Y. Rieker: Ein Stück Heimat findet man ja immer

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Titel
Ein Stück Heimat findet man ja immer. Die italienische Einwanderung in die Bundesrepublik


Autor(en)
Rieker, Yvonne
Erschienen
Anzahl Seiten
203 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Peters-Schildgen, Oberschlesisches Landesmuseum

Als Projekt "Ein Leben zwischen den Kulturen? Italienische Einwanderer in der Bundesrepublik Deutschland", von der Volkswagenstiftung von 1998 bis 2001 gefördert, wurde diese am Historischen Seminar der Universität Freiburg angesiedelte "Fallstudie zur deutschen "Gastarbeiter-Politik" von Ulrich Herbert betreut. Zwar gibt es bereits eine Reihe von Untersuchungen zur italienischen Arbeitsmigration in die Bundesrepublik, die sich hauptsächlich auf die Aspekte Arbeitsmarkt, Integration und Betreuung italienischer MigrantInnen konzentrieren. Jedoch verloren die Italiener "in ihrer Wahrnehmung als eine voll integrierte Gruppe bald ihre anfängliche Beachtung", wenngleich sie nicht nur die erste, sondern bis 1970 auch die größte Gruppe von ArbeitsmigrantInnen stellten und das anfängliche Bild vom "Gastarbeiter" nachhaltig prägten.

Grundlage dieser Studie bilden 30 mit italienischen MigrantInnen teils in deutscher, teils in italienischer Sprache einfühlsam geführte Interviews, die - wie die Autorin vorwegnimmt - zwar nicht repräsentativ sind, aber die persönlichen Migrationserfahrungen eindrucksvoll schildern. Hinzu kommen zeitgenössische Materialien und Zeitungsartikel sowie offizielle Dokumente der deutschen und italienischen Regierung. Die zeitliche Beschränkung auf den Zeitraum von 1955 bis 1970 resultiert aus den archivischen Sperrfristen.

Nach einem kurzen Überblick über den Forschungsgegenstand und die Tradition der italienischen Arbeitsmigration in Deutschland beschreibt die Autorin die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für das Zustandekommen des deutsch-italienischen Anwerbeabkommens vom 20. Dezember 1955. Dargelegt werden die verschiedenen Positionen des Wirtschafts- und des Arbeitsministeriums als ein nicht aufeinander abgestimmtes Agieren sowie der Bürokratismus bei der Vermittlung der italienischen ArbeitsmigrantInnen, die immer wieder Wege fanden, dieses umständliche Verfahren zu umgehen.

Die Interviews werden zunächst auf die Wanderungsgründe der Betroffen vor dem Hintergrund der italienischen Migrationstradition ausgewertet. Die Gespräche gewähren Einblicke in die persönlichen Lebensumstände und Schicksale der Befragten, die zum größten Teil aus ländlichen Regionen in Süditalien, dem Mezzogiorno, stammen.

Auf der Grundlage von Dokumenten, hauptsächlich Schriftwechseln innerhalb der Ministerialbürokratie, aber auch zwischen Staat und Sozialverbänden bzw. Tarifparteien, untersucht die Autorin im folgenden Kapitel das seinerzeit in der Bundesrepublik vorherrschende Bild von Italien und Italienern, das auf seine politische Bedeutung befragt wird. So schürten vor dem Hintergrund des Kalten Krieges BDI, DGB, der Verfassungsschutz und einige Bundestagsabgeordnete die Angst vor einer kommunistischen Unterwanderung durch die italienischen ArbeitsmigrantInnen. Abschätzig formulierte Urteile der Caritas und des Deutschen Konsulats in Neapel über die süditalienischen ArbeitnehmerInnen trugen zur Verbreitung des Vorurteils vom "schmutzigen, schlechtriechenden Italiener" bei. Gleichzeitig profitierten die italienischen ArbeitsmigrantInnnen von dem in den 1950er-Jahren aufkommenden touristischen Blick vieler Deutscher auf Italien, der die gesellschaftliche Integration der italienischen Arbeitsmigranten begünstigt habe. Erfahrungsberichte von Diskriminierung und gesellschaftlicher Ausschließung der Interviewten beschließen dieses Kapitel. Interviews mit ehemaligen deutschen Arbeitskollegen hätten hier zur Vervollständigung des Italien- bzw. Italienerbildes in der Bundesrepublik beitragen können.

Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Rekrutierung von Fremd- bzw. Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen auf die italienische Migration in der Bundesrepublik Deutschland sind Gegenstand des fünften Kaptitels. 10 Jahre nach Kriegsende war dieser Abschnitt der NS-Vergangenheit keineswegs aufgearbeitet. Vielmehr wurde er - wie Rieker darlegt - bewusst ausgeklammert. So sind die Bemühungen um eine angemessene Unterbringung und Betreuung der Italiener nicht Ausdruck eines historischen Schuld- und Verantwortungsbewusstseins, sondern diplomatisches Kalkül des Auswärtigen Amtes, das auf diesem Wege eventuellen italienischen Protesten vorbeugen wollte. Der lokalen Presse hätte die Autorin entnehmen können, dass nach dem Krieg nicht abgerissene Zwangsarbeiterlager zunächst durchaus zu Wohnbaracken für "Gastarbeiter" umfunktioniert wurden.

In den folgenden Kapiteln werden die Bemühungen der Caritas und der Gewerkschaften um die Betreuung und gesellschaftliche Eingliederung sowie die schwierige Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland beschrieben. Die Autorin verfolgt die Tradition der Caritas-Hilfe bis in das 19. Jahrhundert zurück, zeichnet die Entstehungsgeschichte der Zentralstelle für Betreuung der Italiener (CALI) nach und führt die LeserInnen durch den Dschungel der verschiedenen Beratungsstellen und Büros auf deutscher und italienischer Seite. Auf der Basis der Interviews werden weiterhin die schwierige Ankunft, erste Eindrücke in der Bundesrepublik, Art der Unterbringung sowie Sprachschwierigkeiten der italienischen ArbeitsmigrantInnen geschildert. Insbesondere die fehlenden deutschen Sprachkenntnisse wurden als großes Hindernis bei der Bewältigung des Alltags in der fremden Umgebung empfunden.

Weiterhin befasst sich die Studie mit den durch die EWG vorgegebenen Rahmenbedingungen für die italienische Migration, auch mit Blick auf die Anwerbung von ArbeitnehmerInnen aus Drittländern und die Freizügigkeitsbestimmungen der EWG. Versuche der italienischen Regierung, eine bevorzugte Behandlung der Arbeitnehmer aus ihrem Land durchzusetzen, schlugen fehl, und die italienischen Arbeitnehmer gerieten allmählich aus dem Blickfeld der Politik. Offenbar schien es bei dieser Gruppe keine ersichtlichen Integrationsschwierigkeiten zu geben. Dieser Vorstellung widerspricht das auf der Grundlage statistischen Materials von Rieker erstellte Sozialprofil der Italiener. Im Vergleich zu den ArbeitsmigrantInnen aus anderen Anwerbeländern überraschen die hohe Zahl der Italiener ohne Schulabschluss, ihre hohe Arbeitslosenquote sowie ihr geringer beruflicher Aufstieg. Gründe hierfür liegen in der Absorption von italienischen Facharbeitern durch die norditalienische Industrie. Das Modell der separaten Klassen für Kinder ausländischer Nationalitäten in Baden-Württemberg und Bayern, wo die Hälfte der in die Bundesrepublik eingewanderten Italiener wohnte, trug überdies zur hohen Zahl junger Italienerinnen ohne Lehre nach dem Hauptschulabschluss bei.

Im zehnten Kapitel kommen die Interviewpartner ein weiteres Mal zu Wort. Hier geht es um die Veränderungen der Vorstellungen über das Herkunfts- und das Einwanderungsland im Verlauf des jahrelangen Aufenthalts in der Bundesrepublik und die ambivalente Annäherung an die eigene Heimat. Charakteristisch für die Befragten ist die von ihnen über eine lange Zeit in Betracht gezogene Rückkehrmöglichkeit und die damit einhergehende verzögerte Integration, für die Rieker unter anderem die unentschlossene Politik der Bundesregierung verantwortlich macht. Prägen Errungenschaften wie rationale Verwaltung, funktionsfähiges Krankenwesen und die Sozialpolitik das Deutschlandbild der Befragten, wurde Italien durch den touristisch eingefärbten Blick auf das Land allmählich zu einer Art "Herzensangelegenheit". Dieser Prozess habe, so Rieker, zu einem neuen Selbstverständnis der Betroffenen geführt, die beide Gesellschaften als fremd und eigen zugleich empfinden.

Mit abschließenden Überlegungen, einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis, Kurzbiografien der Befragten sowie Anmerkungen endet diese Publikation, die einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der italienischen ArbeitsmigrantInnen in Deutschland liefert, der neben den politischen Begleitumständen die Sichtweise von Betroffenen in den Mittelpunkt rückt. Einige Aspekte wurden nicht berücksichtigt, z.B. die Nutzung von Integrationsangeboten, die Bedeutung von italienischen Vereinen und Zusammenschlüssen sowie die Rolle von Kirche, Rundfunk und Fernsehen im Hinblick auf die Integration der italienischen ArbeitnehmerInnen in Deutschland.

Erfahrungsberichte von Sozialarbeitern, Seelsorgern von Betriebsräten und ehemaligen deutschen Kollegen hätten überdies diese Studie vervollständigt. Schließlich drängt sich die Frage auf, warum die Autorin ihrem Text keine Fotografien, z.B. aus dem Besitz der befragten ItalienerInnen, hinzugefügt hat. Fußnoten am jeweiligen Seitenende sind im Übrigen leserfreundlicher als die im vorliegenden Buch am Textende plazierten, kapitelweise durchnummerierten Anmerkungen.

Abgedruckt in: "Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur", 2/2003, S. 74-76.

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