J. R. Lilly: La Face cachée des GI's

Titel
La Face cachée des GI's. Les Viols commis par des Soldats Américains en France, Angleterre et en Allemagne pendant la Seconde Guerre Mondiale 1942-1945


Autor(en)
Lilly, J. Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 21,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Ullrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Es war die Befreiung“, erinnert sich Uwe Timm in seinem Buch „Am Beispiel meines Bruders“ an seine erste Begegnung mit amerikanischen GIs im Jahr 1945. „Wie die Soldaten in ihren Khakiuniformen lässig in den Jeep steigen. Und uns, den Kindern, Kaugummi, Schokolade, Kekse zuwerfen.“ Ähnliche Berichte ließen sich zuhauf anführen. Anders als die russischen Soldaten, die im kollektiven Gedächtnis der Deutschen als Vergewaltiger und Plünderer gespeichert sind, werden die amerikanischen GIs als freundliche Befreier erinnert, die Kaugummis und Schokolade an deutsche Kinder verteilten und amouröse, aber freiwillige Beziehungen zu deutschen „Fräuleins“ unterhielten. Doch entspricht dieses kollektive Erinnerungsbild der historischen Wahrheit? In einem jüngst in Frankreich erschienenen Buch versucht der an der Kentucky University lehrende Soziologe und Kriminologe J. Robert Lilly, dem „verborgenen Gesicht“ der amerikanischen GIs des Zweiten Weltkrieges nachzuspüren, indem er Vergewaltigungen durch US-Soldaten in England, Frankreich und Deutschland untersucht. Die Vergewaltigungen durch russische Soldaten sind in letzter Zeit im Rahmen des neuen deutschen „Opferdiskurses“ und in den Diskussionen um das Tagebuch der Berliner „Anonyma“ breit thematisiert worden. Muss nun das Bild des amerikanischen GI’s korrigiert werden?

Lillys Studie besteht aus fünf Kapiteln. In einem einführenden, systematischen Kapitel analysiert der Autor verschiedene Formen und Funktionen von Vergewaltigungen im Kriege und stellt heraus, dass es sich bei den von US-Soldaten im Zweiten Weltkrieg verübten Vergewaltigungen um spontane Aktionen von Individuen handelte – im Gegensatz etwa zu den organisierten Massenvergewaltigungen im Bosnien-Konflikt der 90er-Jahre. Anschließend nähert er sich seinem Thema „Vergewaltigungen durch amerikanische Soldaten auf dem europäischen Kriegsschauplatz in Großbritannien, Frankreich und Deutschland und ihre Verfolgung durch die Militärjustiz“ in vier Hauptkapiteln. Die ersten drei (Kap.2-4) folgen den US-Streitkräften auf dem Vormarsch von der Ausgangs- und Nachschubbasis Großbritannien zu den Kampfschauplätzen in Frankreich und Deutschland von 1942 bis 1945. Das fünfte Kapitel behandelt in systematischer Weise den Umgang mit Vergewaltigungen in der US-Militärgerichtsbarkeit, wobei dies eingebettet wird in eine allgemeine Diskussion der Geschichte von Militärgerichtsbarkeit und Kriegsgerichten in den USA.

Lillys Studie beruht hauptsächlich auf den Akten der Militärgerichte, die über einzelne Prozesse gegen Vergewaltiger in der US-Armee angelegt wurden. Gesammelt wurden die Fälle bei dem im April 1942 eingerichteten Büro des „Judge Advocate General“ (JAG) der US-Armee, das über Revisionen zu entscheiden hatte und dessen Meinung vor der Vollstreckung der einzelnen Urteile einzuholen war. Darüber hinaus verwendet der Autor zwei verschiedene Statistiken, die vom JAG angelegt wurden und jeweils unterschiedliche Angaben über die Zahl der Vergewaltigungen bieten. Problematisch ist dabei die hohe Dunkelziffer der Vergewaltigungen. Man wird Lilly zustimmen, dass die archivierten Fälle ebenso wie die Statistiken des JAG nur einen Teil der tatsächlichen Vergewaltigungen aufführen. Wie hoch allerdings die Dunkelziffer wirklich ist, bleibt pure Spekulation. Lilly entscheidet sich für die sehr hohe Zahl von 95 Prozent, die er den Forschungen des 1999 verstorbenen Cambridger Kriminologen Leon Radzinowicz entnimmt. Auf diese Weise rechnet er die von ihm in den Archiven gefundenen 379 Fälle, beziehungsweise die in den Statistiken genannte Höchstzahl von 854 Fällen auf insgesamt etwa 18.000 Fälle hoch. Hinzu kommt, dass die beim JAG archivierten Fälle wohl nur die brutalsten und grausamsten Taten beinhalten und die „normalen“ Fälle offenbar gar nicht archiviert wurden.

Die drei eigentlichen, den Vergewaltigungen gewidmeten Kapitel enthalten im Einzelnen jeweils drei Elemente. In erster Linie geht es Lilly um eine systematische Herausarbeitung von Vergewaltigungsschemata und um eine statistische Analyse der Täter- und Opfergruppen. In dieser Hinsicht ist seine Studie eher von einem systematischen, soziologisch-kriminologischen Erkenntnisinteresse geprägt als von einem historischen. Gleichzeitig will Lilly den Opfern ihre Stimme zurückgeben und ihre Leiden dem Vergessen entreißen. Das Buch enthält daher, zweitens, detaillierte Schilderungen einzelner Vergewaltigungsfälle und der sich anschließenden Prozesse, die jeweils zur Illustration den systematischen Aspekten beigefügt sind. Diese Einzelschicksale machen einen substantiellen Teil des Buches aus. Die Sprache ist zurückhaltend, kühl-beschreibend und darum bemüht, voyeuristische Effekte zu vermeiden. In gewisser Weise überlädt Lilly jedoch das Buch mit diesen detaillierten Einzelbeschreibungen und reiht sie auch gelegentlich bloß additiv aneinander. Drittens gibt Lilly jeweils kurze, in mancherlei Hinsicht vielleicht zu holzschnittartige Skizzen zur politisch-sozialen Lage in den jeweiligen von ihm behandelten Ländern, um den „kriminogenen Hintergrund“ herauszuarbeiten.

Die wichtigsten Erkenntnisse seiner Studie bezieht Lilly aus dem Vergleich der Vergewaltigungen in den drei von ihm untersuchten Ländern. Zunächst kommt er zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass die Zahl und die Brutalität der Fälle von Großbritannien über Frankreich nach Deutschland zunahmen. Im Unterschied zu Großbritannien war in Frankreich durch Besatzung und Krieg die soziale Ordnung destabilisiert und die traditionellen Geschlechterrollen aufgeweicht worden. Dies habe, so Lilly, den Schutz der Frauen erschwert. Außerdem hätten die US-Soldaten ein bestimmtes Bild von Frankreich im Kopf gehabt, wonach sich französische Frauen prinzipiell durch eine größere sexuelle Freizügigkeit auszeichneten. Hinzu kam die Brutalisierung durch die konkreten Kriegserfahrungen nach der Invasion, wobei Lilly allerdings zu dem überraschenden Schluss kommt, dass die überwiegende Mehrheit der Vergewaltigungen in Großbritannien und Frankreich gerade nicht von den Kampftruppen, sondern von hinter den Linien operierenden Versorgungseinheiten verübt wurde.

Die Mehrzahl der von Lilly untersuchten Vergewaltigungen, über 60 Prozent, fand jedoch in Deutschland statt. Während nach Lilly die Vergewaltigungen in Großbritannien und Frankreich in den Bereich der sexuellen Kriminalität einzuordnen sind, sieht er im Verhalten der US-Soldaten in Deutschland Züge einer „operation pillage“ (pillage=Plünderung). Als „Frau des Feindes“ seien die deutschen Frauen noch sehr viel schutzloser gewesen als ihre britischen und französischen Geschlechtsgenossinnen. In einigen Fällen waren die Vergewaltigungen, so Lilly, auch bewusste Versuche, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu rächen. Im Gegensatz zu Großbritannien und Frankreich waren es in Deutschland auch zunehmend Kampftruppen, die die Vergewaltigungen verübten. Auch im Umgang der Militärgerichte mit den Vergewaltigungen vermag Lilly einen Wandel festzustellen, und zwar hin zu größerer Milde der Urteile. Wurden in Großbritannien und Frankreich noch eine ganze Reihe von Vergewaltigern gehenkt, so ist in Deutschland kein einziges Todesurteil vollstreckt worden. In den Prozessen glaubt Lilly Spuren des Kollektivschulddenkens festzustellen, nach dem es sich bei den Opfern eben „nur um eine Deutsche“ gehandelt habe. In Großbritannien und Frankreich sei demgegenüber ein größerer Respekt vor den Opfern als den Frauen der befreundeten Alliierten zu spüren gewesen.

Ein weiteres zentrales Erkenntnisinteresse der Arbeit richtet sich auf den von Lilly schon in früheren Werken behandelten Zusammenhang von US-Militärgerichtsbarkeit und Rassismus. Die Mehrheit der von den amerikanischen Militärgerichten im Zweiten Weltkrieg wegen Vergewaltigungen verurteilten Soldaten waren Schwarze. Die Erklärung dieses Faktums ist eines der Hauptanliegen Lillys. Dabei schießt er auch mal über das Ziel hinaus, z.B. wenn er Vergewaltigungen von weißen Frauen durch schwarze Soldaten letztlich mit dem Rassismus der US-Gesellschaft und der auf Rassentrennung basierenden amerikanischen Armee erklärt und damit im Grunde entschuldigt. Er kann jedoch eindrücklich nachweisen, wie sich die rassistischen Stereotype und der Gedanke der sexuellen Rassentrennung in den Verfahren der US-Armee spiegeln und sich in härteren Urteilen gegen Schwarze niederschlugen. Damit ruft er nachhaltig ins Gedächtnis wie stark die US-Streitkräfte vor allem zu Beginn des Zweiten Weltkriegs noch durch Rassismus geprägt waren.

Es ist nicht Lillys Anliegen, einen Beitrag zum deutschen „Opferdiskurs“ zu leisten. Vielmehr ist sein Buch eindeutig auf amerikanische Debatten bezogen. In den USA ist der Mythos der Kämpfer des Zweiten Weltkriegs ein wichtiger Bestandteil der politischen Identität. Seine narrative Form liegt in den verherrlichenden Werken von Autoren wie Tom Brokaw („The Greatest Generation“, 1998) oder Stephen E. Ambrose („Band of Brothers“, 1992, „Citizen Soldiers“, 1997, „The Good Fight“, 2001) vor. Für die Legitimation der Kampfeinsätze in Afghanistan und im Irak ist er intensiv herangezogen worden. Gegen diese politisch motivierte Glorifizierung der GIs des Zweiten Weltkriegs wendet sich Lilly, wenn er den Rassismus der US-Streitkräfte herausstellt und betont, auch die negativen Seiten der US-Soldaten und ihres Verhaltens zeigen zu wollen, um so zu einem gerechten Bild des Zweiten Weltkriegs zu gelangen. Es spricht nicht gerade für die Toleranz und Liberalität der amerikanischen Öffentlichkeit, dass sein Buch bisher nur in Frankreich veröffentlicht werden konnte.

Muss also das Bild des Kaugummi und Kekse verschenkenden GIs revidiert werden? Sicherlich ist das eindeutig positive Bild des GIs in Deutschland auch ein Produkt von Stilisierungen aus der Zeit des Kalten Krieges und der Amerikanisierungsprozesse der deutschen Gesellschaft nach 1945. Negative Erfahrungen mit GIs wurden so konsequent aus der kollektiven Erinnerung verdrängt. Auf der anderen Seite vermag Lillys Studie nicht überzeugend zu belegen, dass es sich bei den Vergewaltigungen um mehr handelte als um Einzelphänomene. Zu einem Massenphänomen werden die Vergewaltigungen durch US-Soldaten nur durch die Luftbuchungen, die Lilly mit seiner Annahme einer sehr hohen Dunkelzifferquote vornimmt. Um eine Revision des gängigen Bildes vom amerikanischen GI zu rechtfertigen, müsste Lilly sehr viel sichere Angaben über die Häufigkeit der Vergewaltigungen machen können als er es mit seinem Quellenmaterial zu tun vermag. Im großen und ganzen wird daher der Schokolade verteilende GI doch eher das typische Phänomen gewesen sein. So vermag Lilly zwar nicht das gängige Bild des amerikanischen GI nachhaltig zu erschüttern. Seine Studie ist dennoch ein wichtiger Versuch, den politisch motivierten Glorifizierungen der „Greatest Generation“ entgegenzuwirken, die zur Legitimation des neuen präventiven Interventionismus der USA benutzt werden.

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