E. A. Swift: Popular Theater and Society in Tsarist Russia

Cover
Titel
Popular Theater and Society in Tsarist Russia.


Autor(en)
Swift, Eugene Antony
Reihe
Studies on the History of Society and Culture
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 46,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Zentrum für vergleichende Geschichte Europas, Freie Universität Berlin

„Theater“ ist ein hoch willkommener Untersuchungsgegenstand der Kulturgeschichte, sind doch so viele ihrer Motive an diesem Ort versammelt: karnevaleske Buntheit, Sprache und Bilder, Inszenierung von Wirklichkeiten, Machtausübung und widerstrebende Subversivität. Ein wunderbares Thema, und E. Anthony Swift ist bei weitem nicht der Einzige, der sich aktuell der Theatergeschichte Russlands angenommen hat. Das Theater als Ort der Konstruktion von Wirklichkeiten und Selbstdefinitionen sowie als wichtige Quelle für Historiker, die mit den aus offiziellen Quellen gezogenen Erkenntnissen nicht zufrieden sind, ist zu einem methodisch nicht unproblematischen, aber heuristisch wichtigen Forschungsobjekt geworden. Swifts Ansatz beruht dabei in erster Linie auf Foucault, aber auch Bourdieu findet Eingang in seine Arbeit.

Die Entwicklung der Theater der Zaren und der adligen Elite als Ort westlicher Kultur in Russland steht der Tradition von Karneval und „balagany“ (Wandertheater) mit Akrobatik, Magie und Puppenspiel gegenüber. Diese Kluft zwischen den beiden (Theater-)Kulturen versuchten verschiedene Gruppen im späten 19. Jahrhundert zu überwinden.1 Das Theater entwickelte sich, so Swift, zu einem Raum der Machtausübung durch Kultur, Bildung und Zivilisierung und zu einem Diskurs, in dem ein Kampf um symbolisches Kapital geführt wurde. Die Ambitionen liberaler und national orientierter „kulturtregery“ konkurrierten mit sozialistischen Hoffnungen auf Erziehung zu mehr Klassenbewusstsein durch das Theater sowie mit den unterschiedlichen Plänen von Fabrikbesitzern und Abstinenzgesellschaften zivilisierend auf Arbeiter einzuwirken. Das Repertoire wurde von diesen verschiedenen Akteuren ausgesucht und von der Zensur beschnitten; die Arbeiter sahen sie als erziehungsbedürftig und bildungshungrig, als moralisch verkommen und als unbeschriebenes Blatt.

Wenn diese selbsterklärte Bildungsmacht bei Swift anhand ausgiebiger Quellenstudien detailliert dargestellt wird, so drängt sich der Eindruck auf, dies alles in ähnlicher Weise bereits anderswo gelesen zu haben: Das klassische Scheitern der Narodniki-Bewegung und die Probleme der Rechtsreform von 18642 haben diese Kluft zwischen Elite und Volk und den arroganten Idealismus der Intelligenzija ebenso illustriert wie beispielsweise die erfolglosen Versuche russischer Psychiater, das Phänomen der „klikuschi“ („Schreierinnen“) aufzuklären, oder die „künstlerisch“-machtorientierten Ambitionen aufgeklärter Gutsbesitzer.3 Vor allem aber nährt sich der Verdacht, ein ursprünglich wichtiger Ansatz sei hier deutlich überstrapaziert worden und stoße an seine Grenzen: Ein auf die These vom disziplinierenden Wissen reduzierter Foucault ist mittlerweile allgemein bekannt und erweist sich forschungsleitend als nur noch wenig ergiebig; die Kultur- und Diskursgeschichte braucht nicht unbedingt mehr und mehr Details zur Illustration von inzwischen kaum bestrittenen Thesen, sondern vor allem neue Fragen.

Interessanter als die zuweilen sehr redundante Beschreibung der Kontroll- und Disziplinierungsambitionen ist somit der Blick auf die Zielgruppe des Ganzen: die Arbeiter Moskaus und St. Petersburgs. Sehr stark als Gegensatz zum herrschenden Diskurs konzipiert, werden sie als Theaterpublikum und Theatermacher beschrieben: immer aktiv, immer ein wenig subversiv. Ein Problem der Beschreibung von „Volkskultur“, wie sie im Rahmen einer machtkritischen, an Foucault orientierten Konzeption häufig üblich ist, wird hier deutlich. Das proletarische Publikum und sein „Miss“-Verstehen der Elitenkultur wird mit großer Sympathie dargestellt: „Many mistook the actors´ curtain calls for a continuation of the action. After one performance of Ostrovky´s `Poverty is No Vice´, the appearance of the actors onstage to take their bows provoked the audience to conclude that Korshunov had married Liubushka after all, since they came out holding hands.“ (S. 208)

Die Anekdoten, mit denen Swift das Scheitern der disziplinierenden Wissensvermittlung zeigt, lassen den Leser unwillkürlich lächeln. Dieses Lächeln ist der Grundhaltung der russischen Intelligenzija, welche die Arbeiter als erziehungs- und lenkungsbedürftige Kinder sah und behandelte, nicht so unähnlich – es ist genau das Lächeln, das Foucault kritisiert hat. So intensiv in den letzten Jahren die Konstruktion des Anderen auch analysiert wurde, enthüllt sich doch in vielen historiografischen Texten eine Vorstellung von den historischen Subjekten, die dem klassischen Bild des „edlen Wilden“ so unähnlich nicht ist. Ob und wie diese foucaultsche Falle zu umgehen ist, muss hier dahingestellt bleiben. Festzustellen bleibt nur, dass dies keine Frage von political correctness ist; vielmehr scheint sie zuweilen die analytische Schärfe zu beeinträchtigen. Die „positiven“ Aspekte proletarischen Missverstehens der ihnen aufgedrängten Elitenkultur werden bei Swift als Anekdoten erwähnt und bleiben heuristisch leer. Erst mit dem Befund: „Other laughter was more problematic“, kommt er zu interessanten Ergebnissen: beispielsweise wenn das Publikum über einen Kindsmord auf der Bühne lacht (und Swift dies als Reaktion auf einen Konflikt mit der traditionalen patriarchalischen Kultur zurückführt, S. 222) oder das Weinen einer jungen Braut, deren Ehemann in den Krieg ziehen muss, mit Lachen und zweideutigen Kommentaren bedacht wird (von Swift als Ausdruck für das geringe Ansehen und die Gewalterfahrungen junger Ehefrauen interpretiert, S. 228f.) – wenn also die Reaktionen des Publikums nicht nur unseren Erwartungen, sondern auch unseren Werten widersprechen und somit die Sympathie gegenüber der Naivität des anderen nicht mehr greift.

Das stärkste Kapitel des Buches ist folgerichtig dasjenige, welches von dem Paradigma der Machtkritik weniger bestimmt ist. Swift setzt sich hier mit Arbeitertheater und Proletkult-Konzepten auseinander und stellt diese Kultur in den Rahmen von Urbanisierung und Modernisierung. Volkstheater wurden um die Jahrhundertwende zu einem festen Bestandteil hauptstädtischer Kultur. Ein neuer Bildungshunger der Arbeiter und der Stolz, sich zu entwickeln und „dazu zu gehören“ bilden sich heraus. Daneben greift Swift hier überzeugend den spezifischen Charakter des Theaters im Unterschied zur geschriebenen Literatur auf – erst hier geht er deutlich über Arbeiten wie die von Jeffrey Brooks4 hinaus – und weist auf die Möglichkeiten der Improvisation und Interpretation hin, durch die Inszenierungen einen besonderen Charakter bekamen. Theater wurde so zum Werkzeug einer Identitätskonstruktion, welche Elemente der Jahrmarkts- und Karnevalstraditionen mit Elitenkultur und urbanen Problemen und Kritik verband.

Bei all dem ist Swifts Umsicht im Umgang mit seinen Quellen hervorzuheben. Allzu verführerisch muss es gewesen sein, die Chancen, welche der Quellenkorpus zum Thema Theater im Gegensatz zum Bereich der Literatur bietet, zu überschätzen. Es gibt ein Publikum, das unmittelbar reagieren konnte, Bilder von Theaterbauten und Aufführungen sowie Befragungen der Zuschauer. Doch Swift bleibt sich der Grenzen, innerhalb derer seine Erkenntnisse sich bewegen, stets bewusst. Die tatsächlichen Aufführungen müssen nicht unbedingt den Manuskripten entsprochen haben; Antworten bei Umfragen wurden vor allem von Zuschauern gegeben, die lesen und schreiben konnten. Die Arbeitertheater wurden nicht von der Mehrzahl, sondern von einer kleinen Auswahl der städtischen Arbeiter organisiert. Ebenso wie die Realität des Theaters und die Mehrzahl der Zuschauer dem Bildungseifer der Elite verschlossen blieben, werden sie sich weitgehend wohl auch der historischen Forschung entziehen.

Wenn Swift trotz des sehr skeptischen Blickes auf „Modernisierung“ und „Zivilisierung“ wiederholt den Begriff der civil society benutzt, so beschreibt er damit einen Ansatz, ein Konzept und vor allem eine Entwicklung. Wenn er die lebendige Theaterkultur der Jahrhundertwende, die zunehmende Alphabetisierung, Engagement und Kommunikation darstellt, so setzt er diese in Kontrast zur Situation vor der Bauernbefreiung 1861 und vor der Aufhebung des staatlichen Monopols auf den Theatermarkt der Hauptstädte 1882. Auf diese Weise wird eine von vielen Modernisierungen beschrieben: die Modernisierung der russischen Arbeiterkultur im urbanen Kontext Moskaus und St. Petersburgs. Insbesondere die Forschungen der letzten Jahre, die Modernisierung in Russland mit der Entwicklung von populärer Konsumkultur in Verbindung brachten, werden hier in vielfacher Weise ergänzt. Wenn dieses detailreiche und zuverlässig recherchierte Buch deutlich macht, wie weit die Kulturgeschichte in den letzten Jahren gediehen ist, so zeigt es aber auch, an welche Grenzen diese Forschungsrichtung stoßen kann – in methodologischer wie in heuristisch-konzeptioneller Hinsicht.

Anmerkungen:
1 Vgl. McReynolds, Lousie; Neuberger, Joan (Hgg.), Imitations of Life. Two Centuries of Melodrama in Russia, London 2002; Kimerling Wirtschafter, Elise, The Play of Ideas in Russian Enlightenment Theater, DeKalb 2003.
2 Vgl. Baberowski, Jörg, Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864-1914, Frankfurt am Main 1996.
3 Vgl. Worobec, Christine D., Possessed. Women, Witches, and Demons in Imperial Russia, DeKalb 2001; Roosevelt, Priscilla, Life on the Russian Country Estate. A Social and Cultural History, New Haven 1995.
4 Vgl. Brooks, Jeffrey, When Russia learned to read. Literacy and popular literature 1861 – 1917, Princeton 1988.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension