R. Eppelmann u.a. (Hgg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung

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Titel
Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung.


Herausgeber
Eppelmann, Rainer; Faulenbach, Bernd; Mählert, Ulrich
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
557 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Natürlich soll es auch in diesem Bilanzband um den Versuch gehen, das Wesen und Leben dieser DDR, oder das, was diese kleine Welt im innersten zusammenhielt, zu erklären. Und seit dem Ende der DDR häufen sich ja die Erklärungsmodelle. Die Angebote scheinen sich stetig zu mehren, die Literatur ist nahezu unüberschaubar geworden: Da ist von einem totalitären bzw. posttotalitären Staat, von einem vormundschaftlichen Staat, von einem Versorgungsstaat oder von einem Ständestaat mit Kastenherrschaft die Rede, da spricht man von moderner Diktatur, Erziehungsdiktatur, von parteibürokratischer Herrschaft oder von einer Patrimonialbürokratie neuen Typs, da gibt es Charakteristika wie durchherrschte Gesellschaft, Organisationsgesellschaft, Klassengesellschaft, Konsensgesellschaft oder Nischengesellschaft, und da geistern Begriffe wie arbeiterliche und tragische Gesellschaft oder das Land der kleinen Leute und die roten Preußen durch die Literatur. Jeder kann sich sein kleines Modell zusammenbasteln aus dem großen Modellbaukasten der Theorien. Die DDR-Geschichte ist gleichsam zu einem Marktplatz der Ideen, zur Spielwiese und Probebühne, zum Experimentierfeld und Diskussionsobjekt der Politik-, Sozial- und Kulturwissenschaften geworden. Auf eine allgemein anerkannte Formel ließ sich die DDR freilich und zum Glück der wissenschaftlichen Zeitgeschichte bisher nicht bringen. Und wer nur ein wenig über den Tellerrand detailspezifischer Forschung hinausblickte, wurde immer wieder auf die "konstitutive Widersprüchlichkeit" (Detlef Pollack) oder die "unaufhebbare Multiperspektivität" (Martin Sabrow) der DDR-Gesellschaft gestoßen.

Nun liegt ein Band vor, der die Ergebnisse der DDR-Forschung in den 90er Jahren bilanziert. Er ist nicht zum 10. Jahrestag des Mauerfalls, auch nicht zum 50. Jahrestag der DDR , sondern zum 75. Geburtstag des Nestors der DDR-Geschichte Hermann Weber erschienen und würdigt damit auch dessen Lebenswerk. Studierenden, Lehrenden wie Forschenden wird dieser Band künftig ein Wegweiser und ein unerlässliches Hilfsmittel sein. Er enthält 53 Beiträge von 55 AutorInnen, unter denen, wenn ich mich nicht getäuscht habe, nur etwa 15 Ostdeutsche sind. DDR-Forschung scheint also eine Domäne der Westdeutschen zu sein, die ja auch die ostdeutschen Forschungseinrichtungen leiten und die Lehrstühle an den ostdeutschen Universitäten innehaben. So wächst zusammen... Im Mittelpunkt der Analysen steht die politische Geschichte der DDR. Dies war offensichtlich eine Vorentscheidung der Heraus- und Auftraggeber. Sie mit Verweis darauf zu erklären, dass ihr auch das besondere Augenmerk Hermann Webers gegolten habe, ist freilich etwas banal. Gleichwohl wird hiermit eine breite und intensive Forschungsarbeit der letzten Jahre sichtbar gemacht. Der Band ist in sieben große Abschnitte mit einer unterschiedlichen Zahl von Beiträgen gegliedert: Gesamtdarstellungen, Perioden und Ereignisse der DDR-Geschichte, Herrschaft und Repression, Widerstand und Opposition, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Politikfelder und ihre Zielgruppen, Internationale, Außen- und Deutschlandpolitik, Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur seit 1990 - Strukturen und Bilanz.

Um die überbordende Fülle des Angebots zu dokumentieren, will ich doch das Inhaltsverzeichnis in Kurzfassung wiedergeben. Kommentare zu den einzelnen Beiträgen würden allerdings den Rahmen sprengen. Einleitend stellt Bernd Faulenbach die DDR in den Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Unter I. Gesamtdarstellungen, Perioden und Ereignisse analysieren Manfred Wilke Wandlungen der historischen Deutung der DDR, Werner Müller Handbücher und Lexika zur DDR-Geschichte, Günther Braun Literatur zur SBZ 1945-49, Michael Lemke zu den 50er-Jahren, Rolf Steiniger zur Berlin - Krise, Monika Kaiser zum Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker und Detlef Nakath und Gerd-Rüdiger Stephan zu den 80er-Jahren. Teil II. Herrschaft und Repression enthält Artikel von Andreas Malycha zur Geschichte der SED, von Siegfried Suckut zu den Blockparteien, von Ulrich Mählert zu den Massenorganisationen, von Beate Ihme-Tuchel zur Ideologie, von Gunther Holzweißig zu den Medien, von Jens Giesecke zur Staatssicherheit, von Herman Wentker zu Justiz und Politik, von Hubertus Knabe zu Lagern und Haftanstalten und von Hans Ehlert und Armin Wagner zu Armee und Polizei. In III. Widerstand und Opposition beschreiben Karl Wilhelm Fricke die 40er und 50er-Jahre, Ilko-Sascha Kowalczuk den 17. Juni 1953, Rainer Eckert die 60er und 70er-Jahre, Robert Grünbaum die Biermann-Ausbürgerung, Erhart Neubert die 80er-Jahre, Detlef Pollack Bedingungsfaktoren der Revolution 1989/90 und Eckhard Jesse die friedliche Revolution von 1989/90.

Teil IV beschränkt sich auf Horst Dähn: Die Kirchen in der SBZ/DDR und Peter Maser: Juden in der DDR. Unter V. Politikfelder dokumentieren André Steiner die Wirtschaftsgeschichte, Thomas Lindenberger die Gesellschaftsgeschichte, Annette Kaminsky Alltagskultur und Konsumpolitik, Jens Schöne Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft, Rüdiger Thomas Kultur und Kulturpolitik, Gisela Hellwig Frauen zwischen Familie und Beruf, Peter Skyba Jugend und Jugendpolitik, Hans Joachim Teichler Sport und Sportpolitik, Thomas Ammer Erziehung und Bildung und Clemens Burrichter und Andreas Malycha Wissenschaft in der DDR. Teil VI. Außen- und Deutschlandpolitik enthält Beiträge von Gerhard Wettig zur sowjetischen Deutschlandpolitik, von Johannes L. Kuppe zur Außenpolitik der DDR, von Hans-Georg Golz zu die DDR und der Westen, von Michael Herms zu den deutsch-deutschen Beziehungen bis 1961, von Helmut Müller-Enbergs zur Deutschlandpolitik 1961-1982, von Manuela Glaab zur Deutschlandpolitik in den 80ern und von Michael Richter zur deutschen Einheit. Unter VII. Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur seit 1990 analysieren Mary Fulbrook die DDR-Forschung bis 1989/90, Klaus-Dietmar Henke die DDR-Forschung seit 1990, Jan Foitzik die Aufarbeitung in Osteuropa, Mathias Buchholz die Problematik der DDR-Archive, Tobias Hollitzer die gesellschaftliche Aufarbeitung, Rainer Eppelmann die Enquete - Kommissionen, Dirk Hansen die politische Bildung, Jörg Siegmund die Opferverbände, Hermann Schäfer die Musealisierung der DDR-Geschichte. Der Teil endet mit einem Beitrag von Markus Meckel über Hermann Weber.

Auf den folgenden über einhundert Seiten erwartet uns eine systematische Bibliografie, die in 29 Abschnitten 2066 Literaturangaben enthält. Wohlgemerkt, in der überwiegenden Zahl wissenschaftliche Literatur seit 1990. Publikationen aus der Zeit davor werden nur erwähnt, wenn sie von grundlegender Bedeutung sind. Schon die Zahlen sprechen für sich. Die 90er-Jahre erlebten einen Boom der DDR-Forschung sondergleichen, der wohl auf diesem Stand nicht mehr zu halten ist. Dabei konzentriert sich der Band vorwiegend auf die politische Geschichte. Analysen zur Wirtschafts-, Sozial-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte der DDR werden streng genommen nur in zehn Beiträgen geliefert. Die Kultur- und überhaupt die Gesellschaftsgeschichte der DDR ist deutlich unterrepräsentiert. Den Anspruch eines Kompendiums oder Handbuches der DDR-Forschung kann der Band somit nicht erfüllen. Es sei denn, man reduziert DDR-Forschung auf politische Geschichte. Und ein zweites Problem sei angemerkt: Der Band widerspiegelt zudem noch die verflossenen Kämpfe und Ausgrenzungen. Die Leistungen der abgewickelten DDR-Historiker in der Aufarbeitung der DDR-Geschichte bleiben außer Betracht. Eine "spät- oder neomarxistische Richtung" (S.43) - oder wie man sie auch immer bezeichnen mag - wird offensichtlich von der pluralistischen Wissenschaftstradition der Bundesrepublik nach wie vor ausgeschlossen. Das scheint mir ein Rückfall in die alten Zeiten des Kalten Krieges zu sein.

Inzwischen gilt die DDR-Geschichte als "überforscht" und die Zahl der Lehrveranstaltungen an den Hochschulen ist auf den Stand von 1990 zurückgefallen.1 Zugleich hat die Debatte um die Defizite und die Zukunftschancen der DDR-Forschung - ausgelöst von diesem Band "Bilanz und Perspektiven" - eine neue Dimension angenommen. Jürgen Kocka kritisierte die DDR-Forschung als weitgehend isoliert und zumeist selbstreferentiell. Sie müsse erst noch den Anschluss an die großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen der Zeit finden. Wobei er vor allem an eine vergleichende europäische Geschichtsbetrachtung dachte. Henrik Bispinck, Dierk Hoffmann, Michael Schwartz, Peter Skyba, Mathias Uhl und Hermann Wentker widersprachen, warnten davor, die DDR aus dem Blick zu verlieren und mussten freilich mancherlei Desiderata eingestehen. Ihnen wiederum antworteten Thomas Lindenberger und Martin Sabrow und verteidigten Kockas Anspruch. Insbesondere das Ende der DDR müsse im Rahmen eines europäischen, vielleicht sogar globalen Umwälzungsprozesses interpretiert werden. (Vgl. Frankfurter Rundschau vom 22.8., 30.9. und 12.11.2003.) Die Debatte kommt zur rechten Zeit. Wenn die Blüte der DDR-Forschung zu Ende geht, die Lehre zur DDR-Geschichte rückläufig ist und die Historisierung der DDR fortschreitet, müssen sich die Historiker neuen Fragen stellen. Gerade die Zeitgeschichte kann nicht mehr in den traditionellen und vorwiegend politischen und nationalen Bahnen fortgeführt werden. Sie verlangt geradezu nach sozialen und kulturellen, nach europäischen und welthistorischen Dimensionen. Eine Gesellschaftsgeschichte der DDR, wenn sie nur irgendwie Bestand haben will, muss ohnehin das eine tun und darf das andere nicht lassen.

Anmerkung:
1 Vgl. Pasternack, Peer, Gelehrte DDR, Wittenberg 2001; Rez. in H-Soz-u-Kult vom 9.4.2003

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