F. Cople Jaher: The Jews and the Nation

Cover
Titel
The Jews and the Nation. Revolution, Emancipation, State Formation, and the Liberal Paradigm in America and France


Autor(en)
Cople Jaher, Frederic
Erschienen
Anzahl Seiten
295 S.
Preis
$45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Brinkmann, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Leipzig

Es wird gelegentlich vergessen, dass die Freiheitsstatue im New Yorker Hafen, eines der wirkungsmächtigsten Symbole des Einwanderungslandes Amerika, selbst eine „Einwanderin“ ist. 1886 schenkte das französische Volk die Statue den Amerikanern, um an die engen amerikanisch-französischen Beziehungen während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zu erinnern. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Französische Republik verbindet tatsächlich vieles. Beide sind Staatsnationen und aus einer Revolution hervorgegangen. Und beide vertreten basierend auf ihren Verfassungen und revolutionären Kerntexten wie der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nach außen und innen einen aus den Idealen der Aufklärung abgeleiteten universellen Anspruch, der weit über ihre Grenzen hinaus Anklang gefunden hat. Indes, vieles trennt die USA und Frankreich: Die Revolutionen selbst sind kaum vergleichbar, vor allem weil sich die entscheidende Frage der Souveränität völlig unterschiedlich stellte. Dieser entscheidende Unterschied bestimmte maßgeblich Verlauf und Nachgeschichte der Revolutionen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten.

In der vorliegenden Studie lotet Frederic Cople Jaher, der amerikanische Geschichte an der University of Illinois lehrt, am Beispiel der Integration der Juden in den USA und Frankreich den „liberalen“ Charakter der beiden Systeme in ihrer revolutionären Phase (zwischen 1775 und 1815) aus und vergleicht damit zwei liberale Modelle der Staatsnation westlichen Typs im Hinblick auf ihren Umgang mit Differenz. Ein klassischer Schlüsseltext ist in diesem Zusammenhang Alexis de Tocquevilles „De la democratie en Amerique“ bzw. „Democracy in America“ (1835/1840). Der Begriff des amerikanischen Exzeptionalismus geht auf den französischen Adligen zurück, dessen bis heute einflussreiche Studie sich als impliziter amerikanisch-französischer Vergleich lesen lässt.1 Die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Tocqueville-Rezeption bildet den Kern der vorliegenden Studie. Das Ergebnis von Jahers Vergleich – in den USA konnte sich im Gegensatz zum etatistisch geprägten Frankreich ein dynamischer religiöser bzw. kultureller Pluralismus entwickeln – ist keine große Überraschung.

Die amerikanische Revolution hatte im Gegensatz zur französischen keine anti-klerikale Stoßrichtung. In den USA entwickelte sich ein dynamischer religiöser Pluralismus, dessen Wurzeln in der Kolonialzeit liegen. Bemerkenswert ist die partielle Transformation des religiösen in einen kulturellen bzw. ethnischen Pluralismus schon im 19. Jahrhundert. Gerade die amerikanisch-jüdische Erfahrung erwies sich als paradigmatisch für diese Umformung. In Frankreich, ebenfalls das Ziel zahlreicher Einwanderer mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Traditionen, hat sich kein mit den USA vergleichbarer Pluralismus entwickeln können, unter anderem weil der Staat gegenüber der Gesellschaft eine viel dominantere Rolle spielte. Der aktuelle „Kopftuchstreit“ illustriert, dass in Frankreich das Verhältnis des laizistischen Staates zu Religion und Ethnizität hochbrisant ist.

Jaher argumentiert durchaus überzeugend, dass sich jüdische Geschichte als sensibler Gradmesser dieser historischen Entwicklung anbietet. Die Stellung der Juden und ihre Behandlung durch die beiden neuen Staaten ist tatsächlich aufschlussreich, handelte es sich doch um eine Gruppe, deren Mitglieder als Nicht-Christen rechtlich Ende des 18. Jahrhunderts diskriminiert und marginalisiert waren, allerdings auch über lange Tradition einer (begrenzten) rechtlichen und religiösen Autonomie verfügten.

Schon die Gliederung deutet an, dass Jahers Studie unausgegoren ist. Die Argumentation ist häufig nicht stringent und langatmig, was die Lektüre erschwert. In der überlangen Einleitung streift Jaher die eigentliche Fallstudie – den Vergleich der Emanzipation der Juden – nur kurz, um dann auf 25 Seiten in einer umständlichen Argumentation einen theoretischen Rahmen zu präsentieren, in den er die Fallstudie stellen will. Jaher bezieht sich dabei auf die Rezeption von Tocquevilles „Democracy in America“ und vor allem auf die klassische Studie „The Liberal Tradition in America“ des amerikanischen Politologen Louis Hartz (1955).2 Hartz’ zunächst einflussreiches Konsensus-Modell war schon in den 1960er-Jahren der Kritik ausgesetzt, u. a. weil er wichtige Fragen wie Sklaverei, Rassismus und die Benachteiligung von Frauen in seiner Argumentation nur am Rand berücksichtigt hatte. Im zweiten Teil der Einleitung analysiert und vergleicht Jaher die Bedeutung des Nationen-Begriffes für Frankreich und die USA. Der für den Untersuchungsgegenstand so wichtige Prozess der inneren Nationalisierung im Frankreich der Dritten Republik, den Eugen Weber in seiner klassischen Studie „Peasants into Frenchmen“ beschrieben hat, wird nicht erörtert. 3

In den Kapiteln 3-5 folgt die eigentliche Fallstudie: Die Behandlung der „jüdischen Frage“ während der Französischen Revolution und unter Napoleon sowie die vergleichsweise unspektakuläre Erfahrung der (sehr wenigen) amerikanischen Juden zwischen 1775 und 1815. Da die jüdische Emanzipation für Frankreich ebenso gut erforscht ist wie die frühe amerikanisch-jüdische Geschichte, bleibt letztlich unklar, warum Jaher die historischen Ereignisse an dieser Stelle ausführlich ausbreitet.4 Das Ergebnis ist bekannt: Die wenigen amerikanischen Juden wurden nicht förmlich emanzipiert, sie waren schon vor der Revolution weitgehend gleichberechtigt. Das amerikanische Modell basiert auf einer tief verwurzelten Tradition gesellschaftlicher Diversität und einem vergleichsweise schwachen Staat. Die französischen Juden dagegen wurden 1790/91 nach durchaus kontroversen Diskussionen in der Nationalversammlung vollständig emanzipiert – als Individuuen. Die religiösen Strukturen wurden zerschlagen, unter Napoleon wieder restituiert, jedoch unter staatlicher Kontrolle. Das französische Modell orientiert sich am Ideal gesellschaftlicher Homogenität, über die ein interventionistischer Staat wacht. In der 60-seitigen „Conclusion“ geht Jaher auf die auch aus seiner Sicht berechtigten Schwächen des Hartz-Models ein, etwa im Hinblick auf die Behandlung der (versklavten) Afro-Amerikaner (auch durch Frankreich am Beispiel Haitis) und der indianischen Ureinwohner, auch auf den Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht. Daran schließt sich ein Ausblick auf die Gegenwart an. Jahers Resümee ist wenig überraschend, das amerikanische Modell war im Hinblick auf gesellschaftliche Freiräume erfolgreicher, wenn auch nicht ohne Schattenseiten. Hier stellt sich indes die Frage nach dem Sinn eines Vergleiches mit den USA bzw. nach der Definition des amerikanischen Exzeptionalismus.

Problematisch ist, dass die Fallstudie (jüdische Emanzipation) und Jahers Diskussion des Hartz-Models in der Einleitung bzw. im Schlussteil stark auseinanderklaffen. Jaher vertieft den Begriff der Zivilreligion nicht. Ein bis in die Revolutionszeit zurückreichender Vergleich dieses Konzeptes wäre für seine These, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer anderen klassischen Studie aus den 1950er-Jahren, Will Herbergs „Protestant, Catholic, Jew“, aufschlussreich. 5 Zu diskutieren ist aber vor allem, in welchem Maße der enge Focus auf den sehr kurzen Zeitraum 1775–1815 (ohne ausführliche Betrachtung der Vorgeschichte und der Entwicklungen nach 1815) und auf eine zumindest in den USA im Untersuchungszeitraum sehr kleine Gruppe weit reichende Aussagen zulässt. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, das Verhältnis von Juden und Staat in den USA mit einem anderen gänzlich neuen Staat über 1815 hinaus zu vergleichen. Der Band enthält durchaus interessante Passagen, die die Lektüre lohnen, etwa die französische Rezeption des amerikanischen Verständnisses von „Toleranz“ (S. 98). Jahers Studie regt den Leser auch an, klassische Texte etwa von Tocqueville neu zu lesen. Für das Feld der neueren jüdischen Geschichte ist „Jews and the Nation“ trotz des viel versprechenden Titels keine wesentliche Ergänzung. 6

Anmerkungen:
1 Lipset, Seymour Martin, American Exceptionalism. A Double-Edged Sword, New York 1996; Ders., A Nation Apart. A Survey of America, in: The Economist, 8. November 2003.
2 Hartz, Louis, The Liberal Tradition in America. An Interpretation of American Political Thought Since the Revolution, New York 1955.
3 Weber, Eugen, Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France, 1870-1914, Stanford 1976.
4 Neuere Überblicksstudien sind u. a.: Hyman, Paula E., The Jews of modern France, Berkeley 1998; Benbassa, Esther, Histoire des juifs de France, Paris 1997; Faber, Eli, A Time for Planting. The First Migration: 1654–1820 (“The Jewish People in America”1), Baltimore 1992.
5 Herberg, Will, Protestant, Catholic, Jew. An essay in American religious sociology, New York 1955.
6 Siehe dazu: Birnbaum, Pierre; Katznelson, Ira (Hgg.), Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship, Princeton 1995.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension