N. Buschmann: Deutung von Krieg und Nation

Titel
Einkreisung und Waffenbruderschaft. Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850-1871


Autor(en)
Buschmann, Nikolaus
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 161
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Becker, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

„Die Kampflust, welche in Deutschland so mächtig rege geworden war, ist, weil ihre Befriedigung auf dem Schlachtfelde vereitelt worden, in die Publizistik gefahren“. Dieses Zitat aus einer österreichischen Zeitung von 1859, das Nikolaus Buschmann im Schlusskapitel seiner von Dieter Langewiesche betreuten Tübinger Dissertation anführt (S. 341), könnte ihr auch als Motto vorangestellt sein: Schon in den 1850er und 1860er-Jahren, und nicht erst im Zeichen des Weichen stellenden Frankreichfeldzugs von 1870/71, wurde der Krieg zu einem großen ‚nationalen’ Thema in der deutschsprachigen Presse. Er konnte es werden, weil er sich zu einer zentralen Projektionsfläche für das nationalistische Ideengut entwickelte, dessen Siegeszug auch nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 nicht mehr aufzuhalten war. Der Krieg spielte für die Selbstdeutung der Nation eine so maßgebliche Rolle, dass öffentliche Deuter wie Zeitungsjournalisten auch begrenzte oder an der Peripherie angesiedelte militärische Auseinandersetzungen begierig aufgriffen, um hieran eine vielgestaltige Diskussion von Nationskonzepten aufzuhängen. So lange es „den“ nationalen Einigungskrieg noch nicht gab, kompensierte die öffentliche Rede das faktische Ausbleiben des ersehnten nationalpolitisch-militärischen Durchbruchs.

Um das Wechselspiel von Nationalisierung des Krieges und Militarisierung des Nationsbegriffs konkret zu erhellen, bedient Buschmann sich eines methodischen Instrumentariums, das er in Anlehnung an den Tübinger Sonderforschungsbereich „Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ entwickelt hat. Im Kern handelt es sich bei diesem Instrumentarium um einen konstruktivistisch aufbereiteten Erfahrungsbegriff. Der Rekurs auf Erfahrung steht für die Orientierung an der subjektiven Wahrnehmung und Deutung, der konstruktivistische Zugriff setzt voraus, dass diese Wahrnehmung und Deutung von vorab existierenden kulturellen Mustern gesteuert wird. Besonders wichtig ist hierbei die Sprache. Wer in einem solchen Sinne nach Kriegserfahrung fragt, analysiert die gesellschaftlich verfügbaren sprachlichen Muster, die für die Interpretation von Krieg geeignet waren. Buschmann konzentriert sich auf die öffentlich bereit stehenden Muster, die er einem Strauß von Zeitungen und Zeitschriften entnimmt. Dieser Strauß ist breit gefächert: Er bricht die kleindeutsche Siegerperspektive auf, indem er auch österreichische Organe einbezieht; die christliche Perspektive, indem er auch jüdische Standpunkte berücksichtigt; die Konzentration auf die politische Publizistik, indem auch Unterhaltungsmedien wie die populären Familienzeitschriften zu Wort kommen. All dies macht die sorgfältige Rekonstruktion einer vielstimmigen Deutungslandschaft möglich.

Problematisch erscheint allerdings, dass Buschmann ausgerechnet den Begriff der Erfahrung zu seinem theoretisch-methodischen Perspektivpunkt erklärt und sich anschließend bei der Quellenauswahl gänzlich auf Printmedien beschränkt. Bei aller Plausibilität des konstruktivistischen Ansatzes beinhaltet der Terminus Erfahrung doch Bedeutungselemente, die auch auf Nicht-Intellektualisierbares, auf das konkrete Erleben in einem umfassenden Sinne abheben. Diese Elemente lassen sich nicht ohne weiteres aus dem Begriff herausdefinieren, ohne dass beim Leser ein gewisses Befremden entsteht. Zumindest ‚Zwischenglieder’ wie schriftliche Selbstzeugnisse hätten noch herangezogen werden müssen, um der Annahme einer umfassenden Wahrnehmungssteuerung durch die öffentlichen Diskurse tatsächlich Plausibilität zu verleihen. So wirkt der Erfahrungsbegriff reichlich aufgesetzt. Nicht von ungefähr taucht er in den analytischen Kapiteln der Arbeit kaum noch auf. Buschmann spricht stattdessen von Deutungsmacht, Deutungsstrategien etc. – überzeugender wäre es gewesen, von vornherein bei solchen oder ähnlichen Begrifflichkeiten zu bleiben, die zum Konzept der Studie viel besser gepasst hätten.

An einem Beispiel lässt sich dieser Einwand verdeutlichen. Das zweite Kapitel des Buches ist den Anfängen der Industrialisierung der Kriegführung im Untersuchungszeitraum gewidmet. Dabei wird die Behauptung aufgestellt, diese Veränderung sei keineswegs ausgeblendet, sondern sehr wohl in die Darstellung des Krieges integriert worden. Als Belege werden vor allem Abbildungen und Beschreibungen moderner Waffen und Berichte von deren Wirkungen, furchtbaren Verletzungen und Verstümmelungen, herangezogen. Damit ist aber der wesentliche Aspekt nicht erfasst. Darstellungen von Waffen hat es gegeben, seit überhaupt von Kriegen berichtet wird; grausame Verletzungen fügten auch die Kanonen des 15. Jahrhunderts ihren Opfern schon zu. Was sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kategorial verändert, ist auf einer anderen Ebene angesiedelt: Einerseits wird der Erfolg im Krieg grundsätzlich mehr und mehr von wirtschaftlich-industriellen Faktoren abhängig, während militärische Fähigkeiten im engeren Sinne an Bedeutung verlieren; zweitens sieht sich der Soldat im Gefecht immer weniger einem identifizierbaren Feind gegenüber – die Bedrohung anonymisiert sich, das Töten wird ziellos. Der erste Aspekt ist in der Kriegsdeutung aber an nationale Tugenden zurück gebunden und wird dadurch entschärft. Sogar die Betonung der Rolle des Zündnadelgewehrs im Feldzug von 1866 wird nationalkonfessionell überhöht, wie Buschmann selbst mit einem schönen Zitat illustriert, das Dreyse als den Luther der Waffentechnik bezeichnet. Der zweite Aspekt führt in den Bereich des Gefechtserlebnisses, also genau jene Sphäre, die allenfalls indirekt berührt wird, wenn man Kriegserfahrung nur über die Zeitungs- und Zeitschriftenpublizistik erfasst. Bilder von Kanonen in der „Gartenlaube“ sagen nichts über die Wirkung dieser Kanonen in der Schlacht aus, über die Bewusstseinszustände von Soldaten, die mit dieser Wirkung konfrontiert wurden. Durch seinen methodischen Ansatz wird Buschmann dazu verleitet, einen Wandel der Kriegserfahrung zu unterstellen, der bei einer systematischen Auswertung der Selbstzeugnisse von Soldaten keineswegs zu Tage tritt.

Die zeitgenössische Darstellung der Veränderungen bei Waffentechnik und Kriegführung ist aber nur eines von vielen Themen, die Buschmann in seiner Arbeit behandelt. Er verzichtet darauf, einen einzelnen Aspekt bis in die kleinsten Verästelungen zu verfolgen. Stattdessen ist es ihm um einen Panoramablick über das gesamte Diskussionsfeld zu tun, das die Wechselwirkungen von Krieg und Nationsbegriff behandelt. Dabei kommen Strategien der Kriegslegitimation, Feindbilder, religiöse Kriegsdeutungen, Wandlungen des Soldatenbildes, der Tod fürs Vaterland, das Verhältnis von Nation und Territorium, die Geschlechterordnung des Krieges und vieles andere zur Sprache. Zu jedem dieser Deutungskomplexe wird ein diachroner Schnitt durch den Untersuchungszeitraum vorgenommen. Diese Arbeitsweise bietet den Vorteil, dass die ausgesprochene Beharrungskraft vieler Interpretationsmuster sichtbar wird; für viele von ihnen wird außerdem nachgewiesen, dass sie nicht erst am Vorabend der Reichsgründung, wie häufig angenommen, sondern bereits in den vermeintlich von (national-)politischem Stillstand geprägten 1850er-Jahren entstanden. Damit begnügt Buschmann sich aber noch nicht. Er verknüpft den diachronen Schnitt jeweils mit einem synchronen Zugriff, der das Spektrum der verschiedenen deutungspolitischen Positionen, festgemacht an den zugeordneten Zeitungen und Zeitschriften, in seiner vollen Breite aufspannt. Dadurch entsteht ein hoher Grad an Komplexität, der aber analytisch und darstellungstechnisch jederzeit souverän bewältigt wird.

Mit dieser Vorgehensweise hängt es auch zusammen, dass das Buch keine Generalthese entwickelt. Es liefert stattdessen eine Vielzahl von Einzelergebnissen. Manche dieser Einzelergebnisse bieten durchaus Neues. Die Sorge etwa, mit der die jüdischen Zeitungen den aufkommenden Nationalismus beobachteten, weil sie mit ihm die Gefahr ihrer Exklusion verbanden, ist für diesen frühen Zeitraum noch nicht in solcher Deutlichkeit beschrieben worden. Wenig Beachtung hat in der Forschung bisher auch das Interpretationsmuster des ‚Racenkampfes’ für den Krieg von 1866 gefunden: Preußische oder kleindeutsch-preußenfreundliche Blätter zeigten mit dem Finger auf die slawischen Völker in der Habsburgermonarchie, um einen klaren Gegensatz zwischen den Kriegsparteien zu konstruieren und Österreichs Anspruch zu bestreiten, zur Führung Deutschlands berufen zu sein. Ansonsten tendieren Buschmanns Untersuchungen aber eher dazu, bereits bekannte Forschungsergebnisse, sehr deutlich etwa in den Abschnitten über Krieg, Nation und Geschlechterordnung sowie über Nationalidentität und Feindbilder, auf der Basis neuer Quellen noch einmal zu bestätigen. Auch das ist verdienstvoll, zumal dann, wenn immer wieder auch Ergänzungen und Differenzierungen im Detail gelingen.

Die größte Stärke der Studie besteht sicherlich darin, dass sie nachweisen kann, wie dicht die Rede über den Krieg schon in den beiden Jahrzehnten vor der Reichsgründung mit der Rede über die Nation verknüpft war. Die beiden Diskurse waren miteinander verzahnt, sie interpretierten sich wechselseitig und stellten Leitbilder füreinander bereit. Der daraus entstehende Komplex eines national-militärischen Deutungssystems mit hoher Polyvalenz und Anschlussfähigkeit besaß eine eminente Überzeugungs- und Durchschlagskraft. Nach und nach gerieten fast alle politischen Akteure in seinen Sog; die meisten Gegensätze, die die politisch-soziale Landschaft in Deutschland lange Zeit beherrschten, sei es derjenige zwischen Liberalen und Konservativen, derjenige zwischen den christlichen Konfessionen oder derjenige zwischen liberalen und orthodoxen Protestanten, wurden durch die Wirkungsmacht dieses Deutungsmusters entscheidend abgeschwächt, ja teilweise sogar, von Nuancen abgesehen, gänzlich nivelliert. Diesen Prozess noch einmal detailliert nachgezeichnet zu haben, ist ohne Frage von hohem Nutzen für die Forschung, auch wenn bei der Lektüre des Buches die erwähnte Schieflage beim Erfahrungsbegriff, die häufige Konfrontation mit längst Bekanntem und ein teils weniger analytisch als vielmehr didaktisch daherkommender sprachlicher Gestus stören.