Cover
Titel
Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter


Autor(en)
Kintzinger, Martin
Erschienen
Stuttgart 2003: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
203 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Irrgang, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Martin Kintzinger ist einer der profiliertesten Bildungs- und Universitätshistoriker in Deutschland. Er ist durch eine Vielzahl differenzierter Studien zu mittelalterlichen Schulen und Universitäten bekannt geworden und ein engagierter Diskutant auf Tagungen und in Sammelbänden. Seine neueste Monografie, die aus Vorlesungen an den Universitäten München und Münster hervorgegangen ist, lässt daher eine spannende und auch unterhaltsame Lektüre erwarten. Tatsächlich ist der Vorlesungsstil beibehalten, leichtfüßig, essayistisch und anekdotenreich geleitet Kintzinger den Leser durch die lebendige und farbenprächtige Welt der mittelalterlichen Dom- und Klosterschulen, fragt nach Formen der Bildungsvermittlung an Hohen Schulen und diskutiert den praktischen Nutzen von Wissen. Dabei leistet Kintzinger auch den Brückenschlag zur modernen Wissensgesellschaft. Das Buch ist nicht nur für den versierten Bildungshistoriker, sondern gleichermaßen für ein breiteres Lesepublikum bestimmt. Es verzichtet gänzlich auf einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat, führt stattdessen ein breit angelegtes und aktuelles Literaturverzeichnis auf. Bereichert wird der Band durch zahlreiche Abbildungen. Insgesamt erinnert die Darstellung von Martin Kintzinger an die Monografie von Hartmut Boockmann, der vor einigen Jahren ebenso detailreich wie sprachlich ansprechend eine wissenschaftsphilosophische Universitätsgeschichte vorgelegt hat.1

Als erkenntnisleitende Frage beschäftigt Kintzinger, wann fundierte Bildung im Mittelalter praktische Qualifikationsvoraussetzung für gesellschaftliche Spitzenpositionen, dabei nutzbringend, instrumentalisierbar und letztlich ein Mittel zur Macht wurde. Kintzinger leistet zunächst eine Begriffsklärung, konstatiert, dass es für Bildung bis heute keine verbindliche Definition gebe. Ein Bildungskanon, die praktische Verwertbarkeit von Wissen und der verantwortungsbewusste Umgang mit den Bildungsinhalten sind zwar Kriterien eines Bildungsbegriffs, können jedoch nur eine vergleichsweise oberflächliche Annäherung an das Phänomen Bildung darstellen. Für Kintzinger ist Bildung daher auch eine „Kulturtechnik“ (S. 30) und eine Form der „Kommunikation“ (S. 42). Schon die mittelalterliche Terminologie musste sich mit Begriffen wie eruditio, prudentia, sapientia oder ratio behelfen, kannte einen umfassenden Bildungsbegriff nicht.

Die ursprünglichen Orte der mittelalterlichen Bildungsvermittlung und des Wissenstransfers waren die Kloster-, Dom- und Stiftsschulen. Die reiche monastische Kultur bot mit ihren wertvollen Bibliotheken, Handschriftensammlungen und gelehrten Geistlichen anspruchsvolle Ausbildungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Kintzinger fokussiert besonders das Klosterbeispiel St. Gallen. Stundenlanges Lesen, Zuhören und Memorieren nach festen Regeln bestimmten die Lehr- und Arbeitsatmosphäre in einer Klosterschule und im Skriptorium. Dabei standen nicht nur die theologischen Texte, die Kirchenväter oder die Antikerezeption im Zentrum der Reflektion, sondern auch durchaus praktisches Wissen wie Handwerk, Technik oder Garten- und Pflanzenkunde. Der Unterricht, gegliedert in das Trivium und Quadrivium, war äußerst diszipliniert, durch Personalität gekennzeichnet und vielfach didaktisch aufbereitet durch Merksprüche oder figurale Ausschmückungen in Handschriften. Jedoch auch die Prügelstrafe ist in vielen Texten überliefert. Keinesfalls war Bildung allein maßgeblich für eine Karriere in den kirchlichen Spitzenämtern. Die mittelalterliche Gesellschaft war keine „Leistungsgesellschaft“ (S. 77), sondern die soziale Herkunft, möglichst aus adeligen Familien, beeinflusste die jeweiligen Lebenswege.

Mit der vermehrten Gründung von Bistümern und Klöstern seit dem 10. und 11. Jahrhundert erweiterte sich auch das schulische Bildungsangebot durch die flächendeckende Entstehung vieler Kloster- und Domschulen. Bildungsvermittlung differenzierte sich, konzentrierte sich allerdings auch räumlich auf einflussreiche Bildungszentren. Europaweite akademische Wanderungen waren nötig, um eine besonders qualifizierende Bildung in einem dieser renommierten Zentren zu erwerben. Der traditionelle Lehrstoff und die persönliche Bindung an einen Lehrmeister, der für die Wissensvermittlung verantwortlich war, kennzeichnen die Unterrichtsformen auch an den Domschulen. Neuartig war hingegen die Ausbildung einer wissenschaftlichen Methodik, die, ausgehend von Frankreich, bereits die Genese der frühen europäischen Universitäten antizipierte.

Die ersten Hohen Schulen im 12. und 13. Jahrhundert entstanden sodann in Italien und Frankreich und fungierten gleichsam als Kaderschmiede für gelehrtes Personal in der königlichen Verwaltung. Ein Sonderfall stellt diesbezüglich die Gründung der Universität Neapel 1224 durch Friedrich II. dar. Bildungspolitik entwickelte sich zum Instrument der Herrschaftsstabilisierung. Daraus ist der langsame Übergang von idealistischer, erkenntnisorientierter gelehrter Wissensvermittlung zur zweckorientierten, praktischen Nutzanwendung des Wissens ableitbar. In Deutschland verdichteten sich die Universitätsräume hingegen erst im 15. Jahrhundert. Der Bildungsbegriff veränderte sich. Jeder, der sich Spezialkenntnisse auf einem Gebiet angeeignet hatte, konnte sich zurecht als gelehrt bezeichnen. Besonders in den Städten traten die Gelehrten (gens de savoir) nun selbstbewusst auf, sie rekrutierten sich zudem aus weiten Teilen der mittelalterlichen Gesellschaft; akademische Grade wurden zu Qualifikationsvoraussetzungen für Karrierepositionen. Schulordnungen bildeten sich heraus, Unterrichtsformen und Bildungsinhalte wurden entsprechend gesellschaftspolitischer Anforderungen normiert und modernisiert. In diesem Prozess spielten die Stadtschulen eine gewichtige Rolle. An den Universitäten etablierten sich ebenso neue Wissensinhalte, methodische Perspektiven variierten und innovative Unterrichtsformen wurden entworfen. Dabei war die europäische Universitätsgeschichte bis zum Humanismus wesentlich geprägt von den konkurrierenden Universitätsmodellen in Bologna und Paris. Dass die Universität dennoch ein sozial determinierter Ort blieb und kein Ort der sozialen Durchmischung, ist in der jüngeren Universitätsgeschichte hinreichend herausgearbeitet worden. Die spezifisch höfische Adelserziehung verlor in dieser Entwicklung gegenüber dem klerikalen und dem bürgerlichen Wissenserwerb an Qualität.

Auch heute ist der Wissende von unschätzbarer Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. Die Wissensgesellschaft begreift Martin Kintzinger dabei als eine Gesellschaft, die Bildung zur Grundlage ihres eigenen Fortbestandes macht und ein Geschichtsbewusstsein hat. Wissen und Macht stehen dabei untrennbar zusammen. Sehr gefährlich ist es, wenn Macht und Unwissenheit sich paaren. Kintzinger versteht es, diesen historischen Prozess der Instrumentalisierung von Wissen anschaulich zu skizzieren. Allerdings, die Vielzahl an Anekdoten erhöht zwar das Lesevergnügen, lässt den Leser jedoch aufgrund des Essay-Charakters manchmal den roten Faden der Argumentation aus dem Blick verlieren. Dass die Studie besonders auch einen breiten Leserkreis zu gewinnen beabsichtigt, geht bisweilen auf Kosten der Präzision. Manches bleibt verallgemeinert, z.B. wenn nur von „einer Kaiserurkunde in der Mitte des 12. Jahrhunderts“ (S. 114), die den fahrenden Scholaren Schutz gewährte, die Rede ist, anstatt die berühmte Roncaglische Scholarenkonstitution Authentica habita von 1158 beim Namen zu nennen.

Anmerkung:
1 Boockmann, Hartmut, Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, Berlin 1999.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension