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Titel
Crisis. The Anatomy of Two Major Foreign Policy Crises


Autor(en)
Kissinger, Henry
Erschienen
New York 2003: Simon & Schuster
Anzahl Seiten
564 S.
Preis
$ 30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang G. Schwanitz, Deutsches Orient-Institut Hamburg

Überrascht wurden viele, aber nicht einige Herren im Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit. Denn sie lasen am Vortag die neueste Information, „dass von arabischer Seite in den heutigen Nacht- bzw. in den Morgenstunden mit bestimmten militärischen Handlungen gegen Israel begonnen wird“. Weiter stand an jenem 5. Oktober 1973 im Geheimbericht an Staatschef Erich Honecker: „Die sowjetischen Militärspezialisten wurden von ihren Organen angewiesen, sofort ihre Tätigkeit abzubrechen und mit ihren Familien abzureisen.“

Der Abzug wirbelte Staub auf, denn es ging um Tausende Experten samt Angehörigen. Natürlich bemerkte man im Westen diese hastige Aktion mit Großraumfliegern. Doch ließen sich die Geheimdienste blenden, wie nun Henry A. Kissinger in seinem neuesten Buch über zwei Krisen der US-Außenpolitik in Nahost 1973 und Vietnam 1975 enthüllt. Hier sei nur Nahost ausgelotet, da er zuvor in „Ending the Vietnam War“ Indochina untersucht hat. Er erhellt die Krise von innen. Dazu gibt es noch kein Standardwerk wie Michael B. Orens Band zum Krieg 1967, zumal die 30-Jahre-Sperrfristen für Akten gerade enden. Kissingers Werk fügt sich in ein Bild, das Memoiren von Militärs wie Moshe Dayan und Muhammad Abd al-Ghani al-Gamasi sowie die Resultate der amtlichen Untersuchung in Israel prägen.

Kissinger legt dar, dass der Geheimdienst CIA noch am Mittag des Vortages, also als Ostberliner Leitern die Meldung „heute Nacht oder morgen früh beginnt der Krieg; die Sowjets ziehen sich heraus“ vorlag, noch an Präsident Nixon vermeldet hat, trotz der Gerüchte und der Vorkehrungen stünden Feindseligkeiten nicht zu erwarten. Zur selben Zeit erkannte der israelische militärische Geheimdienst keine Plausibilität in den syrischen Aktivitäten an der Grenze. Aus ostdeutschen Akten wissen wir heute, dass die arabische Kriegsplanung in zwei Varianten schon 1969 ihre Formen angenommen hatte.

Die Täuschung durch die Araber geriet perfekt: Ägypter schienen am 6. Oktober 1973 ein Manöver der Serie „Befreiung“ abzuhalten, „tahrir 41“. Israelische Posten auf der Ostseite des Sueskanals sahen am Versöhnungstag Yom Kippur, einem Samstag, mittags noch ägyptische Soldaten auf der Westseite dieses Wasserweges baden. Kaum aber waren diese aus den Fluten heraus, da brach schon die Hölle los. Ägypter begannen an fünf Punkten, den Sueskanal zu überqueren und die als uneinnehmbar geltende Bar-Lev-Linie zu erstürmen, indes die Syrer israelische Stellungen auf dem Golan überrannten.

In hoher Not hatte Premierministerin Golda Meir drei Stunden zuvor an Kissinger gedrahtet, den Außenminister und Sicherheitsberater: Die Araber würden alsbald angreifen. Er möge dem Kreml bedeuten, Israel wolle keinen Krieg. Damit begann die Diplomatie, deren 22 Tage nun erstmals nach Mitschriften der Telefonate Kissingers vorliegen. Das sind Dramen aus der Ära des Kalten Krieges unter dem Schatten des atomaren Infernos. Es drohte, wie der Sueskrieg oder die Kubakrise zeigten, an regionalen Krisen zu entflammen. Am Anfang war der arabische Überfall auf Israel, am Ende waren Teile der NATO und des Warschauer Pakts alarmiert, darunter je auch deutschen Truppen.

Samstagabend, am 6. Oktober, rief Kissinger Anatoli F. Dobrynin an. Angenommen, so der Minister zum Gesandten, beide Großmächte täten nichts. Spätestens Mittwoch wären die Araber besiegt. Was dann? Er möge diese Prognose selbst Kairo mitteilen, erwiderte der Russe. Gut, meinte Kissinger, er rufe ihn wieder an. Doch dann erklärte er das Grundmuster. Wir lassen den Krieg genau bis dahin weitergehen, bis die Israelis die Araber aus ihrem Land vertrieben haben und nach Damaskus wollen. Dann müssten sie das Feuer einstellen. Die Strategie sei also, den Angreifern mit der Niederlage zu drohen.

Dobrynin, Botschafter in Washington seit 1961, fragte nach der Realisierung. Die Sache möge nicht in die UN-Vollversammlung kommen, denn dort folge nur Propaganda. Weiter riet Kissinger, den Sicherheitsrat zu nutzen. Aber was sei dort zu fordern, Rückkehr zur Ausgangsstellung? Nein, so der Gesandte des Kremls, man könne von Arabern nicht erwarten, ihr eben zurück gewonnenes Land herzugeben. Heraus kam die Formel des Feuerstopps. Aber wann genau, wem schlug da die Gunst der Stunde? Moskaus Idee, Truppen zu entsenden, ließ Kissinger gewieft sterben.

All dies stimmte Kissinger mehrseitig ab, wobei sich die Haltung der Partner im Verlauf der Kriegshandlungen veränderte. Erholten sich die Israelis, bremste er das Einwirken. Ging es ihnen aber schlecht, sorgte er für die Luftbrücke. Umgekehrt handelten die Sowjets, wobei ihnen Beziehungen zu den Israelis fehlten, denn sie hatten diese 1967 gekappt. Zum anderen mangelte es ihnen an moderner Technik.

Die Struktur der Krise, wie sie Kissinger kommentierte, hatte zwei Teile und vier Stränge. Das Vorspiel des Krieges fußte auf mangelnder Information oder deren Missdeutung. Eine Mischung, die jüngst wieder ihre kriegerische Rolle gespielt hat. Hat dies Kissinger zu seinem Buch veranlasst? Er erklärte in einem seiner Dutzend Bücher, dass die Geheimdienste damals dem Mythos von der Unbesiegbarkeit Israels verfallen waren. Jedoch die Radikalität der arabischen Schwäche überwand die israelische Arroganz der Stärke.

Trotz der Überraschung entwickelte Kissinger in Washington ein kompetentes Krisenmanagement. Vier Prozesse kamen dort auf: Amerikaner hegten erstmals kooperative Beziehungen zu Moskau und Peking. Kissinger konnte das Ende des Vietnamkrieges einleiten, wobei sein Stand auch in Moskau gestärkt wurde. An den Kapitol-Hügeln zog der Watergate-Skandal auf, der Präsident Nixon bald das Amt gekostet hat.

Richard M. Nixon, schon angeschlagen, ließ Kissinger freie Hand. In Fürth 1923 geboren und als Jugendlicher in die USA emigriert, zeigte dieser Harvard-Politologe in der Regelung der Nahostkrise sein Talent, die große Kollision zu vermeiden und Interessen zu wahren. Zwar sah er sich durch die Sowjets übertölpelt, die trotz der Evakuierung vor Ultimo so taten, als überraschte sie der Krieg. Doch spielte Kissinger virtuos das Piano der Politik. Dazu zählte, andere mit dem Wink auf einen Dritten Weltkrieg auf Kurs zu bringen.

Entgegen der CIA-Prognose kämpften die Araber hart, so dass er Israelis in der UNO Atempausen verschaffte. Aber die Luftbrücken für den Nachschub drohten, beide Weltmächte hineinzuziehen. Eine Gefahr, die er durch seine kurze Reise nach Moskau überwand. Mit Leonid I. Breschnew fand er die Formel für das Kriegsende. Unter Aufsicht der UNO trafen sich Sonntag, den 28. Oktober 1973, die Israelis und Ägypter am ägyptischen Kilometer 111, um Truppen zu entflechten. Bald folgten die Syrer. Nur Ägypten schloss 1979 einen Friedensvertrag mit Israel (nicht 1978, wie auf der letzten Seite steht).

Stolz bilanziert Kissinger, dem noch während der Nahostkrise der Friedensnobelpreis für seine Vietnam-Diplomatie zukam, alle US-Ziele umgesetzt zu haben: die Verpflichtung gegenüber Israel und die Heraushaltung Moskaus aus Nahost (so dass Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat alsbald seinen separaten Weg nach Westjerusalem einschlagen konnte) und gute Kontakte zu den moderaten Arabern. Kissinger stellte die Weichen zum Kalten Frieden in der Region. Anwar as-Sadat, so wird klar, ging es um einen begrenzten Schlag für bessere Verhandlungspositionen.

Von Textlücken aus Sicherheitsgründen abgesehen, ist das Mosaik noch zu fügen, denn nicht alles lief am Telefon ab und manchen Erfolg verbuchten auch Kissingers Partner. Was erwähnt er nicht? Zum einen waren Nahostkonflikt und Vietnamkrieg verknüpft: Trat Amerika für Moskau zu einseitig auf, indem es Waffen an Israel lieferte, reagierte der Kreml so in Nordvietnam und traf damit die Amerikaner direkt (diese revanchierten sich in Afghanistan). Zum anderen sollen im Krieg Israels Atomwaffen startklar gemacht worden sein. Trotzdem ist dies ein Hauptwerk zu einer Ära, in der Amerika noch ein Gegenüber gehabt hat. Mit der gebotenen Quellenkritik ist Kissingers Buch für Nahosthistoriker ein Muss.

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