B. M. Rigg: Hitlers 'jüdische Soldaten'

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Titel
Hitlers 'jüdische Soldaten'.


Autor(en)
Rigg, Bryan Mark
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
439 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Kunz, Institut für Europäische Geschichte, Philipps-Universität Marburg

Der Titel des Buches von Bryan Mark Rigg, Professor für Geschichte an der American Military University in Manassas/Virginia, lässt aufhorchen. Jüdische Wehrmachtsoldaten, also Angehörige ausgerechnet einer Armee, deren Zweckbestimmung in der Durchführung einer rasseideologisch motivierten Kriegspolitik bestand, durch welche das NS-Regime ‚Lebensraum’ im Osten zu erobern beabsichtigte, eng verbunden mit dem Ziel der physischen Vernichtung des europäischen Judentums? Damit hat sich Rigg einem Themenbereich zugewandt, der mehr als halbes Jahrhundert nach dem Ende des ‚Dritten Reichs’ nicht an Emotionalität verloren hat, wie die öffentlichen Kontroversen beispielsweise um die so genannte(n) Wehrmachtausstellung(en) und um das in Bau befindliche Berliner Holocaust-Mahnmal zeigen, oder wie unlängst die Debatte um die Äußerungen des Bundestagsabgeordneten Hohmann eindringlich vor Augen geführt hat.

Riggs Untersuchungsgegenstand sind Wehrmachtangehörige, die nach den Kriterien des Nationalsozialismus als ‚Juden’ definiert und damit zur Zielscheibe eines zum Gegenstand staatlichen Handelns gewordenen Rassenwahns wurden. Seine Arbeit stützt Rigg nicht allein auf die einschlägige Schriftgutüberlieferung ziviler, militärischer und parteiamtlicher Provenienzen des NS-Staates ab. Denn zwischen 1994-1998 hat der Autor mit über 400 Betroffenen Interviews geführt, darunter ehemalige Mannschaftssoldaten wie Generälen, Truppen- wie Stabsoffiziere, Jagdfliegerasse und U-Bootkommandanten sowie Trägern hoher und höchster militärischer Auszeichnungen. Die von ihm mit großem Aufwand recherchierten Zeitzeugen befragte Rigg „nach ihrer persönlichen Familiengeschichte und ihrem jüdischen Hintergrund; [...] über ihre Zeit in der Wehrmacht; [...] was sie dazu bewog, in der Wehrmacht zu dienen; und was sie damals vom Holocaust wussten“ (S. XIII). Weiterführende Angaben über die von ihm angewandte Methodik wären sicherlich wünschenswert gewesen. Doch darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass Rigg seine Interviewunterlagen sowie andere ihm überlassene Aufzeichnungen dem Bundesarchiv-Militärarchiv übergeben hat, damit diese als ein eigener Sammlungsbestand verwahrt und für die historische Forschung dauerhaft gesichert werden.

Mit relativ ausgreifenden Ausführungen grenzt Rigg zunächst seinen Untersuchungsgegenstand definitorisch ein und reflektiert dabei die ganze Widersprüchlichkeit der nationalsozialistischen Diskriminierungs- und Verfolgungspolitik gegenüber denen, die das Regime als ‚Juden’ definierte. Die Nürnberger Gesetze von 1935 schufen die neuen ‚rassischen’ Kategorien der ‚Halbjuden’ oder ‚jüdischen Mischlinge ersten Grades’ und der ‚Vierteljuden’ oder ‚jüdischen Mischlinge zweiten Grades’. Als ‚Halbjude’ galt demnach, wer zwei jüdische Großeltern hatte, als ‚Vierteljude’ mit nur einem jüdischen Großelternteil. In den Statistiken der militärischen Bürokratie, sofern derartige Unterlagen überhaupt geführt worden waren, wurden nur diejenigen als ‚Juden’ erfasst, die sich explizit zum mosaischen Glauben bekannten. Dabei waren ‚Juden’ bis 1933 ein hoch integrierter Teil der deutschen Gesellschaft. Zehntausende waren zum Christentum konvertiert oder hatten sich mit ‚Nichtjuden’ verheiratet. Und aus diesen Verbindungen waren Nachkommen hervorgegangen. Besaß das Regime und mit ihm die Wehrmachtführung über die in den Reihen des Militärs dienenden ‚jüdischen’ Soldaten zu keinem Zeitpunkt einen tatsächlichen Überblick, so machte erst die immer systematischere Formen annehmende Repression vielen Betroffenen die eigene Abstammung überhaupt erst bewusst oder bekannt.

Bei der Darstellung der staatlichen Diskriminierungs- und Verfolgungspolitik im Militär ergänzt Rigg die Ergebnisse älterer Forschungen: Reichswehrminister Blomberg billigte im Kabinett nicht nur das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7.4.1933), das zur Entlassung der nicht ‚arischen’ zivilen Staatsdiener mit Ausnahme der jüdischen Frontkämpfer führte. Eigenmächtig und ohne rechtliche Grundlage übertrug Blomberg die entsprechende Bestimmung wenig später auf die Wehrmachtsoldaten und -offiziere und verfügte, über das Beamtengesetz hinausgehend, auch die Entlassung der jüdischen Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges (28.2.1934). In der Reichswehr lassen sich Soldaten mosaischen Glaubens gar nicht nachweisen. Nicht etwa wegen ihres Bekenntnisses, sondern wegen ihrer jüdischen Herkunft wurden daraufhin schätzungsweise 70 bis 100 Reichswehrangehörige entlassen. Das im Zuge der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 erlassene Wehrgesetz (21.5.) machte die ‚arische’ Abstammung zur Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst. ‚Juden’ wurden als ‚wehrunwürdig’ stigmatisiert, jüdische ‚Mischlinge’ lediglich geduldet. Ein latenter Antisemitismus, der – eingedenk der Schwierigkeit einer Pauschalisierung – die politisch maßgebenden Spitzenmilitärs erfüllte, ließ die Wehrmachtführung innerhalb kurzer Zeit auf die Linie der Partei einschwenken. Aufgrund einer OKW-Weisung vom Frühjahr 1940 wurden in den Folgemonaten schätzungsweise 70.000 ‚Halbjuden’ und mit Jüdinnen oder ‚Halbjüdinnen’ verheiratete Soldaten aus der Wehrmacht entlassen (S. 164). Analog zu den Radikalisierungsschüben der nationalsozialistischen Judenpolitik intensivierte sich der Terror gegen die in der Wehrmacht verbliebenen ‚jüdische’ Soldaten. Auf Drängen der Parteikanzlei ordnete die Wehrmacht im Juni 1944 schließlich auch die Entlassung aller in ihren Reihen befindlichen ‚Vierteljuden’ an (S. 288). Längst bewarb sich eine in die Tausende gehende Zahl Betroffener um eine Ausnahmegenehmigung, die ihnen den Verbleib in der Wehrmacht gestattete. Hitler behielt sich die Entscheidung persönlich und im Einzelfall vor. Auf der Basis von Überlieferungssplittern schätzt Rigg, dass etwa 60% der Gesuche von ‚Vierteljuden’, hingegen nur 10% derer von ‚Halbjuden’ genehmigt wurden (S. 253).

Trotz der Existenz klarer Richtlinien darüber, wie mit ‚nicht arischen’ Soldaten zu verfahren war, verfügte die Wehrmacht nach Riggs Darstellung über keine zuverlässige Methode, die vom Autor auf eine Zahl von bis zu 190.000 geschätzten wehrpflichtigen ‚Halb’- und ‚Vierteljuden’ (S. 76) zu identifizieren. Die Soldaten mussten zwar routinemäßig ihre Konfession angeben, waren aber bis dahin nicht nach der Konfession ihrer Eltern und Großeltern befragt worden. Seit 1935 musste jeder Offizier seinen Stammbaum und den seiner Ehefrau vorlegen. Jeder Wehrpflichtige musste bei der Musterung eine so genannte Abstammungserklärung abgeben. Die umfassende Überprüfung der abgegebenen Erklärungen und eingereichten Unterlagen war praktisch nicht durchführbar. Dies war auch den Betroffenen bewusst: Vielfach kam es zu unwahren Angaben, welche die Betroffenen mit drakonischen Strafen bedrohten und der Gefahr der Denunziation aussetzten. Anhand von vier ausführlicher beschriebenen Fallbeispielen gelingt es Rigg, das ganze Spektrum von Hoffnungen, Ängsten, von Verzweiflung und Demütigung der sich um eine Ausnahmegenehmigung Bemühenden aufzuzeigen.

Im Ergebnis breitet Rigg eine Fülle individueller Erfahrungen der Betroffenen aus und skizziert ein weites Spektrum damit verbundener Verhaltensweisen, die sich jeder vorschnellen und pauschalen Kategorisierung oder gar Typisierung entziehen. Die Bandbreite der Motive zum Verbleib in der Wehrmacht reichte von Realitätsverdrängung und Selbsttäuschung über Hilf- und Ratlosigkeit bis hin zu konkreten Überlebensstrategien. Und ebenso wenig homogen ist der Befund Riggs auf die sich fast zwangsläufig stellende Frage, was ‚jüdische’ Soldaten vom Holocaust insgesamt wussten. Natürlich erlebten viele, wie Bekannte, Freunde und Familienangehörige deportiert wurden. Auch wurden sie Zeugen von Ermordungsaktionen im Osten oder von der Gettoisierung der Deportierten. Das ganze Ausmaß und die Reichweite des Genozids erkannten allerdings nur wenige. Als vielschichtig und komplex stellt Rigg auch das soziale Umfeld der ‚jüdischen’ Soldaten und das Verhalten der ‚arischen’ Kameraden ihnen gegenüber dar. Zu größeren und offen vorgetragenen Solidarisierungen ist es zu keiner Zeit gekommen. Es blieb bei vereinzelten Empörungen und Protesten in den ersten Monaten des Regimes, und die waren nicht unbedingt gleich bedeutend mit einer grundsätzlichen Kritik an dem den Diskriminierungen zugrunde liegenden rassischen Prinzip. Das von den Betroffenen geschilderte Verhalten ihrer Kameraden und Vorgesetzten reichte von Gleichgültigkeit und verschämtem Wegsehen über stille Duldung und aktive Unterstützung bis hin zu Denunziation und tatkräftiger Komplizenschaft bei der Verfolgung.

Mit seiner Darstellung liefert Rigg einen wichtigen Beitrag zu den deutschen jüdischen Soldaten und knüpft damit an die Ergebnisse des gleichnamigen Forschungs- und Ausstellungsprojektes des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes an. Dabei überwindet Rigg unausgesprochen auch die bislang die Beschäftigung mit dem nationalsozialistischen Genozid prägende Täter-Opfer-Dichotomie. Überaus deutlich wird, dass sich Rassenwahn und Staatsterrorismus nicht nur gegen ‚die Juden’ als eine abstrakte Größe, sondern sich konkret gegen Deutsche aufgrund einer bestimmten Glaubenszugehörigkeit oder wegen ihrer Herkunft richteten. Die persönliche, menschliche Note als das Ergebnis einer intensiven Oral-History kennzeichnet Riggs Arbeit, mit der dem Autor eine faszinierende Innenansicht der militärischen Gesellschaft des ‚Dritten Reichs’ gelungen ist. Das Abbild einer historischen Wirklichkeit lässt sich nur aus der unendlichen Vielzahl individueller Wahrnehmungen zusammensetzen und wird stets eine selektive Gedankenkonstruktion bleiben müssen. Will man das Ergebnis der Untersuchungen Riggs aus der Sicht der Betroffenen zusammenfassen, so bleibt dafür allein das Wort Tragödie.

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