Titel
Work of Memory. New Directions in the Study of German Society and Culture


Herausgeber
Confino, Alon; Fritzsche, Peter
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
$32.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Föllmer, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Erinnerung“ spielte eine zentrale Rolle in der Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu kulturgeschichtlichen Problemfeldern. In den 1990er-Jahren haben zahlreiche Arbeiten mit innovativen Methoden untersucht, wie sich Gesellschaften in Denkmälern, Gedenkfeiern und Erzählungen mit ihrer Vergangenheit beschäftigten. Diese historiografische Konjunktur der „Erinnerung“ hält kaum vermindert an, doch nach der ersten Thematisierungswelle zeichnen sich unübersehbare Ermüdungserscheinungen ab. Viele wichtige Symbole, Mythen und Rituale sind mittlerweile monografisch bearbeitet, und Studien über „yet another imagined community“ (David Blackbourn) stoßen nicht mehr auf dasselbe Interesse wie vor einigen Jahren. Das Erscheinen der „Deutschen Erinnerungsorte“ hat diesen Überdruss wohl eher verstärkt als überwunden, weil sich hier die zu einem monumentalen Werk addierte Gelehrsamkeit mit einem deutlichen Defizit an systematischer Reflexion paarte.1

Vor diesem Hintergrund bedarf die Geschichte von Erinnerungskulturen dringend neuer konzeptioneller Anregungen und empirischer Ergebnisse. Der von Alon Confino und Peter Fritzsche herausgegebene Sammelband „The Work of Memory“ leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Confino und Fritzsche zielen darauf, Erinnerung nicht in ihren musealen, symbolischen, mythischen und rituellen Repräsentationen aufzusuchen, sondern sie als „set of practices and interventions“ (S. 5) zu verstehen und ihrer dynamischen Rolle im Deutschland der Neuzeit nachzugehen. Damit wollen sie die internalistische Vorstellung einer von Handlungen, materiellen Gütern und Interessen abgelösten Welt der Kultur überwinden, die sie weiten Teilen der bisherigen Forschung vorwerfen. Im Zentrum steht die Frage, wie Erinnerung soziale Beziehungen strukturierte – in den Handlungen von Subjekten wie in institutionellen Entscheidungsprozessen. Ferner geht es den Herausgebern darum zu untersuchen, in welchen Kategorien über Zeit gedacht wurde, und so der Erinnerungsobsession der Moderne auf den Grund zu gehen. Denn als der Nexus von Identität und Tradition seine Selbstverständlichkeit verloren habe, sei es unmöglich geworden, die Vergangenheit zu „bewältigen“. Darin liege keineswegs ein spezifisch deutsches Defizit, sondern der Kern der conditio moderna.

Dieser neuzeitliche Umgang mit der Vergangenheit wird im ersten Teil des Bandes behandelt. Craig Koslofsky analysiert, wie die Reformation die für die mittelalterliche memoria prägende spirituelle Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten auflöste, die Gräber auf Friedhöfe außerhalb der Stadtmauern verlagerte und die individuelle Geschichte in das Zentrum der Leichenpredigten rückte. Jonathan H. Hess argumentiert, dass die bis heute verbreitete Vorstellung der Juden als „Volk der Erinnerung“ im 18. Jahrhundert erfunden worden sei, um die Emanzipation der Minderheit entweder für unmöglich zu erklären oder sie als wünschenswerte Rückkehr zum ursprünglichen Judentum und notwendige Voraussetzung für einen modernen Staat zu konzipieren. Die Entstehung der Nostalgie im frühen 19. Jahrhundert wird von Peter Fritzsche behandelt; erst durch die unumkehrbare Zäsur der revolutionären und napoleonischen Epoche sei es - insbesondere für Exilanten und Romantiker - plausibel geworden, eine Verlustgeschichte der Moderne zu erzählen. Marcus Funck und Stephan Malinowski arbeiten heraus, dass der deutsche Adel seine traditionell raffinierte Erinnerungskultur durch Autobiografien erweiterte, um den Machtverlust von 1918 zu kompensieren und sich im neuen Rechtsradikalismus zu verorten, aber seit den 1960er-Jahren vor allem nostalgische Thematisierungen einer verlorenen Lebenswelt publizierte.

Im zweiten Teil steht das Verhältnis von Erinnerung und Alltag im Mittelpunkt. Auf der Basis einer umfassenden Oral History von Hildesheim im „Dritten Reich“ argumentiert Andrew Stuart Bergerson, dass die Vorstellung „gewöhnlicher Deutscher“ bereits von den Zeitgenossen konstruiert worden sei, die damit eine scheinbar traditionelle Gegenwelt zum politischen System entworfen, die Nazifizierung informeller Beziehungen ermöglicht und diese anschließend ausgeblendet oder banalisiert hätten. Elizabeth Snyder Hook untersucht die Thematisierung traumatischer Kriegsfolgen in Heinrich Bölls frühem Roman „Und sagte kein einziges Wort“, in dem sich Ehepartner voneinander entfremden, weil sie ihre Kommunikationsfähigkeit verloren haben und apathisch geworden sind. Die „Wende“ war für die ostdeutsche Bevölkerung nicht zuletzt deshalb eine tiefe und oft verunsichernde Zäsur, weil sie implizite Erinnerungen an vertraute Konsumgüter und damit alltägliches Wissen entwertete, wie Elizabeth A. Ten Dyke anhand von Interviews zeigt.

Zusammenhänge zwischen Erinnerung und materiellen Interessen werden im dritten Teil behandelt. Paul Lerner schildert, wie Veteranen nach dem Ersten Weltkrieg den traumatischen Charakter ihrer Erinnerungen betonten und so ihre Pensionsansprüche begründeten, während ihnen nationalistische Psychiater Willensschwäche und Hysterie unterstellten. Nach 1945 hatten Industrielle ein besonderes Interesse an der Gestaltung von Erinnerung, um den Verdacht der Komplizenschaft mit den Nationalsozialisten abzuwehren; wie S. Jonathan Wiesen deutlich macht, stellten sie sich zunächst als Opfer von Krieg und Diktatur dar, um sich dann mit Hilfe moderner, aus Amerika importierter PR zu Vorläufern des Wirtschaftswunders zu stilisieren. Elizabeth Heineman zeigt, dass Soldatenwitwen und Frauen von Kriegsgefangenen in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle für die Konstruktion einer nationalen Opfergeschichte spielten und die Ersteren – sofern sie als „echt“ angesehen wurden, d.h. keine neue Liaison eingegangen waren – einen legitimen Anspruch auf Pensionszahlungen hatten. Dagegen verweigerte ihnen die DDR symbolische Anerkennung und staatliche Leistungen, was die Frauen von Kriegsgefangenen jedoch mit Protesten quittierten.

Der Band überzeugt nicht nur durch gelungene Einzelbeiträge, sondern auch als ganzes Buch. Zum einen arbeitet er wesentliche Grundlagen des neuzeitlichen Umgangs mit der Vergangenheit heraus, wobei er stärker als die bisherige Literatur auf die innovative Rolle und die Anpassungsfähigkeit „konservativer“ Romantiker und Adliger aufmerksam macht. Zum anderen betont der Band, dass Erinnerungen eine wesentliche Rolle für soziale Beziehungen spielen und umgekehrt erst in sozialen Beziehungen gemacht werden, und geht damit in der Tat über die bislang dominierende Erforschung von Denkmälern, Gedenkfeiern und Mythen hinaus. Dieses Wechselverhältnis von Erinnerung und Kommunikation stellt ein wichtiges und viel versprechendes Problemfeld dar, wie auch Pionierstudien zur massenkulturellen Thematisierung der Vergangenheit zeigen.2

Etwas weniger deutlich als diese methodische Stoßrichtung ist, in welchem Verhältnis allgemein moderne und spezifisch deutsche Charakteristika von Erinnerung stehen. Bei der Lektüre entsteht der Eindruck, dass solche Besonderheiten erst durch den Nationalsozialismus und seine Folgen produziert worden seien. Das ist möglicherweise richtig und auch intendiert, aber es wäre lohnend gewesen, die erinnerungskulturellen Konsequenzen des Nationalsozialismus systematischer herauszuarbeiten, sie gegen andere, bis heute diskutierte Faktoren (etwa die längerfristigen Wirkungen der Reformation oder die vergleichsweise späte Nationsbildung) abzuwägen und die deutsche Erinnerungsgeschichte durch einige komparative Überlegungen genauer zu profilieren. Die Herausgeber haben sich jedoch bewusst dagegen entschieden, die einzelnen Beiträge zu einer übergreifenden historischen These zu bündeln und betonen stattdessen die Unabgeschlossenheit des modernen Kampfes mit der Erinnerung. Deshalb endet der Band mit einem an Walter Benjamin und den zeitgenössischen Theologen Johann Baptist Metz anschließenden Epilog von Steven T. Ostovich über „dangerous memories“, die immer wieder durchbrechen, sich deshalb der kontrollierenden Einordnung in große Erzählungen entziehen und die Vorstellung in Frage stellen, dass der Umgang mit der Vergangenheit jemals abgeschlossen sein könnte.

Anmerkungen:
1 François, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001; vgl. die kritische Besprechung von Koshar, Rudy, Where Does German Memory Lie?, in: Central European History 36 (2003), S. 345-445.
2 Vgl. etwa Gries, Rainer; Ilgen, Volker; Schindelbeck, Dirk, Gestylte Geschichte. Vom alltäglichen Umgang mit Geschichtsbildern, München 1989; Knoch, Habbo, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.

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