M. Ley: Kleine Geschichte des Antisemitismus

Cover
Titel
Kleine Geschichte des Antisemitismus.


Autor(en)
Ley, Michael
Erschienen
München 2003: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
164 S.
Preis
€ 11,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Owzar, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Was verspricht sich der Historiker von einem Buch, das der Verlag auf dem Buchrücken als „ebenso kompakte wie sachkundige Gesamtdarstellung der Thematik“ Antisemitismus anpreist? Sicherlich eine Begriffsklärung: was unter Antijudaismus, Antisemitismus und Antizionismus zu verstehen ist; welche Varianten der Antisemitismus aufweist, was den gebundenen vom ungebundenen, den alltäglichen vom eliminatorischen Antisemitismus unterscheidet. Mehr denn je stellt sich auch die Frage, welcher Zusammenhang zwischen antisemitischem Denken und antisemitischem Handeln besteht. Darüber hinaus sollte man einen Überblick über die Judenverfolgung erwarten, insbesondere über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik (unter Berücksichtigung der aktuellen Forschungskontroversen).

Alle diese Erwartungen erfüllt Michael Leys Kleine Geschichte des Antisemitismus nicht. Vielmehr handelt es sich um einen Essay, der den historischen Wurzeln des seit Mitte des 19. Jahrhunderts gegen Juden gerichteten Rassismus nachgeht. Ley zufolge setzt dieser sich aus drei Komponenten zusammen: aus einen messianisch-gnostischen Denken, das die Erlösung der Welt in Aussicht stellt und damit den Weg für eine Rückkehr zur Opfertheologie ebnet, verbunden mit einer Judenfeindschaft, die sich durch zweitausend Jahre abendländischer Geschichte zieht.

Diese drei Wurzeln des Antisemitismus versucht Ley mittels eines Längsschnittes durch die Geschichte des „christlichen Okzidents“ offen zu legen. Zunächst beschreibt er den Ursprung der gnostischen Mythologien in Spätantike und Frühchristentum (S. 29-39), um dann deren Rezeption, angereichert um opfermythische und judenfeindliche Vorstellungen, nachzuzeichnen. Die Ahnenreihe, die Ley dabei aufmacht, reicht von Paulus, der dem christlichen Antijudaismus den Boden bereitet habe, über Joachim di Fiore, den „Vorläufer des modernen totalitären Denkens“ (S. 62), bis zu Luther, den „Propheten der Vernichtung“ (S. 63). Ley wörtlich: „Wird nun der lutherische Antijudaismus seines theologischen Gehalts entledigt und durch politisch-religiöse bzw. rassistische Argumente substituiert, kann er zum Vorbild für den modernen Antisemitismus werden. Somit ist Luthers antijüdische Hetze der Ausgangspunkt des modernen ,Antisemitismus‘“ (S. 69). So aussagekräftig Leys Belege für Luthers Antijudaismus auch sind: Die daraus gezogene Conclusio ist insofern problematisch, als sie sich einer teleologisch ausgerichteten Betrachtungsweise verdankt, die nur eine Einbahnstraße nach Auschwitz offen lässt.

Besonders holzschnittartig gerät Ley die Skizze zur Aufklärung. Auch wenn der Vorwurf an Voltaire und andere, die Vernunft in den „Dienst der Erlösung“ zu stellen (S. 73), nicht von der Hand zu weisen ist: Es ist die Aufklärung, die der Toleranz wie der Emanzipation (nicht nur) der Juden den Weg bereitet hat. Dass die diesen Prinzipien verpflichtete Revolution von 1789 eine strikte religionspolitische Neutralität des Staates durchsetzte, war aus Sicht mancher Juden sicherlich von Nachteil. Schließlich war damit auch ein Verlust jüdischer Autonomie verbunden. Allerdings gewährleistete gerade die damit einhergehende Gleichstellung der Glaubensgemeinschaften erst die Gleichberechtigung und Integration der Juden in eine heterogen und pluralistisch konzipierte Gesellschaft. Ley sieht das anders: Die Aufklärung habe „die Bürger in homogene Individuen verwandeln“ wollen. Die Eingliederung der Juden in die neue Gesellschaft habe „die Aufgabe ihrer religiösen und ethnischen [sic!] Besonderheit zugunsten eines homogenen Staatsbürgers“ verlangt (S. 76). Nur ganz wenige Aufklärer nimmt Ley von dieser ebenso pauschalen wie missverständlichen Kritik aus, namentlich die Vertreter der jüdischen Aufklärung. Den nichtjüdischen Aufklärern unterstellt er dagegen in unzulässiger Verallgemeinerung, die Integration der Juden „in eine postchristliche Welt aufgeklärter Gesellschaften“ verhindert zu haben. Wörtlich heißt es: „Weder die vermeintlich christlichen Aufklärer noch ihre religionskritischen Mitstreiter konnten ihre religiösen Schlacken antijüdischer Einstellungen abstreifen. Juden wurden als Fremde, als die ,Anderen‘ angesehen; die religiöse Differenz konnte von den nicht-jüdischen Aufklärern nicht überwunden werden“ (S. 82).

Wohin eine solche eindimensionale Perspektive führen kann, demonstriert das Kapitel zur Romantik. Deren Projekt einer Romantisierung der Gesellschaft sei „der gigantische Versuch, eine Gesellschaft in ein Gesamtkunstwerk zu transformieren, das letztlich in Auschwitz endete“ (S. 85). Als Zwischenglied identifiziert Ley den Nationalismus („Nationalismus und Antisemitismus sind als historische Phänomene zwei Seiten einer Medaille“ (S. 103)). Auf den Konnex von Antimodernismus, Emanzipation und Judenfeindschaft, auf die Funktion des Antisemitismus als kultureller Code, wie es Shulamit Volkov beschrieben hat 1, lenkt er sein Interesse dagegen nicht.

Leys Fokus bleibt die Trias von Gnosis, Opfermythos und Judenfeindschaft. Dass alle drei Elemente auch in der Sowjetunion unter Stalin, wenn auch in ganz unterschiedlicher Ausprägung, zu beobachten sind, verleitet Ley zu der befremdlichen Parallelisierung von Bolschewismus und Nationalsozialismus: Der Bolschewismus erweise sich „als welterlösender russischer Nationalismus, der im deutschen Nationalsozialismus einen feindlichen Zwillingsbruder“ gehabt habe (S. 143).

So einseitig, bisweilen sogar widersprüchlich 2 die Ausführungen im Einzelnen sind und so fragwürdig die These als Generalschlüssel ist, Ley lenkt den Blick auf einen Aspekt, der oft vernachlässigt wird, dass es nicht nur eine Tradition antijüdischen Denkens gibt, die dem Antisemitismus eine Basis schuf, sondern dass das antisemitische Denken auch von einer jahrhundertelang betriebenen Propagierung und Internalisierung manichäischer Denkmuster profitierte. Um die Juden als kollektiven Erzfeind zu identifizieren, bedurfte es tatsächlich einer Weltsicht, die von einem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse ausging. Freilich wurde dieses Muster nicht nur gegenüber Juden, sondern auch gegenüber anderen Andersdenkenden und Andersgläubigen aktiviert. Das lenkt den Blick auf die methodische Vorgehensweise von Ley. Denn gerade weil gnostisches Denken, Opfermythos und Judenfeindschaft eine Signatur des Abendlandes bildeten, stellt sich die Frage, warum der politische Antisemitismus in Deutschland eine ganz andere Popularität entfaltete als in den Niederlanden und warum der gesellschaftliche Antisemitismus in Frankreich und den USA viel stärker ausgeprägt war als in Großbritannien. Offensichtlich also reicht Leys Erklärungsansatz nicht aus.

Problematisch ist zudem die Beweisführung über den Verlauf der Rezeptionsströme. Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, dass Ley über eine gut sortierte Datenbank einschlägiger Zitate antijüdisch und antisemitisch gesinnter Denker verfügt. Um die Wirksamkeit eines mehr als zweitausend Jahre alten Denkens zu belegen, bedarf es freilich mehr als nur einer Aneinanderreihung aussagekräftiger Zitate prominenter Denker. Dort, wo es möglich ist, sollte man vom Höhenkamm intellektueller Produktion möglichst weit in die Niederungen kollektiven Denkens herabsteigen – ein Verfahren, das spätestens seit dem 18. Jahrhundert praktizierbar ist, wie es nicht zuletzt aktuelle Projekte beweisen.3

Hinzu kommt, dass das Verfahren philologischen Ansprüchen nicht immer genügt. Denn oftmals zieht Ley nicht die Originale heran, sondern zitiert nach anderen Darstellungen. Nicht nur, dass man sich so einer Überprüfung des Kontextes entzieht, aus dem das Zitat gerissen worden sein könnte, auch die Gefahr, etwaige Flüchtigkeitsfehler festzuschreiben, steigt dadurch an. Wie schnell sich beim Zitieren solche Fehler einschleichen können, kann man im Übrigen dem Buch an einer Stelle selbst entnehmen. So ist es dem Lektorat offensichtlich entgangen, dass eine Passage aus einem Brief Dostojewskis gleich zweimal und zwar mit leichten Abweichungen zitiert wird (nach Poliakov, auf S. 107f. und S. 140).

Irritierend ist auch, dass sowohl Quellen als auch Forschungen recht ausführlich wiedergegeben werden. Manche Zitate erstrecken sich über mehr als eine halbe Seite – ein Verfahren, dass der Verfasser insbesondere im Kapitel über „Totalitären Sowjetkommunismus und Antisemitismus“ praktiziert (S. 133-147). Die Zitaten-Collage macht hier mehr als die Hälfte des Haupttextes aus. Zudem geht Ley bei der Auswahl höchst einseitig vor. In seinem Kapitel über „Die Apokalypse im nationalsozialistischen Deutschland“ (S. 113-131) widmet er den Funktionalisten gerade einmal zwei Sätze. Sie lauten: „Alle Thesen über den ,schwachen Diktator‘ sind nicht überzeugend. Seine Politik erscheint nur auf den ersten Blick unter Umständen inkonsistent.“ (S. 113) Um welche Thesen genau es sich dabei handelt und wer sie vertritt, das erfährt der Leser nicht. Diese selektive Wahrnehmung schlägt sich auch in dem schmalen, Quellen und Forschungen nicht getrennt aufführenden Literaturverzeichnis nieder (S. 159-164). ,Vordenker‘ des modernen Rassismus sind hier ebenso wenig aufgeführt 4 wie sozialwissenschaftliche und sozialpsychologische Beiträge der Antisemitismusforschung. 5 Vergeblich sucht man auch nach zahlreichen Standardwerken der Geschichtswissenschaft zum Antisemitismus und Rassismus. 6 Selbst einschlägige Monografien zum Holocaust 7 oder zum Verhältnis zwischen Christentum und Antisemitismus bzw. Nationalsozialismus 8 tauchen nicht auf.

Einige der hier genannten Kritikpunkte fielen nicht so schwer ins Gewicht, wenn der Text als das ausgewiesen wäre, was er ist: als ein Essay über die ideengeschichtlichen Wurzeln des Antisemitismus, der durchaus diskussionswürdige Thesen enthält. Um indes dem offensichtlich wachsenden Verlangen der Leserschaft nach schmalen Gesamtdarstellungen gerecht zu werden, bedarf es mehr als nur einer steilen, im Schnelldurchlauf durch die europäische Geistesgeschichte abgespielten These.

Anmerkungen:
1 Vgl. Volkov, Shulamit, Antisemitismus als kultureller Code, in: Ders., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 13-36.
2 Wenn etwa im ersten Kapitel dem jüdischen Monotheismus die „Verwerfung der Opferrituale“ und die „Hinwendung zu einer opferbereinigten Religion“ als „größte theologische Revolution“ angerechnet wird (S. 26), in Nachwort hingegen das Abführen von Aggressionen „im Akt der religiösen Opferung“ als allgemein menschliches Verhaltensmuster beschrieben und die „Verflechtung von Religion und Gewalt“ als „anthropologische Gemeinsamkeit der Menschheit“ ausgewiesen wird (S. 156f.).
3 Siehe etwa die Beiträge für das von Rolf Reichardt u.a. herausgegebene Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, München 1985ff.
4 Nicht einmal besonders populäre Werke aus dem ,Kanon‘ rassistischer Texte tauchen hier auf: wie Joseph Arthur Graf von Gobineaus Essai sur l'inégalité des races humaines (zuerst 1853/55), Eugen Dührings Buch über Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (zuerst 1881) oder Alfred Rosenbergs Mythus des XX. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit (1930). Auch Wilhelm Marr, der den Begriff ‘Antisemitismus‘ geprägt hat, findet im Text keine Erwähnung. Zur Vorgeschichte, Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland siehe den nach wie vor empfehlenswerten Abriss von Graml, Hermann, Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), München 1988, hier S. 38-107.
5 Nicht einmal auf klassische Texte, wie sie der von Ernst Simmel herausgegebene Band Antisemitism. A Social Disease, New York 1946 vereint hat, wird Bezug genommen.
6 Nur eine kleine Auswahl der nicht zur Kenntnis genommenen Standardwerke: Berding, Helmut , Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988; Geiss, Immanuel, Geschichte des Rassismus (NHB), Frankfurt am Main 1988; Herzig, Arno, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997; Jochmann, Werner, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870-1945 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 23), Hamburg 1988; Mosse, George L., Die Geschichte des Rassismus in Europa, aus dem Englischen von Elfriede Burau und Hans Günter Holl, Frankfurt am Main 1990.
7 Weder aktuelle Überblicksdarstellungen wie Longerichs, Peter, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998 noch instruktive Beiträge zur Täterforschung wie Brownings, Christopher, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon und die „Endlösung“ in Polen, aus dem Englischen von Jürgen Peter Krause, Reinbek 1996 wurden berücksichtigt.
8 Siehe etwa die neueren Studien von Altermatt, Urs, Katholizismus und Antisemitismus. Mentalitäten, Kontinuitäten, Ambivalenzen. Zur Kulturgeschichte der Schweiz 1918-1945, Frauenfeld 1999; Blaschke, Olaf, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 122), Göttingen 1999; Gailus, Manfred, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin (Industrielle Welt 61), Köln 2001.

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