H. Best u.a. (Hgg.): Funktionseliten der DDR

Cover
Titel
Funktionseliten der DDR. Theoretische Kontroversen und empirische Befunde


Herausgeber
Best, Heinrich; Hornbostel, Stefan
Reihe
Historical Social Research / Historische Sozialforschung Sonderhelft 28
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Müller, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Sicherlich gab es so manchen paradoxen Effekt infolge des Zusammenbruchs der kommunistischen Gesellschaften Mittelosteuropas. Die Umnutzung des Zentralen Kaderspeichers (ZKDS) des Ministerrates der DDR gehört auf jeden Fall dazu. Aus dem Bedürfnis nach einer "effektiven Nutzung des Arbeitskräftepotentials und zur Rationalisierung der Verwaltung" (S. 85) heraus hatte die Staats- und Parteiführung der DDR in den 70er und 80er-Jahren diese umfangreiche elektronische Datenbank mit letztlich 700.000 erfassten Personen aus Wirtschaft und Verwaltung aufbauen lassen. Ursprünglich war damit also ein Instrument zur Herrschaftsausübung und -sicherung im zentralen Bereich der Kaderpolitik erschaffen worden. Über die Wendewirren hinweg gelang es aber, die Datenbank in die Bestände des Bundesarchivs zu überführen und für die Bedürfnisse der quantitativen Sozialwissenschaften neu zu erschließen, so dass heute eine einzigartige Quelle zur Analyse und Entschlüsselung sozialstruktureller Prozesse der DDR-Gesellschaft vorliegt.

Dieses Ziel verfolgte das DFG-Projekt "Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse in der DDR" im Jenaer SFB 580 unter der Leitung von Heinrich Best und Stefan Hornbostel, dessen Ergebnisse jetzt als Sonderheft der Zeitschrift Historical Social Research/ Historische Sozialforschung veröffentlicht wurden. In den insgesamt zehn Beiträgen des Bandes sollen die Daten des ZKDS für die Elitenforschung zur DDR nutzbar gemacht werden, konkret als Grundlage für eine Rekonstruktion von Rekrutierungsmustern und zur Identifikation von bestimmten Faktoren der Ausdauer und Veränderung bei Funktionseliten in der späten DDR dienen. Methodisch wurden dabei sowohl sektorenübergreifende Vergleichsanalysen als auch zeitliche Verlaufsanalysen von Karrieremuster durchgeführt.

Drei Artikel, die sich mit methodischen Fragen der Quelle ZKDS beschäftigen, seien kurz erwähnt. Ulf Rathje beschreibt die letzen 10 Jahre Archivierungsgeschichte und hierbei vor allem die anhaltenden Probleme mit DDR-Datenbanken im Bundesarchiv (S. 57-72). Dietmar Reny zeichnet die Entstehungsgeschichte und die Funktionen des ZKDS in der DDR nach (S. 73-107) und mit dem Wiederabdruck eines gemeinsamen Beitrags der beiden Herausgeber, Best und Hornbostel, (S. 108-127) aus dem Jahr 1998 werden die methodischen Ausgangsüberlegungen, Probleme und Erwartungen des Projektes beschrieben. Darin betonen die Autoren noch einmal den Wert des Kaderdatenspeichers für historische, sektorale, positionale und sozialstrukturelle Analysen der Eliten in der späten DDR.

Hintergrund des Projektes ist die auf modernisierungstheoretischen Überlegungen bezogene Kontroverse, ob oder inwieweit die Gesellschaft der DDR den grundsätzlichen Prozess der Modernisierung im Sinne einer funktionalen oder zumindest teilfunktionalen Ausdifferenzierung mitvollzogen hat oder ob die DDR nicht vielmehr als "homogenisierte", "durchherrschte" und "entdifferenzierte" Gesellschaft 1 zu beschreiben sei. Die Mitarbeiter des Projektes nehmen sich dieser Forschungsfrage in insgesamt fünf, unterschiedlich angelegten Studien mit den Methoden einer quantitativen Sozialstrukturanalyse an.

Zunächst ist es Hornbostel, der sich in seinem Text (S. 161-186) an der postulierten Existenz einer systemdestabilisierenden "Gegenelite" in der späten DDR abarbeitet. Eine solche Gegenelite könnte, so die Befürworter der These, potenziell in den Bildungseliten der DDR zu finden sein. Hornbostels Thesen sind hier recht eindeutig und überzeugend: Zunächst argumentativ und dann quantitativ-empirisch stellt er fest, dass Mitgliedschaft in der Bildungselite und Parteiloyalität keineswegs ein Widerspruch waren, sondern in hohem Maße miteinander korrelierten. Diese Frage operationalisiert er über Bourdieus Kapitaltheorie, also der Annahme, dass symbolisches Kapital in der DDR in der Form des ausgeprägten Auszeichnungswesens von hoher Bedeutung für den Karriereverlauf war. Hier kann er aufzeigen, dass genau die Gruppe der "demokratischen Gegenelite", nämlich Personen mit höherem Bildungsabschluss, "keineswegs relativ privatisiert, sondern im Gegenteil relativ bevorteilt waren" (S. 183).

Im Aufsatz "'Du und deine Elite!' Leitungskader im Elektroniksektor der DDR-Industrie zwischen fachlicher Qualifikation und politischer Loyalität" (S. 187-216) stellt Axel Salheiser eine branchenspezifische Studie vor. Er zeigt für den Sektor der Elektronikindustrie der DDR auf, dass vertikale soziale Mobilität sowohl in besonderem Maße von politischer Loyalität wie auch von hoher fachlicher Qualifikation abhängig war.

In einer dritten Teilstudie (S. 216-246) führt Ronald Gebauer einen Vergleich zwischen den Sektoren Regierung/ Zentrale Staatsorgane und Binnenhandel durch und fragt nach den Faktoren, die sektorenspezifisch die Karriere-Mobilität des jeweiligen Leitungspersonals bestimmten. Gebauers Ergebnisse bestätigen erstens die funktionale Differenzierung: Qualifikation durch jeweils auf das Aufgabengebiet zugeschnittene Abschlüsse war für beide Bereiche wichtig (S. 240f.). Zweitens war die SED-Loyalität mit unterschiedlicher Gewichtung für beide Sektoren von hoher Bedeutung (S. 241f.). Drittens hatten Frauen nicht die gleichen Karrierechancen wie Männer (S. 242) und schließlich viertens wird die auf Heike Solga 2 zurückgehende These des blockierten Generationentausches bestätigt (S. 243).

Die vierte Einzelstudie (S. 247-269) stammt aus der Feder von Anne Goedicke und vergleicht den Beschäftigungsverlauf von zwei Gruppen der DDR-Eliten nach der Wende, zum einen die "hochqualifizierten Angestellten ohne Leitungsverantwortung", also Fachexperten, und zum anderen "ehemalige Leitungskader". Hierfür hat sie Interviews der ostdeutschen Lebensverlaufsstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Berlin ausgewertet. Gemeinsam ist beiden Gruppen eine vergleichbar privilegierte Beschäftigungsaussicht in der Nachwendezeit. Im direkten Vergleich stehen aber Fachkräfte besser als Leitungskader da, was aber, so Goedicke, nicht an einer möglichen Systemnähe liege, sondern mit der niedrigeren Zahl von Hochschulabschlüssen bei ehemaligen Leitern zusammenhänge (S. 264f.). Offenbar gelang es, den Wert von Berufszertifikaten auch über den Systemwechsel hinweg zu retten. Außerdem kann eine Diskriminierung von Frauen in ihren Nachwendekarrieren beobachtet werden.

Schließlich ist es Heinrich Best, der in seinem Aufsatz "Sozialismus in der DDR: ein Feldexperiment mit paradoxalem Ergebnis" (S. 128-160) eine sektorenübergreifende Teilpopulation, nämlich die funktional oberen 170.000 Kader aus insgesamt 14 Sektoren der DDR, herausgreift und nach funktionaler Differenzierung in der Elitenrekrutierung und Veränderungen in der Kohortenfolge fragt (S. 132). In einer Korrespondenzanalyse wird hier der Einfluss von Nähe zur Machtordnung, Bildungsstatus, Geschlecht und soziale Herkunft untersucht. Im Ergebnis zeigt sich, "dass die Funktionseliten der DDR keineswegs 'homogenisiert', sondern hochdifferenziert waren, [...] Auch die These der 'Durchherrschung' wird dem Strukturmuster, das sich in unseren Analysen offenbart, nicht voll gerecht. Zwar war die 'Machtnähe' eine Hauptdifferenzierungslinie innerhalb der DDR-Funktionselite, doch ist sie gerade deshalb als Gradient zu behandeln, der die Funktionsbereiche nach dem Grad und der Art ihrer Machtanbindung schied" (S. 149). Daneben zeigt sich in der Generationenfolge eine abnehmende Bedeutung des Bildungsstatus und eine zunehmende Bedeutung der Faktoren Machtordnung, soziale Herkunft und Geschlecht. Best präsentiert in seiner sektorenübergreifenden Analyse ähnliche Ergebnisse wie die andere Autoren in ihren Einzelstudien. Trotzdem warnt Best davor, darin voreilig den Beleg für "teilsystemische Autonomie und Eigenrationalität" zu sehen. Denkbar wären auch bewusst geplante Differenzierungsmuster einer effektiven SED-Kaderpolitik. Insgesamt neigt aber auch Best dazu, von "ungeplanten Effekten der Alterung eines staatssozialistischen Systems" auszugehen (S. 150). Im Ergebnis war also die DDR-Gesellschaft, deren Gründungsanspruch ja auf die Abschaffung von ökonomisch erzeugter Ungleichheit abzielte, zumindest in ihrer Spätphase eindeutig eine Ungleichheitsordnung.

Den empirischen Studien gehen schließlich zwei allgemeine Artikel zum Thema des Bandes voran. Frank Ettrich setzt sich in seinem Text "Differenzierung und Eliten im Staatssozialismus" (S. 31-56) mit dem bisherigen Forschungsstand auseinander. Wichtig scheint der Hinweis, dass bei der Erforschung der Eliten in kommunistischen Gesellschaften zum einen nicht vergessen werden darf, dass der Marxismus-Leninismus erstens "als Politische Ideologie, als Bewegung und als System" historisches Neuland betrat: Dazu gehörten das Primat der Politik über die Ökonomie sowie der Einsatz der Ideologie und die Erfindung des Organisationstypus der Kaderpartei (S. 39). Zweitens betont Ettrich den Charakter der sowjetischen Eliten als Parteieliten, die damit also "Organisationseliten waren, deren Rekrutierung, Elitenstatus und Niedergang völlig von der institutionellen Struktur des Parteistaats abhing" (S. 40). Ettrich würdigt vor diesem Hintergrund die Ergebnisse des Jenaer Projektes ausdrücklich, kritisiert aber, dass es sich die Autoren zu leicht machten, wenn sie sich nur an einer stark vereinfachten Version der Entdifferenzierungsthese Meuschels abarbeiten. Er verteidigt stattdessen die Annahme, "dass es sich bei den Gesellschaften sowjetischen Typs um - zumindest zeitweise oder parziell - entdifferenzierte Gesellschaften gehandelt habe" (S. 43), die institutionenanalytisch ein "Bild der Entdifferenzierung, Fusion und Institutionen-Armut" bieten und deshalb in vielerlei Hinsicht "eine desorganisierte und dysfunktionale Gesellschaft" waren (S. 45). Ettrich sieht die Jenaer Ergebnisse eher als Bestätigung für Meuschels Annahme eines "Wechselspiels zwischen Entdifferenzierung und Redifferenzierung" (S. 47). Wegen dieser Dysfunktionalitäten waren die sowjetischen Gesellschaften "in wachsendem Maße auf systemfremde Anpassungsstrategien (Fremdlogiken) angewiesen, um zu überleben" (S. 48).

Schließlich enthält der Band noch Überlegungen von Detlef Pollack "Auf dem Weg zu einer Theorie des Staatssozialismus" (S. 10-30). Ihm ist zuzustimmen, wenn er die Isolation dieses Forschungsgebietes gegenüber verwandten Feldern als auch ihre fehlende theoretische Einbindung beklagt. Hier kritisiert er vor allem totalitarismustheoretische Ansätze, die lehren, "in welche Sackgassen man gerät, wenn der Begriff die inhaltlichen Bestimmungen, die zur Kennzeichnung einer Sache zu entwickeln sind, selbst schon enthält und Außenperspektiven nicht einbezieht" (S. 12). Aus seiner systemtheoretischen Sicht verlangt Pollack stattdessen, "die Modernisierungstheorien auf ihre Eignung als universelle Gesellschaftstheorie zu überprüfen und für die Analyse der Funktionsmechanismen und Konstruktionslinien staatssozialistischer Systeme fruchtbar zu machen" (S. 12). Als Merkmale moderner Gesellschaften nennt er erstens die Umstellung sozialer Differenzierung auf funktionale Differenzierung (S. 14), zweitens die außerordentlich hohe Lernfähigkeit und damit zusammenhängend die Fähigkeit zu ihrer eigenen Änderbarkeit (S. 18) sowie drittens eine wachsende Ebenendifferenzierung, also das Auftauchen intermediärer Organisationen und Institutionen (S. 22). Alle drei Eigenschaften dienen letztlich der Leistungssteigerung des Systems. Pollack sucht nun diese Merkmale in der DDR-Gesellschaft und stellt in allen Punkten defizitäre Strukturen fest: Man findet erstens ein Nebeneinander von politischer Homogenisierung und funktionaler Differenzierung, zweitens einen eingeschränkten Wettbewerb institutioneller Lösungen und kaum Leistungsanreize, woraus sich schließlich eine sinkende Anpassungsbereitschaft der Menschen ergab, und drittens waren intermediäre Ebenen vom uneingeschränkten Herrschaftsanspruch der SED durchdrungen. Stattdessen wurden ihre Funktionen notdürftig von informellen Netzwerken, Ersatzinstitutionen und Beziehungen übernommen. Ein solcher Vergleich führt die DDR letztlich nur als unvollkommene, leistungsschwache und gehemmte Gesellschaft vor. Hier liegen auch die Defizite eines solchen modernisierungstheoretischen Ansatzes, denn die z.B. bei Ettrich beschriebene Neuartigkeit und Eigendynamik staatssozialistischer Systeme können so kaum gewürdigt werden und es erscheint fragwürdig, welchen Erkenntnisfortschritt ein solcher theoretischer Ansatz bringen mag.

Insgesamt bietet der Band ein interessantes, breites und inhaltlich eng verknüpftes Spektrum an Beiträgen zum Komplex Funktionseliten in der späten DDR. Die empirischen Befunde auf der Basis des ZKDS bestätigen letztlich existierende Thesen zu gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen in der DDR. Die zusätzlichen Texte von Pollack und Ettrich umreißen recht gut den weiteren Forschungszusammenhang, in dem das Projekt steht, verweisen auf Defizite der DDR-Forschung, und vor allem Ettrich macht auch die Grenzen des gewählten Ansatzes explizit. Insofern haben die Autoren die kritische Würdigung ihrer Arbeiten schon fest in den Band integriert. Letztlich bleibt noch kritisch anzumerken, dass die verwendeten Schaubilder und Grafiken drucktechnisch leider schlecht wiedergegeben sind, was die Lesbarkeit an dieser Stelle deutlich erschwert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Meuschel, Sigrid, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt am Main 1992; Kocka, Jürgen, Eine durchherrsche Gesellschaft, in: Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen; Zwahr, Helmut (Hgg.), Eine Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553.
2 Vgl. Solga, Heike, Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlage und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995.

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