Übrigen nicht nur auf Gruppen oder Operationen zu, sondern gerade auch auf Namen von Agenten.

Ein Beispiel: Horst Hesse war ein MfS-Mitarbeiter, der am Beginn der fünfziger Jahre bei der amerikanischen "Military Intelligence Division" (übrigens nicht: "Military Information Division"), kurz MID, in Würzburg eingeschleust werden konnte. Er entkam 1956 mit MID-Geheimpapieren in die DDR. So weit die Information des Lexikons. Nicht erwähnt wird, dass diese in der "Aktion Schlag" gewonnenen Papiere wiederum eine zentrale Bedeutung bei der kurz darauf folgenden Verhaftung von 140 gegnerischen Agenten in der DDR hatten. Auch wird nicht erwähnt, dass Hesse wahrscheinlich gar nicht die treibende Kraft war, wohl aber zum Vorzeigeagent der DDR gemacht wurde. Treibende Kraft war wohl eher, wie man seit einigen Jahren aus der Auswertung der MfS-Materialien weiß, Hans Wax, einer der schillernsten Mitarbeiter in der "Westarbeit" des MfS, der nicht nur Hesse half, die Papiere in die DDR zu bekommen, sondern zum Beispiel auch 1958 bei der Sprengung des bei den Machthabern im Osten verhassten NTS-Senders in Sprendlingen eingesetzt wurde. Wax kommt im Lexikon aber gar nicht vor.

Ein besonderes Problem bleibt zudem die weiterführende Literatur, auf die in manchen Artikeln hingewiesen wird, in anderen aber nicht. Dabei geht es gar nicht immer um Spezialliteratur, die sich zum Teil sehr leicht ermitteln lassen würde, sondern auch um Standardwerke für zentrale Begriffe (z.B. "Kalter Krieg"). Auch die am Ende des Lexikons zusammengestellte "Benutzte Literatur" ist nur höchst eingeschränkt nützlich. Fremdsprachige Literatur gibt es gar nicht (was manches in den Auslassungen erklärt) und selbst bei den deutschen Titeln fehlen zentrale Arbeiten, während einige Uralttitel hier vermerkt werden.

Zusammengefasst: Ein gut illustriertes Lexikon, das viele interessante Informationen bietet, bei näherem Hinsehen aber - auch wenn man den von den Herausgebern angeführten Einschränkungen folgt - einige gravierende Leerstellen aufweist. Es lohnt sich, diese aufzufüllen.

Anmerkungen:
1 Ob dies in jedem Fall gelingt, wenn man bereits im Vorwort schreibt, "das Ehepaar Rosenberg verschmorte auf dem elektrischen Stuhl" und andere seien "durch Genickschuss erledigt" (S. 5) worden, bleibt dahingestellt.
2 Die offizielle Bezeichnung lautete "Narodno [nicht "Nationalno"] Trudowoj Sojus Rossiyskikh Solidaristov", den man als "Rußländischer Solidaristenbund des Arbeitenden Volkes" übersetzte. Vgl. dazu die als Selbstdarstellung vom Frankfurter Verlag "Possev" herausgegebene, seit den fünfziger Jahren auch in der UdSSR und den USA vertriebene Schrift: "NTS, Bund Russischer Solidaristen". (Diverse Auflagen, hier zitiert aus der deutschen Übersetzung von 1979.) Die englischsprachige Übersetzung hieß abweichend vom deutschen Titel "NTS, Introduction to a Russian Freedom Party", Frankfurt am Main, diverse Auflagen, hier: 1979.
3 Vgl. Bailey, G. u.a., Die unsichtbare Front, Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin, Berlin 1997, S. 548, Anm. 11.

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