C. Schmitt: Tagebücher vom Oktober 1912 bis Februar 1915

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Titel
Tagebücher vom Oktober 1912 bis Februar 1915.


Autor(en)
Schmitt, Carl
Herausgeber
Hüsmert, Ernst
Erschienen
Berlin 2003: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Nicht viele Juristenleben werden heute biografisch erforscht. Das Interesse an Carl Schmitts Leben resultiert aber auch nicht seinem juristischen Werk allein, sondern darüber hinaus dem Wirken als politischem Akteur. So stand bei der biografischen Forschung zunächst sein Wirken in der Weimarer Republik und für den Nationalsozialismus im Vordergrund (Bendersky, Koenen, Seibert). Mit der Öffnung des Nachlasses fand darüber hinaus auch Schmitts Rolle nach 1945 zeitgeschichtliche Beachtung (van Laak). Vor einigen Jahren legte Paul Noack eine wenig tiefenscharfe Gesamtbiografie vor. Eine archivalisch eingehende aber fehlt bislang. Das labyrinthische Palimpsest des Nachlasses lädt auch wenig dazu ein, sich an diese Aufgabe zu wagen.

Schmitt war kein buchhalterischer Gelehrter, der seine Biografie als offenes Geheimnis pflegte. Seine nachgelassenen Notizen aus allen Lebensphasen muss man sich eher als chaotisches Sammelsurium aller Themen, Sprachen, Zeiten, Personen vorstellen. Da findet sich der Einkaufszettel, der mit Zitaten aller alten Sprachen und Beschimpfungen diverser Kollegen kreuz und quer gewürzt ist. Im „Glossarium“ meinte Schmitt zur „ordnenden Kraft“ seiner Gedanken: „Viele haben diese Kraft bemerkt und auch davon gesprochen. Aber sie sahen mich nur in der Öffentlichkeit, in der Darbietung und Darstellung meines Faches und Berufes. Sie sahen nicht mein hartes, zerstörtes Privatleben, das ich jener Ordnungsaufgabe geopfert habe.“1 Ernst Hüsmert, der Herausgeber der Tagebücher, wählte diese Zeilen zum Motto.

Lange war die biografische Forschung auf späte Selbstdarstellungen angewiesen, die ihrerseits kryptische bis apologetische Motive hatten. Sein „Knabenalter“ datierte Schmitt dabei von 1900 bis 1907 und sprach von einem „enttotalisierten Konviktsklerikalismus“ als prägendem Einfluss. Seine Jünglingsjahre datierte er von 1907 bis 1918 und sprach von einem „enthegelianisierten Großpreußentum wilhelminischer Prägung“ und vom „Neukantianismus“ als Einfluss.2 Schmitt schrieb auch einen kurzen Text „Berlin 1907“3, in dem er sich an dortige Studieneinflüsse erinnerte. Diese wichtigen Jünglingsjahre seiner akademischen, politischen und auch ästhetischen Prägung, in die erste aufschlussreiche Monografien fallen, lagen dennoch bislang historisch-biografisch weitgehend im Dunklen. Langsam verbessert sich nun die Quellenlage und lichtet sich auch diese Zeit.

Im Jahre 2000 erschienen „Jugendbriefe“.4 Der Titel ist wohl in Anlehnung an eine Edition von Jugendbriefen Max Webers gewählt. Diese „Briefschaften“ an die jüngere Schwester Auguste haben aber nicht das gleiche akademische Gewicht, unterhält der ältere Bruder seine Schwester doch mehr von oben herab mit pädagogischem Gestus über seine Studien und Anregungen. Immerhin werden neben vielfältigen biografischen Kontakten auch die ästhetischen (musikalischen und literarischen) Neigungen und Interessen plastischer, was ein wichtiger Kontrapunkt zur in der Forschung viel traktierten „katholischen“ Prägung ist. Eine biografische Einführung, zahlreiche Jugendfotos, Handschriftenproben sowie ein Anhang mit frühen kleinen Publikationen Schmitts ergänzen und illustrieren diese Jugendbriefe.

Nun liegt eine weitere Edition vor. Diese erste Publikation aus Schmitts Tagebüchern dokumentiert die Zeit vom Oktober 1912 bis zum Februar 1915. Es ist die „Postdoc“-Zeit des Referendariats, der Abfassung weiterer rechtsmethodologischer und -philosophischer Monografien, intensiver Begegnung mit der modernen Dichtung, insbesondere derjenigen Theodor Däublers, und auch des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Ebenso wie die Jugendbriefe wurden diese Tagebücher von Ernst Hüsmert eingeleitet und herausgegeben, einem Jugendfreund der Tochter, der Schmitt lange freundschaftlich verbunden war. Zum Vergleich der beiden Texte bemerkt der Herausgeber, „dass fast nichts von dem, was er seiner Schwester schreibt, im Tagebuch steht, und dass er fast alles, was im Tagebuch steht, seiner Schwester nicht mitteilt“ (S. X). Einleitend fasst er den biografischen Ablauf knapp zusammen. Das Tagebuch ist für die Zeit vom 16. Oktober bis zum 29. Dezember 1912, vom 13. September 1913 bis zum 13. Februar 1914 und vom 13. Juni 1914 bis zum 19. Februar 1915 erhalten, woraus sich eine Dreiteilung ergibt. Den vierten Teil der Edition bildet ein ausführlicher Anhang mit Abbildungen, einer Auswahl aus frühen Veröffentlichungen Schmitts, Rezensionen seiner frühen Werke und weiteren Materialien: so Kurzbiografien der wichtigsten, bisher kaum bekannten Gestalten dieser Jugend.

Der Text ist ein biografischer Schlüssel. Obwohl auch diese Aufzeichnungen literarisch durchgestaltet wirken und eingängig lesbar sind, spricht Schmitt hier ganz persönlich und privat. Sein wichtigstes Thema ist die Beziehung zu Pauline Carita von Dorotic, Cari genannt, der legendenumrankten ersten Frau; sie entpuppte sich später als eine Betrügerin, weswegen Schmitt in den 20er-Jahren eine Nichtigkeitserklärung seiner Ehe vom Staat erwirkte und auch mit Rom prozessierte. Im ersten Teil der Tagebücher dokumentiert Schmitt diese Liebe durch Auszüge intimer Liebesbriefe und reflektiert in ständiger Auseinandersetzung mit Otto Weininger und Strindberg auf die Sittlichkeit der Liebe. Wie Weininger geht er davon aus, dass „der Liebende in den Mutterschoß zurück will“ (S. 27). Während Weininger aber eine „Typisierung des Mannes“ entwickelt habe, sucht Schmitt eine „Typisierung der Frau“ (S. 38). Dabei orientiert er sich zwar an verbreiteten Stereotypen, entwickelt aber eine eigene, auch in der Thematisierung von Sexualität offene und exzentrische Sicht. Schmitt will seine Liebe unter der Idee der Ewigkeit sehen, unter der „Cari“ dann „keinen Vorgänger und keinen Nachfolger“ (S. 43) hat. Er spricht dabei „charakterologisch“ als „Anwalt“ in der „Hingabe an eine Idee“ (S. 42) und profiliert seine Liebe gegen die Treulosigkeit eines Freundes, Eduard Rosenbaum, der seinen Namen ohne Einwilligung missbrauchte (S. 50ff.). Einmal verdunkelt sich Schmitts hypermoralischer Sensitivität zwar das Bild der Geliebten (S. 58f.), und nachträglich betrachtet scheint er hier klarer zu sehen, doch die philosophische Idealisierung der Liebe herrscht vor. Der Herausgeber bemerkt, dass nicht zuletzt Schmitts Wille spricht, seinen Ideen entsprechend „gut“ zu sein und seiner eigenen Auffassung vom „guten“ Leben zu folgen. Dieser erste Teil endet mit wichtigen konzeptionellen Überlegungen zur Monografie „Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“ (S. 62ff.), die durch umfangreiche Notate zu Mauthner und Stammler ergänzt sind (S. 67ff.).

Der zweite Teil der Tagebücher, vom 13. September 1913 bis zum 13. Februar 1914 geführt, hat dann einen anderen Stil. Es überwiegt nun nicht mehr die philosophische Verarbeitung des intensiven Liebeserlebnisses, sondern der epische Bericht vom Alltag der Arbeit und Beziehung. Der Ton ist kafkaesk. Schmitt arbeitet ohne festen Lohn als Referendar und Gutachter unter den drückendsten Geld- und Zukunftssorgen, pendelt zwischen dem „Gericht“ und dem „Geheimrat“ Hugo am Zehnhoff, einem späteren preußischen Justizminister, einerseits und der intensiven Beziehung zu „Cari“ andererseits hin und her, wozu noch ständige Kontakte insbesondere mit dem Dichterfreund Theodor Däubler sowie dem Juristen Fritz Eisler kommen. Schmitt notiert seinen Alltag in der polaren Spannung beruflicher Abhängigkeiten und privater Hoffnungen episch breit, profiliert den Gegensatz von „Cari“ und „Geheimrat“, Bürokratie und Sexualität, plastisch und drastisch und baut den „Geheimrat“ derart zum tyrannischen Hoffnungsträger beruflicher Aussichten auf, dass wohl nicht wenige Leser an Kafka oder Robert Walser denken werden. Mal ist er „ekelhaft“, mal ist er ein „Prachtkerl“. Immer muss Schmitt hin und ihn unterhalten oder seine Bibliothek ordnen. Der Geheimrat tut einiges für Schmitt, aber nicht genug. Dramatischer Höhepunkt ist ein längerer Aufenthalt Caris, der „Mutter meiner Wahl“ (S. 33), bei der leiblichen „bösen Mutter“ (S. 114) und dem „trotteligen Vater“ (S. 138). Ständig schwankt Schmitt in seinen Stimmungen. Er will ein „bedeutender Mensch“ werden und hat doch „Angst vor den Juden“ (S. 140) und vor seiner Vermieterin, der er die Miete kaum zahlen kann. Der Held dieser Tagebücher erscheint als ein K., dem neben seiner formell ungeklärten juristischen Arbeit zwischen Gericht und Geheimrat wenigstens noch die Bibliothek, die Tagespresse, die intim erzählte leidenschaftliche Liebe und die energisch betriebenen, gleichwohl vielfältig ungewissen Heiratspläne bleiben.

Der dritte Teil beginnt mit wilden Selbstbezichtigungen über das Verhältnis zu Cari („Ich bin ein Mörder“). Schmitt fragt: „Wohin soll ich fliehen; zur katholischen Kirche. Aber ich kann doch nicht.“ (S. 157) Dann geht es weiter wie zuvor. Auch der Kriegsausbruch ändert am aufreibenden Alltag wenig. Eingehende politische Betrachtungen zum Krieg fehlen. Schmitt hofft auf militärische Erfolge, fürchtet die Russen, nimmt aber wenig Partei. Der Geheimrat und Cari bleiben die Achsen seiner Launen. „Misstrauen gegen Cari“ (S. 169) meldet sich. Der Straßburger Doktorvater Calker fördert Schmitt verlässlich (S. 171, 311, 318). Er wird ihn nach München holen und neue Lebenschancen eröffnen. Das Verhältnis zum Geheimrat ist zunehmend belastet. Dieses „Nilpferd“ liegt auf der „Seele“. Ein enger Freund verstirbt und der damals engste Freund, Fritz Eisler, dem Schmitt später die „Verfassungslehre“ widmet, fällt bereits bei Kriegsbeginn am 27. September 1914. Mit ihm war Schmitt „seit über 6 Jahren in einer Freundschaft verbunden“: „Ich habe jetzt im Laufe eines Vierteljahres meine beiden Freunde verloren und nichts scheint mir in der Fassungslosigkeit meiner gegenwärtigen Stimmung natürlicher, als dass ich nunmehr an die Reihe kommen muss“, meint Schmitt nun (S. 222). Zunehmend leidet er unter der Abhängigkeit: „Ein ganzes Jahr habe ich durch den Geheimrat verloren. Nichts habe ich dabei gelernt oder verdient.“ (S. 235) Zu allem Unglück wird Cari eines Diebstahls bezichtigt und polizeilich vernommen. Trotz seiner jüdischen Freunde, unter denen Georg Eisler bald ein Stück weit an die Stelle des verstorbenen Bruders tritt, findet Schmitt die Antwort auf seine Wirrungen nun nicht zuletzt in der „Wut über die Juden, […], die Münzfälscher, die alles echte Wachstum verfälschen und die Begriffe der Menschen verbiegen.“ Der Kontakt mit Däubler bleibt konstant. Selbstbewusstsein findet Schmitt auch bei der Lektüre seiner Schriften und in der Liebe zu Cari, die er trotz aller Umstände und Belastungen nicht in Frage stellt. Trotz des Bruchs mit dem Geheimrat (S. 296, 319f.) endet das Tagebuch glücklich mit dem Assessorexamen, der Heirat und dem Wechsel als Soldat in die Garnison nach München. Caris Drängen auf eine Bankvollmacht nur deutet am Ende neue Verwicklungen und Katastrophen an; die geliebte Cari wird in München die Wohnungseinrichtung versetzen und aus Schmitts Leben verschwinden.

Diese Tagebücher stellen die biografische Kenntnis und auch das psychologische Verständnis Schmitts auf eine neue Basis. Nicht nur zahlreiche biografische Details, sondern besonders das Kontaktnetz und Beziehungsleben werden sichtbar. Es zeigt sich, dass Schmitt tatsächlich mit Fritz Eisler und Däubler eng befreundet war. Trotz des engen Umgangs mit jüdischen Freunden ist nun auch sein früher Antisemitismus reich belegt. Der Katholizismus spielt dagegen, wie in den Jugendbriefen auch, nur eine untergeordnete Rolle. Schmitt bezeichnet ihn als eine Ausflucht. Die Beziehung zum „Geheimrat“ scheint damals für Schmitts weitere Karriere nur Episode zu sein. Als wichtigster Förderer bleibt der Doktorvater Calker im Hintergrund. Die alles überragende Heldin dieser Tagebücher aber ist Schmitts erste Ehefrau Cari. Sie rückt aus einer Legende des späteren Werkes in die Rolle der biografisch entscheidenden Person auf. Aus der Ich-Perspektive der Tagebücher bleibt sie dennoch etwas imaginär. Ihre Person wird nicht wirklich plastisch. Sie wirkt wie das Gespinst der Liebesphilosophie, die Schmitt eingangs in der kritischen Auseinandersetzung mit Weininger und Strindberg entwickelt. Nicht zufällig ist er über ihre „Subjektivität“ besorgt: „Es geht doch nicht ohne Objektivität und gesunden Menschenverstand im Leben. In der Philosophie wohl, auch in der Liebe, aber nicht in der Ehe.“ (S. 167). Damit ist Cari der Prototyp des Romantikers, den Schmitt später beisetzt. Im Januar 1915 schon notiert er: „Merkmal der spezifischen Romantik: die Unfähigkeit zur Objektivität, zum Abstrakt von sich selbst“ (S. 298).

Diese Tagebücher lesen sich wie der Roman einer heiklen Liebe. Streicht man den Autornamen und nimmt den Text fiktional, setzt man ein Pseudonym wie Negelinus, den Autor der „Schattenrisse“, so hat man einen autobiografischen Ich-Roman im Stile Robert Walsers. Vielleicht ist es der Schnekke-Roman, an dem Schmitt damals koautorschaftlich arbeitete. Statt des literarischen Witzes überwiegt aber der ständige Stimmungswechsel zwischen Selbstzerknirschung und -erhöhung, die aus späteren Texten sattsam bekannte „Larmoyanz“, die hier, ungebrochen durch geistesgeschichtliche Spiegelungen, aus ihren biografischen Quellen verständlicher wird: aus den Quellen der Verachtung der eigenen Familie und Herkunft, des Hasses auf die Abhängigkeit von einem bourgeoisen Establishment, dem Schmitt sich überlegen weiß, des starken, stolzen Willens zu einem eigengesetzlichen Leben, das er in der Liebe zu Cari und Freundschaft zu Eisler und Däubler sucht. Anders als im „Glossarium“ spiegelt Schmitt seine Lage hier nicht in geistesgeschichtlichen Identifikationen, sondern spricht seine Biografie auf sein Thema, seinen Willen zur eigenen Lebensführung konzentriert derart offen aus, dass man von einem echten Roman eines Lebens oder einer Jugendkrise und -entscheidung sprechen mag. Wieder einmal überrascht Schmitt sein Publikum: diesmal durch ein schonungslos offenes und drastisches Psychogramm. Fand das „Glossarium“, grob gesagt, im Antisemitismus seine Generalformel, so ist es nun eine leidenschaftliche Liebe, die bis in intime Details ausgebreitet wird: eine bürgerlich fragwürdige und ruinöse Liebe, die als Antwort wieder neue Rätsel gibt. Denn wer will die Aufrichtigkeit dieser Liebe und von Schmitts Versuch, ein eigenes, anderes Leben zu führen, bestreiten? Der Leser kann sich erneut kaum entscheiden zwischen Sympathie und Antipathie für die Person und ihr eigenartiges, merkwürdiges Leben. Man lese diese Tagebücher einmal mit Kafka und Robert Walser zusammen und transloziere so die Diskussion. Die Biografie des jungen Schmitt jedenfalls erscheint nun in gänzlich anderem Licht.

Anmerkungen:
1 Schmitt, Carl, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hrsg. Eberhard von Medem, Berlin 1991, S. 168, Notiz vom 22.6.1948.
2 Dazu vgl. Mehring, Reinhard, Carl Schmitt zur Einführung, Hamburg 2001, S. 12ff.
3 In: Schmittiana 1, 1988.
4 Schmitt, Carl, Jugendbriefe. Briefschaften an seine Schwester Auguste 1905 bis 1913, hrsg. Ernst Hüsmert, Akademie-Verlag, Berlin 2000.

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