Titel
German Travel Cultures.


Autor(en)
Koshar, Rudy
Erschienen
Oxford 2000: Berg Publishers
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
£15.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Mai, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

»Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen«, wusste schon 1786 das Lied »Urians Reise um die Welt« zu berichten. Üblicher war es allerdings, Reiseberichte zu verfassen. Dass diese – im Nachgang oft publizierten – Erzählungen nicht nur Eindrücke von neuen Erfahrungen, Landschaften und Kulturen wiedergaben, sondern dass die tatsächliche und scheinbare Fremdheit auch zu Selbstreflexionen herausforderte, macht sich die neuere Reiseforschung zunutze. Sie analysiert die Reiseberichte als individuelle und kollektive Artikulationen moderner Identität.

Im hier anzuzeigenden Buch wird dieses Herangehen auf einen medialen Mittler des Reisens übertragen. Rudy Koshar, Professor of German and European Studies an der Universität Wisconsin-Madison, untersucht die Textgattung Reiseführer mit dem Ziel, den verschiedenen touristischen Identitäten von Reisenden auf die Spur zu kommen. Koshars Studie interessiert sich allgemein für die Evolution von Freizeitpraktiken in modernen Gesellschaften, konkreter geht es ihr um Genese und Ausdifferenzierung, um Kontinuität und Wandel von »Reisekulturen« in Deutschland zwischen 1900 und 1960. Wichtigste Quelle der Untersuchung sind deutsche und amerikanische Reiseführer, die sowohl als Wegbereiter des modernen Tourismus und als Katalysatoren individueller Reisepraktiken als auch als Motoren und Produkte von »Reisekulturen« verstanden werden. Mit dem Begriff »Reisekultur«, zweifellos der Leitbegriff der Studie, bezeichnet Koshar – eher vage – den sich wandelnden Horizont von Wissen und Erwartung, an dem sich Reisende orientieren konnten. Unklar bleibt dabei, wie sich Reisekultur und »tatsächliches« Reisen zueinander verhalten.

Ein wesentliches Ziel der Untersuchung wird darin gesehen, mit Hilfe einer Analyse der Genese und der Interaktion verschiedener Reisekulturen die mannigfaltigen Sinnwelten des modernen Tourismus auszuleuchten. Touristische Reiseführer werden hierbei als von den Reisekulturen beeinflusste Texte interpretiert, von denen Reisende Sinn und Orientierung beziehen konnten. Reiseführer sind für Koshar einerseits Führer auf dem »beaten track«, andererseits verstärken sie die individualisierenden Funktionen des Tourismus. Entgegen den Darstellungen, die in der Existenz von Reiseführern einen Grund für den Niedergang des Reisens und seinen Ersatz durch »packaged experiences« sehen, möchte Koshar zeigen, dass Reiseführer Räume geschaffen haben für individuelle Praktiken.

In seiner Studie unterscheidet und behandelt Koshar fünf relevante Reisekulturen in Deutschland zwischen 1900 und 1955: eine national-liberale, eine modernistische, eine sozialistische, eine nationalsozialistische und eine deutsch-amerikanische. Als Aushängeschild der national-liberalen Reisekultur fungiert der Baedeker. Koshar begreift den Baedeker als den ersten wichtigen Generator (und Manipulator) touristischer Erfahrung in der Moderne, zudem als ein zentrales Hilfsmittel zur Erleichterung des individuellen Reisens und zum Verständnis anderer Reiseführer. Der Baedeker sei das Ebenbild bürgerlichen Reisens schlechthin gewesen. Damit augenscheinlich verbunden war ein weitgehendes Ausblenden von Schattenseiten der (modernen) Wirklichkeit, aber auch populärer Traditionen oder etwa des Nachtlebens der Großstädte.

Diese Defizite griffen Reiseführer der 1920er-Jahre auf, die sich ebenso wie ihre Nutzer von der Instanz »Baedeker« emanzipieren wollten (und diese Distanzierung gleich im Titel anführten: »Was nicht im Baedeker steht«). In ihnen habe sich eine neue, die modernistische Reisekultur widerspiegelt. Im Unterschied zum bürgerlichen Vorbild habe sie sich dem »realen Leben« gewidmet und sich für das »Andere« interessiert. Eine zentrale Rolle des »here and now« nahm dabei die sexuelle Revolution ein. Koshar hebt hervor, dass die Touristen nun etwa auch in die Rotlichtviertel der Städte gelotst wurden. Im Unterschied zu dieser gegenwartsnahen Reisekultur sei die im gleichen kulturellen Milieu entstandene sozialistische Variante eher in die Zukunft gerichtet gewesen. Ihr Ideal war der reisende Arbeiter, der Unterweisung benötigte. Koshar weist allerdings darauf hin, dass sich der klassenkämpferische Impetus insbesondere dann verlor, wenn der Dietz-Führer, der hier als Exempel dient, touristische Gebiete behandelte, in denen politische Konflikte weniger relevant waren. Beide Reisekulturen waren somit – wie auch die national-liberale des Kaiserreiches – auf eine spezifische Klientel festgelegt. Koshar fragt daher, ob es letztlich nicht die nationalsozialistische Reisekultur war, die – indem sie alle „arischen“ Deutschen zu repräsentieren vorgab – zur erfolgreichsten deutschen Reisekultur avancierte. Als literarische Erscheinung der letzteren Reisekultur analysiert Koshar den 1937 von zwei SA-Mitgliedern herausgegebenen Band »Wir wandern durch das nationalsozialistische Berlin«, der allerdings – so Koshar – nur wenig Absatz gefunden haben dürfte, da er im Wesentlichen Plätze aufführte, an denen Straßenkämpfe stattgefunden und nationalsozialistische Märtyrer ihren Tod gefunden haben.

Nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg sei der US-amerikanischen Reisekultur eine entscheidende Rolle dabei zugefallen, das touristische Deutschland wiederaufzurichten. Am Beispiel des Fodor-Führers – zu Anfang der 1950er-Jahre sei dies der einzige umfangreiche Deutschlandführer gewesen, der in den USA erhältlich war – erläutert Koshar, dass in diesem Text eine neue amerikanisch-deutsche Reisekultur ihren Niederschlag gefunden habe, welche die vorangegangenen Kulturen ersetzte: »Not Baedeker's world of nationally oriented liberalism; not the interwar theologies of sex, class, and race; but a new Atlantic synthesis now gave form and meaning to the travel culture in which Americans [and] West Germans [...] took part« (S. 202). Allerdings konzediert Koshar im knappen Schlussteil, dass dies nicht als Scheitern eines bürgerlichen Liberalismus verstanden werden dürfe, vielmehr verkörpere der – noch immer existente – Baedeker dessen Triumph und Stärke.

Koshars Buch ist flüssig zu lesen, es steckt voller Ideen und bietet Anknüpfungen an vorliegende Arbeiten zur Tourismusforschung und -geschichte. Der unterschiedliche Forschungsstand zu den einzelnen behandelten Zeiträumen führt allerdings dazu, dass der jeweilige Kontext nicht gleichermaßen erhellt werden kann. Daher wirkt der Balanceakt zwischen allgemeinen Ausführungen über die sozialen und kulturellen Voraussetzungen des Reisens in dem jeweils besprochenen Zeitabschnitt einerseits und einer detaillierten Textexegese des jeweils als exemplarisch vorgestellten Reiseführers andererseits streckenweise unausgewogen. Die ausführliche Besprechung der einzelnen Reiseführer macht zudem auf ein zentrales methodisches Problem aufmerksam. Koshar legt den einzelnen Reisekulturen jeweils nur eine Quelle zugrunde. Es ist allerdings zu vermuten, dass der Einbezug anderer relevanter Reiseführer des Untersuchungszeitraumes (beispielsweise Meyer oder Grieben für die Zeit zwischen 1900 und 1939) sowie die Berücksichtigung der fortdauernden Existenz des Baedeker (oder anderer Reiseführer) die geschilderten zeitlichen Zäsuren und sozialen Distinktionen weit weniger gravierend erscheinen lassen würde. Außerdem verblüfft der Schachzug, für die Nachkriegszeit ausschließlich einen US-amerikanischen Reiseführer über Deutschland zu analysieren. Es bleibt fraglich, ob diese Quelle Rückschlüsse über deutsche Reisekulturen erlaubt. Insgesamt handelt es sich um eine methodisch problematische Vorgehensweise. Von einem einzigen Reiseführer auf eine Reisekultur zu schließen, ist eine unzulässige Verallgemeinerung. Die zeitliche Abfolge suggeriert außerdem, dass jeweils eine einzige Reisekultur die jeweils Einzige frühere abgelöst habe. Nur für die Zwischenkriegszeit scheint das nicht zu stimmen. Warum nur dort, nicht aber für die anderen Zeiträume? Wenn man daraus Rückschlüsse für die (reisende) deutsche Gesellschaft zieht, hieße das, dass sie sich von einer monolithischen in eine pluralistische und wieder zurück in eine (amerikanisierte) Monokultur verwandelt hätte.

Die zentrale These der Studie schließlich wird leider empirisch nicht belegt. Obwohl Koshar in der Einleitung und im Schluss hervorhebt, dass alle Reisekulturen nur den Rahmen für individuelle touristische Praktiken boten und dass die Touristen den Reiseführer als ein nützliches Werkzeug akzeptierten, ihm aber nicht willenlos folgten, wird in der Analyse gerade auf diese »stillen Produktionen« (Michel de Certeau) verzichtet – der Rezeption und Aneignung der mediatisierten Reisekulturen wird keine Aufmerksamkeit geschenkt. Trotz der genannten Einschränkungen liefert das Buch – und darin vor allem dürfte seine Stärke liegen – Hypothesen für die weitere Forschung.

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