Titel
Dai margini la memoria. Johannes Hinderbach (1418-1486)


Autor(en)
Rando, Daniela
Reihe
Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Monografie 37
Erschienen
Bologna 2003: Il Mulino
Anzahl Seiten
575 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Moddelmog, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Der Band, der hier präsentiert wird, basiert auf unedierten archivalischen Quellen und insbesondere auf der Untersuchung von Texten, die zur Bibliothek des Johannes Hinderbach gehörten: etwa 100 Manuskripten und ca. 40 Inkunabeln.“ (S. 9) Mit diesem Satz führt Daniela Rando den Leser in ihr Buch über den Fürstbischof Johannes Hinderbach ein. Die italienische Mediävistin hat den genannten Quellenbestand nicht neu entdeckt, aber sie hat ihn zum ersten Mal in seiner Gesamtheit erschlossen und untersucht, womit insbesondere die unzähligen Randbemerkungen des einstigen Besitzers und Lesers gemeint sind. Ganz wesentlich für die Gestalt des daraus entstanden Buches ist der Ansatz, diese Zeugnisse als Ego-Dokumente zu interpretieren und so dem Hinderbachschen „Selbst“ näher zu kommen. Darüber hinaus hat Rando den Versuch unternommen, in ihrer biografischen Arbeit zugleich aktuelle mediävistische Forschungsfelder aufeinander zu beziehen, die sonst eher in spezialistischer Spaltung bearbeitet werden. Hinderbach, lange Jahre als „gelehrter Rat“ Friedrichs III. tätig, beendete seine Karriere als Bischof von Trient. Ob ein Individuum des 15. Jahrhunderts zwei aus der Sicht von Historikern so gegensätzlich anmutende Lebensentwürfe integrieren konnte, auch das will Rando ergründen.

Hinderbach wuchs nach dem Tod seiner Eltern bei den Großeltern mütterlicherseits in Wien auf, wo er 1434 das Studium aufnahm. Die im akademischen Milieu fest verankerte Wiener Verwandtschaft war als soziales Netzwerk für den jungen Mann von größtem Nutzen. Neben der verwandtschaftlichen Protektion macht Rando Hinderbachs Fleiß und seine Techniken der Wissensaneignung sichtbar und zeichnet plastisch das Bild eines erfolgreichen „Modellstudenten“. Außerdem kann sie zeigen, dass der aufstrebende Akademiker an den Universitäten von Wien und Padua, wo er seit 1441 Recht studierte, und auch am Hof Friedrichs III., zu dem Hinderbach ebenfalls über seine Verwandtschaft in Kontakt kam, die politisch-ideologischen Probleme seiner Zeit kennen lernte und reflektierte. Moderat zustimmend setzte er sich mit konziliaristischen Urkunden auseinander, befasste sich mit Ursprung und Legitimation des Kaisertums und dessen Verhältnis zum Papsttum. Als Fluchtpunkt dieser Interessen erscheint in einer 1441/42 verfassten Lobrede Hinderbachs auf Albrecht II. seine affektive Bindung an die gesamte Dynastie der Habsburger (S. 125). Aber inwiefern lässt eine solche Selbstdarstellung Schlüsse auf das Hinderbachsche „Selbst“ zu?

Die Persönlichkeit des gelehrten Rats bleibt auch im Dunkeln, wenn Rando Hinderbachs diplomatische Aktivitäten, die politische Brisanz seiner Aufgaben, seine Position im stark durch Patronage strukturierten System des Hofes und seine Beziehungen nach Italien sowie zur päpstlichen Kurie nachzeichnet. Die Untersuchung bewegt sich dabei, sicher in fruchtbarer Weise, in jenem Deutungshorizont, der sich mit dem von Peter Moraw eingeführten Begriff der „Verdichtung“ anzeigen lässt. Die Quellenlage reicht hier nicht aus, um den sozialen Typus des gelehrten Rats in ein Modell von Personalität zu überführen. Etwas besser gelingt dies in einem Kapitel über den Kleriker Hinderbach, indem Rando in grundlegende Probleme von Kirche und Klerus des postkonziliaren Zeitalters einführt, im Wechselschritt damit zeigt, in welcher Weise Hinderbach davon persönlich betroffen war, und schließlich seine Reflexion dieser Dinge im Medium seiner Kommentare zu Enea Silvio Piccolominis Germania vorführt.

Zweifellos ist das sich anschließende gut zweihundert Seiten umfassende Kapitel über den Bischof Johannes Hinderbach der innovativere Teil des vorliegenden Buches. Hier steht die „innere Dimension“ dieses Mannes ganz im Zentrum. Seine Marginalien werden dabei nicht nur als Zeugnisse exegetischer Techniken, sondern als Medium vorgeführt, in dem Hinderbach in Dialog mit sich selbst trat, Selbstkonstruktionen entwarf, bestätigte, verfestigte und diese zugleich einem Publikum präsentierte. Der Zugriff auf die Gestalt des Bischofs ist also ein drastisch anderer als der auf den Diplomaten im Herrscherdienst. Fast möchte man sagen, Rando habe zwei Bücher geschrieben.

Der Untersuchung von Hinderbachs Kommentaren ist ein Abschnitt vorgeschaltet, in dem Zeugnisse mit ausdrücklichem Erinnerungscharakter behandelt werden. Einträge, die Hinderbach in seinen Kalendarien vorgenommen hat, betreffen in erstaunlicher Anzahl Ereignisse des eigenen Lebens. Vermerkt sind Geburt, Verleihung der Doktorwürde, erste Messe, Erlangung des Bischofsamts (mit insgesamt fünf Einträgen) wie auch von Hinderbach vorgenommene Kirch- und Altarweihen und Reliquientranslationen. Die Kernfamilie ist präsent, zwei Einträge spiegeln den Hofdienst, vier gelten Trienter Bischöfen. Die für seinen Amtsvorgänger und Förderer Georg Hack verzeichnete Seelmesse schließt ein Gebet für alle Trienter Bischöfe mit ein. Hinderbachs Aufmerksamkeit für die Memoria seiner Vorgänger spiegelt sich ebenfalls in seiner Neuordnung und Überarbeitung der Trienter Bischofsliste. Dass er sich diese Tradition zu eigen machte, zeigt der vorweggenommene Nachruf, den er vorsorglich für sich selbst verfasste. Die genannten Zeugnisse geben ein recht kohärentes Bild: „Hinderbach definiert sich in Beziehung zur Familie, zu Hof und Universität, aber seine ‚Identität‘ verfestigt sich schließlich im Bischofsamt.“ (S. 293)

Mit welcher Beharrlichkeit Hinderbach sich in seiner Lektüre zum Bischof „bildete“, lässt Rando ihre Leser in einer detaillierten Beschreibung nahezu miterleben. Seine Kommentare zeigen, dass er sich in seiner Amtsauffassung an lange tradierten Normen orientierte. Moralische Integrität, Keuschheit, Reinheit der Sakramente, Förderung des Kultus, aber auch Wahrung des Kirchenvermögens und Kirchenbau – das sind die Stichworte, denen Hinderbach während der Lektüre besondere Bedeutung beimaß. Die Persönlichkeit dieses Bischofs, so Rando, lässt sich nur abseits der wirkungsmächtigen Klischees vom verweltlichten Kirchenfürsten einerseits und dem asketischen Reformer andererseits beschreiben. Der Bischof Johannes Hinderbach war ein skrupulöser, ständig moralisierender Mensch, überzeugt von der Sündigkeit des Menschen. Sein Gott war ein richtender, rächender Gott. Die Sünde des Menschen einzudämmen, bestimmte deshalb Hinderbachs bischöfliche Amtsführung. Heiligenkult und Reliquienverehrung, vor allem aber die Messe, die Hinderbach an den Festtagen oft persönlich las, waren das, was er sich und seiner Gemeinde anbieten konnte. Für sich selbst suchte er zudem nach weiteren Heilmitteln, organisierte sein Gebetsgedenken bei Bruderschaften, spendete Almosen, fastete und vertraute sich so ganz den Möglichkeiten an, die ihm die Kirche für die Vergebung der Sünden offerierte.

Viel Raum nahmen in der Bibliothek Hinderbachs liturgische und für das private Gebet bestimmte Texte ein, und Rando vermutet, dass der Bischof die seit dem frühen Mittelalter empfohlene Abfolge von Lesen, Meditieren und Beten häufig praktizierte. Zweifelsohne hatte das persönliche Gebet für Hinderbach hohe Bedeutung: Schon als Student schrieb er an einen Text die Anmerkung: „Beachte hier viele gute Beobachtungen über Gebete.“ Und aus seiner Bischofszeit stammt der Kommentar: „Das Gebet ist Medizin gegen die bösen Gedanken.“

Hinderbach las und kommentierte auch zum Nutzen anderer: Sei es, dass ihm eine Wundererzählung besonders geeignet schien, die Seele der Gläubigen für Gott zu entzünden, sei es, dass er seiner Kirche liturgische Schriften zur Verfügung stellen wollte, die seinen pedantischen Ansprüchen oder auch seinen Gewohnheiten entsprachen. Kaum auf dem Trienter Bischofsstuhl angekommen, führte er auf der Basis eines Manuskript, das seit 1450 in seinem Besitz war, den nordalpinen Ritus des Marienlobs in seiner Kathedrale wieder ein – zuvor war dort der römische Cursus gelesen worden. Dieser Fall zeigt Hinderbach nicht nur als sorgenden Bischof, sondern auch als Kleriker, der dem nordalpinen Ritus über Jahre hinweg die Treue hielt, im persönlichen Gebet und in der Liturgie – was in der Tat kaum zum verbreiteten Bild des „Benefizienjägers“ passen will, obwohl Hinderbach in denselben Jahren einige recht einträgliche Pfründen in seinen Besitz gebracht hatte. Hier ist zu erahnen, dass die Selbstkonstruktionen, die Hinderbach in unterschiedlichen Lebenswelten entworfen haben mag, Elemente enthielten, die in der Veränderung stabil blieben.

Zuletzt wirft Rando einen Blick auf die Ängste des Bischofs, seine Furcht vor Frauen, Türken und Juden. Letztere wurden 1475 in seiner Bischofsstadt des Ritualmords beschuldigt; Hinderbach ließ sie verbrennen. Seine Kommentare belegen, dass seine Abneigung zur Obsession wurde. Er beschaffte sich Schriften über andere vermeintliche Gräueltaten der Juden und arbeitete sie durch. Contra Judeos vermerkte er etliche Male, ob er die Bibel las oder historiografische Werke. Diese ergänzend, reichte er am Rand seine Sicht der Ereignisse von 1475 gezielt künftigen Lesern weiter. Wie Erinnerungsarbeit, Selbstvergewisserung und auch Selbstpräsentation dabei ineinander greifen, kann Daniela Rando eindrucksvoll zeigen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Land
Sprache der Rezension