Nationalsozialistische Judenverfolgung

: Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste. Amerika und die jüdischen Flüchtlinge 1938-1945. Frankfurt am Main 2003 : Campus Verlag, ISBN 3-593-37275-4 283 S. € 29,90

: Judenverfolgung in Deutschland - eine innere Angelegenheit?. Internationale Reaktionen auf die Flüchtlingsproblematik 1933-1939. Stuttgart 2003 : Franz Steiner Verlag, ISBN 3-515-08025-2 520 S. € 100,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regula Ludi, Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung, Universität Bern

Die nationalsozialistische Judenverfolgung stellte die demokratischen Staaten der Vorkriegszeit vor zwei grundlegende Probleme: Wie sollten sie auf den Bruch Deutschlands mit den Prinzipien westlichen Rechtsdenkens reagieren? Und wie sollten sie sich zum Flüchtlingsproblem stellen, dem Ergebnis einer gezielten und staatlich organisierten Vertreibung der Juden aus dem deutschen Machtbereich? Es ist hinlänglich bekannt, dass die westliche Welt vor diesen Herausforderungen versagte und die Opfer des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus kläglich im Stiche ließ. Die jüngere Forschung zur Flüchtlingsproblematik, die seit den 1990er-Jahre vor allem die Frage nach der Mitverantwortung der „Bystanders“ ins Zentrum rückte, hat viel zur Erweiterung des Kenntnisstandes beigetragen. Ihrer Fragestellung wegen war sie aber zumeist auf den nationalen Orientierungsrahmen ausgerichtet. Vergleichende Untersuchungen zur Politik der westlichen Länder und zu den internationalen Reaktionen sind deshalb ein Forschungsdesiderat geblieben. Erste Ansätze zu einer integrierenden Analyse der Einwanderungspolitik westeuropäischer Staaten zeigen viel versprechende Wege auf.1 Die beiden hier zur Diskussion stehenden Publikationen behandeln, mit unterschiedlicher Gewichtung und aus verschiedener Optik, diese internationale Dimension der nationalsozialistischen Judenverfolgung und des dadurch verursachten Flüchtlingsproblems.

Seit der Öffnung von Archiven in den ehemals kommunistischen Staaten stehen der Forschung neue und bisher kaum ausgewertete Quellenbestände zur Verfügung. Fritz Kieffer hat in seiner Dissertation von diesen Möglichkeiten ausgiebig Gebrauch gemacht. Dank ausgedehnter Archivrecherchen gelang ihm eine facettenreiche Rekonstruktion der diplomatischen Reaktionen auf die nationalsozialistische Judenpolitik. Seine Untersuchung trägt wesentlich dazu bei, die Ergebnisse der älteren Forschung zu vertiefen. Doch in den Grundzügen deckt sich seine Interpretation mit früheren Studien, beispielsweise der 1981 veröffentlichten Arbeit von Ralph Weingarten, der schon mit dem Titel „Die Hilfeleistung der westlichen Welt zur Endlösung der deutschen Judenfrage“ ein klares Verdikt aussprach.2 Einem chronologischen Aufbau folgend, beleuchtet Fritz Kieffer Schritt für Schritt das Versagen der internationalen Institutionen. Insbesondere der Völkerbund erwies sich angesichts der Radikalisierung der deutschen Verfolgungspolitik als handlungsunfähig. Dessen Mitgliedstaaten verzichteten von Anbeginn auf Interventionen zugunsten der Juden im „Dritten Reich“ und hielten dogmatisch am Prinzip der nationalen Souveränität fest. Die Weichen dazu wurden 1933 gestellt, als sich der Völkerbund weigerte, die Minderheitenschutzbestimmungen auf deutsche Juden anzuwenden. Auch das im gleichen Jahr neu geschaffene Amt des Hohen Kommissars für Flüchtlinge aus Deutschland blieb weit gehend wirkungslos, was den ersten Amtsinhaber, den Amerikaner James G. McDonald, veranlasste, schon Ende 1935 unter Protest zurückzutreten. Eine Konvention zum Schutz der Flüchtlinge aus Deutschland kam erst 1938 zustande, wurde vor Kriegsbeginn aber nur von wenigen Staaten ratifiziert. Schließlich anerkannten verschiedene westliche Regierungen 1938 explizit den deutschen Standpunkt, wonach die Judenverfolgung eine innere Angelegenheit des „Dritten Reiches“ darstelle. Damit erteilten sie Deutschland einen „Blankoscheck für die Verfolgung der Juden“ (S. 306) – wie der von Fritz Kieffer zitierte Historiker Eliahu Ben Elissar bemerkte – obwohl dessen Vertreibungspolitik längst ein Flüchtlingsproblem von internationalem Ausmaß geschaffen hatte.

Die nationalsozialistische Rassenverfolgung hatte in den 1930er-Jahren primär zum Zweck, den Juden den Verbleib in Deutschland möglichst unerträglich zu machen, um sie zur Emigration zu zwingen. Für die Opfer dieser Politik wurde die Auswanderung freilich umso schwieriger, je stärker Boykotte, Berufsverbote und „Arisierungen“ die Vernichtung ihrer ökonomischen Existenz bewirkten. Denn kein Staat wollte Massen von mittellosen Menschen Aufnahme bieten. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise hatten europäische Regierungen bereits 1933 protektionistische Maßnahmen ergriffen und die Einreisebestimmungen verschärft. Fast durchwegs blieb Flüchtlingen der Zugang zum Arbeitsmarkt verschlossen, und keine Regierung zeigte sich bereit, mit staatlichen Mitteln zu der Unterstützung von Verfolgungsopfern beizutragen. Trotz verbesserter Wirtschaftslage hielten die an Deutschland angrenzenden Staaten auch in den nachfolgenden Jahren am Transitprinzip fest und zwangen Flüchtlinge damit zur raschen Weiterwanderung, während die traditionellen Einwanderungsländer den Juden zunehmend die Tore verschlossen. Unter diesen Voraussetzungen erwies sich die deutsche Devisenpolitik, die es Auswandern verunmöglichte, substanzielle Vermögenswerte ins Ausland zu transferieren, als eines der Haupthindernisse für die jüdische Emigration. Wollten Juden die ihnen nach Abzug von Sonderabgaben noch verbleibenden Kapitalien in Devisen umwandeln, so mussten sie bereits 1936 mit Verlusten von bis zu 80% rechnen (S. 85). Diese Bedingungen verschlechterten sich bis Kriegsbeginn fortlaufend. Die meisten Einwanderungsstaaten verlangten für die Erteilung von Einreisebewilligungen jedoch den Nachweis beträchtlicher Devisenbeträge. Internationale Anstrengungen zur Erleichterung der jüdischen Emigration konnten somit nicht umhin, Lösungen für den Vermögenstransfer zu finden. Eine Vorbildfunktion kam dabei dem 1933 abgeschlossenen Haavara-Abkommen zu, einem speziell für Palästina-Auswanderer entwickelten Verfahren, das den Vermögenstransfer durch deutsche Exporte nach Palästina ermöglichte. Analoge Vorhaben, beispielsweise Max Warburgs Vorschlag von 1935, die Emigration mit jüdischem Kapital in Deutschland zu finanzieren, stießen allerdings auf Ablehnung seitens westlicher Regierungen, die sich auf den Standpunkt stellten, dies impliziere eine Anerkennung der deutschen Judenverfolgung. War diese Begründung schon damals eher ein Vorwand für Untätigkeit und Indifferenz, so war auch die Opposition der gegen NS-Deutschland gerichteten Boykottbewegung nicht belanglos für das Scheitern der frühen Finanzierungspläne. Der über Exporte abgewickelte Vermögenstransfer hätte zwangsläufig eine Steigerung der deutschen Ausfuhr erfordert. Über den Verkauf deutscher Waren in den Aufnahmestaaten wären die Ausgewanderten zu Devisen gelangt, während die Exporteure aus den vom „Dritten Reich“ zurückbehaltenen jüdischen Kapitalien bezahlt worden wären.

Die verschiedenen Pläne zu Finanzierung der jüdischen Emigration bilden den Schwerpunkt von Kieffers Untersuchung. Die finanztechnischen Details und diplomatischen Geplänkel um die Vorschläge für Transferabkommen nehmen in seiner Darstellung großen Raum ein. Dabei springen die zahlreichen Fehleinschätzungen und Widersprüche ins Auge, die letztlich in die Pattsituation führten und dazu beitrugen, dass Ende der 1930er-Jahre für die im deutschen Machtbereich verbliebenen Juden jede Hilfe zu spät kam. Bis 1938 scheiterten sämtliche Pläne am Widerstand deutscher Stellen und an dem fehlenden internationalen Willen, mit den NS-Behörden Verhandlungen aufzunehmen. Doch seit dem Frühling 1938 spitzte sich die Situation für die jüdische Bevölkerung im NS-Machtbereich krisenartig zu. Die brutalen Ausschreitungen gegen Juden nach dem „Anschluss“ Österreichs räumten die letzten Zweifel an den Absichten der nationalsozialistischen Führung aus. Es war nun offensichtlich, dass die deutschen Machthaber die Juden mit allen Mitteln und um jeden Preis aus ihrem Herrschaftsbereich vertreiben wollten. Die vom amerikanischen Präsidenten einberufene Konferenz in Evian bestätigte allerdings erneut den Unwillen der westlichen Welt, eine Lösung für das Flüchtlingsproblem zu finden. Entgegen der wohlklingenden Proklamationen im Vorfeld der Konferenz wich kein Staat von der zuvor praktizierten Politik ab. Stattdessen gab die Konferenz den Auftakt zu einer weiteren Verringerung von Immigrationschancen, so dass letztlich nur noch die ohnehin zum Scheitern prädestinierten Pläne für eine Massenansiedelung von Juden in Britisch Guayana, Angola, Madagaskar oder Alaska eine Option zu bieten schienen.

Angesichts der schwindenden internationalen Aufnahmebereitschaft verringerte sich für das „Dritte Reich“ die Möglichkeit Juden abzuschieben, zumal die Gestapo-Praxis, Menschen heimlich und illegal über die Grenzen zu treiben, diplomatische Komplikationen mit den Nachbarstaaten zu Folge hatte. Fritz Kieffer gelangt zum Schluss, dass nun auch Hitler Verhandlungen mit dem von der Evian-Konferenz eingesetzten Intergovernmental Committee on Political Refugees (IGC) ins Auge fasste. Auch erachtet er Hitlers Überzeugung, verstärkter Terror werde die westlichen Staaten zu einer offeneren Immigrationspolitik zwingen, als ein nicht unwesentliches Motiv für die Inszenierung des November-Pogroms (S. 321). Mit der ausdrücklichen Genehmigung Hitlers übermittelte Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht Ende 1938 dem IGC ein Verhandlungsangebot, das die Idee von Max Warburg wieder aufgriff. Der von Schacht präsentierte Plan sah vor, die Auswanderung der noch im „Dritten Reich“ lebenden Juden mit 25% der beschlagnahmten jüdischen Vermögen zu finanzieren. Zur Vorfinanzierung hätte das IGC eine ausländische Anleihe in entsprechender Höhe bereitzustellen. Die britische und amerikanische Regierung reagierten auf diesen Vorschlag mit Misstrauen bzw. offener Ablehnung. Dennoch gelangten IGC-Direktor George Rublee und sein deutscher Verhandlungspartner Helmuth Wohltat im Februar 1939 zu einer Übereinkunft, wonach die Auswanderung der deutschen Juden gemäß Schacht-Plan erfolgen sollte. Im Gegensatz zur älteren Forschung gelangt Fritz Kieffer zu dem Schluss, dass das Verhandlungsangebot Schachts durchaus ernst gemeint war, letztlich aber an der fehlenden Handlungsbereitschaft der Einwanderungsländer scheiterte (S. 489). Zur Durchführung gelangte das Abkommen nämlich nicht mehr. Der deutsche Überfall auf Polen machte alle Auswanderungspläne zunichte. Rund zehn Monate früher, unter Eindruck der Ausschreitungen während des November-Pogroms, hatte der amerikanische Generalkonsul in Berlin auf die Konsequenzen dieses Scheiterns hingewiesen: „Die Juden in Deutschland sind zum Tode verdammt und ihr Urteil wird allmählich vollstreckt, aber vermutlich so schnell, dass die Welt sie nicht wird retten können.“ (S. 397) Ihre Bestätigung fand diese ahnungsvolle Lagebeurteilung in der Ausrottungsdrohung, die Hitler in seiner Rede vom 30. Januar 1939 äußerte.

Zu einem ähnlichen Schluss – dass die westlichen Regierungen und die an der Umsetzung des Rublee-Wohltat-Übereinkommens beteiligten Organisationen die Zeichen der Zeit nicht erkannt hätten und, statt nach unkonventionellen Lösungen zu suchen, die Verwirklichung des Auswanderungsplanes ungebührlich in die Länge zogen – gelangt auch Günter Schubert. Große Aufmerksamkeit schenkt der Historiker und ehemalige ZDF-Korrespondent dem Versagen der internationalen Staatengemeinschaft und der Frage nach der Mitverantwortung der amerikanischen Regierung an der jüdischen Katastrophe. Seine essayartige Darstellung konzentriert sich auf drei Hauptgegenstände: die internationale Politik in den Jahren 1938/39 (S. 15-146); den Umgang der Roosevelt-Administration mit den sich 1942 verdichtenden Meldungen über die „Endlösung“ (S. 149-201); sowie die Kontroversen in der amerikanischen Historiografie (S. 205-258). Günter Schubert stützt sich dabei in erster Linie auf die Literatur und fügt dem kaum Resultate eigener Archivforschung bei. Seine leicht lesbare und gut geschriebene Darstellung bietet denn vor allem eine Orientierungshilfe und eignet sich als Einstieg ins Thema.

Wenige Tage nach dem „Anschluss“ Österreichs gab Präsident Franklin D. Roosevelt den Anstoß für eine internationale Flüchtlingskonferenz. Damit trug er der innenpolitischen Stimmung in den USA Rechnung, die einerseits mit Argwohn auf den Ruf nach einem verstärkten internationalen Engagement reagierte, was zwangsläufig einen Ausbruch aus dem außenpolitischen Isolationismus bedingt hätte. Anderseits hatten die den „Anschluss“ Österreichs begleitenden Brutalitäten gegen die Juden in der amerikanischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. In den Augen Roosevelts hatte das Flüchtlingsproblem überdies eine für die Friedensordnung gefährliche Dimension erreicht, die eine koordinierte Reaktion erforderte. Doch für die amerikanische Regierung fiel auch zu diesem Zeitpunkt außer Betracht, ihre Immigrationsbestimmungen zugunsten der jüdischen Flüchtlinge zu lockern. Sie verzichtete darauf, die Asylpolitik als einen von der Einwanderungspolitik getrennten Bereich zu behandeln. Folglich kamen für Flüchtlinge jene diskriminierenden Bestimmungen zur Anwendung, die seit der Einführung des Quotensystems in den frühen 1920er-Jahren die Einwanderung nach ethnischen Kriterien kanalisierte. Die für Deutschland und Österreich auf jährlich rund 27. 000 Personen festgesetzte Quote verhinderte, dass die USA jemals zu einer Massenzufluchtstätte für die Verfolgten des NS-Regimes hätte werden können. Doch vor 1938 sorgten weitere Restriktionen dafür, dass diese Quote nie auch nur annährend ausgeschöpft werden konnte. Statt international ein Zeichen zu setzen, erklärte Roosevelt bereits im Einladungsschreiben die Fremdengesetzgebung der angesprochenen Regierungen für tabu. Es war nur folgerichtig, dass die Konferenz, die im Sommer 1938 im französischen Evian stattfand, diese Haltung bekräftigte und keine Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge zur Folge hatte.

Der zweite Teil von Günter Schuberts Darstellung handelt vom Riegner-Telegramm, das im August 1942 die britische und amerikanische Regierung über die Umsetzung der nationalsozialistischen Pläne zur Vernichtung der europäischen Juden informierte. Gerhart Riegner, Vertreter des World Jewish Congress in Genf, hatte den Alliierten damit nicht grundlegend neue Nachrichten zugespielt. Erschütternde Gerüchte über deutsche Massaker an Juden und andere grauenhafte Taten in den besetzten Ostgebieten kursierten schon seit längerem. Das Neuartige an seinem Telegramm waren indessen die Herkunft der Information, die aus engsten Führungskreisen in Deutschland stammen musste, und die präzisen Angaben, die Riegner über die Methoden der Vernichtung machen konnte. Die Umstände, wie diese Informationen in die Schweiz gelangten, sind aus der neueren Forschung bekannt. Die beiden Holocaust-Historiker Walter Laqueur und Richard Breitman konnten 1986 auch die zuvor anonym gebliebene Quelle identifizieren: Es handelte sich bei dem über beste Verbindungen verfügenden Informanten um den deutschen Industriellen Eduard Schulte. Das amerikanische Außenministerium indessen hielt die Nachricht über mehrere Monate unter Verschluss – selbst nachdem es sich über deren Glaubwürdigkeit vergewissert hatte – bevor es sie für die Veröffentlichung freigab. Erst nach langer Verzögerung wurde das Riegner-Telegramm so zum Auslöser für die Erklärung der Vereinten Nationen vom 17. Dezember 1942, mit der die alliierten Staaten die deutsche Vernichtungspolitik verurteilten und ihren Willen zur strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen kundtaten. Zu weiteren Schritten ließ sich die Roosevelt-Regierung erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges bewegen. Dem gingen innere Konflikte voran, hauptsächlich zwischen dem für die Flüchtlingspolitik zuständigen State Department, das gegen jegliche Aktivität zugunsten von jüdischen Verfolgten Obstruktion leistete, und dem von Henry Morgenthau - dem einzigen Juden in Ministerrang - geleiteten Finanzdepartement. Erst im Januar 1944 entzog Präsident Roosevelt dem Außenministerium die Kompetenz in der Flüchtlingspolitik. Das neu eingesetzte War Refugee Board befasste sich nun offiziell auch mit der Rettung von Verfolgten.

Die mit der amerikanischen Historiografie wenig vertrauten LeserInnen finden im letzten Teil von Günter Schuberts Buch eine anschauliche Einführung in einige Kontroversen über die Haltung der amerikanischen Regierung während des Holocaust. Seit Mitte der 1980er-Jahre haben verschiedene Historiker sukzessive den Mythos des flüchtlingsfreundlichen Präsidenten demontiert. Dessen Ambivalenz den Juden gegenüber versinnbildlicht die vielfach dargestellte Irrfahrt der St. Louis, einem Passagierschiff mit 900 Flüchtlingen an Bord, das im Frühsommer 1939 vor der amerikanischen Küste zur Umkehr nach Deutschland gezwungen wurde. Roosevelt hatte sich geweigert, den öffentlichen Appellen nachzugeben und den Verfolgten außerhalb der Quotenregelung die Einreise zu gestatten. Die St. Louis ist so zu einem Symbol für das amerikanische Versagen in der Flüchtlingspolitik geworden, analog wie die von Günter Schubert ebenfalls behandelte Debatte über die unterlassene Bombardierung von Auschwitz. Seit Mai 1944 lag Auschwitz in der Reichweite der amerikanischen Luftstreitkräfte. Im Sommer desselben Jahres griffen alliierte Bombengeschwader die Industriekomplexe in der Gegend des Konzentrations- und Vernichtungslagers an. Militärisch wäre es durchaus möglich gewesen, Auschwitz zu bombardieren und die Vernichtung der ungarischen Juden zu stoppen – wie der Historiker David Wyman argumentierte, der 1978 erstmals die Frage aufwarf, weshalb kein militärischer Schlag gegen die deutsche Vernichtungsmaschinerie erfolgte. Seine Thesen lösten heftigen Widerspruch aus und provozierten eine Kontroverse, bei der sich die moralische Kernfrage mit technischen Überlegungen zur Machbarkeit vermischten. Apologeten der offiziellen Politik verwiesen auf die primären Kriegsziele – die Niederschlagung und bedingungslose Kapitulation von NS-Deutschland – oder hielten Wyman entgegen, dass die Nationalsozialisten das Vernichtungsprogramm ohnehin fortgesetzt hätten. Die Debatte – so Günter Schubert – hat eine Stellvertreterfunktion für die grundsätzliche Frage nach der politischen Mitverantwortung am nationalsozialistischen Völkermord erhalten. Im Zuge der von Daniel Levy und Natan Sznaider festgestellten Globalisierung der Holocaust-Erinnerung ist diese Frage in den letzten Jahren ins Zentrum der internationalen Auseinandersetzung gerückt, und ihr muss sich letztlich jede Beschäftigung mit den Reaktionen auf die deutsche Judenverfolgung direkt oder indirekt stellen.

Anmerkungen:
1 Caestecker, Frank; Moore, Bob, Refugee Policies in Western European States in the 1930s. A Comparative Analysis, in: IMIS-Beiträge, Heft 7 (1998), S. 55-103.
2 Weingarten, Ralph, Die Hilfeleistung der westlichen Welt bei der Endlösung der deutschen Judenfrage, Bern 1981; Laqueur, Walter; Breitman, Richard, Der Mann, der das Schweigen brach, Frankfurt am Main 1986; Levy, Daniel; Sznaider, Natan, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001.

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