: Der Gulag. . Berlin 2003 : Siedler Verlag, ISBN 3-88680-642-1 736 S. € 32,00

: The Gulag Survivor. Beyond the Soviet System. Piscateway 2001 : Transaction Publishers, ISBN 0-7658-0071-3 € 32,53

: Goulag. . ? 9999 : A. Francke Verlag, ISBN ?

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wladislaw Hedeler, Berlin

Bei der deutschen Ausgabe handelt es sich um eine gekürzte Fassung des 2003 bei Doubleday in New York unter dem Titel „Gulag. A History“ erschienenen Buches von Anne Applebaum. Es ist denen gewidmet, die beschrieben haben, was geschehen ist. Auf die knappe Einführung (S. 9-39) folgen ein thematischer Teil und zwei chronologisch angelegte Teile, in denen die Ursprünge des Gulags (S. 41-152), das Leben und die Arbeit in den Lagern (S. 155-434) sowie der Aufstieg und Fall des Lager-Industrie-Komplexes (S. 437-622) skizziert werden.

In der Anlage, hinsichtlich des Umgangs mit den Quellen und der Präsentation des Materials, erinnert das vorliegende Buch zunächst an Alexander Solshenizyns „Archipel Gulag“. Doch Applebaum will das von Solshenizyn aufgegriffene Thema nicht nur fortschreiben, sondern unter Berücksichtigung der heute zugänglichen Quellen auf neue Weise (S. 21) behandeln. Sie hat für das Buch in den Baltischen Republiken, im Moskauer Staatsarchiv GARF, in Archangelsk, Petrosawodsk, Syktywkar und Workuta recherchiert sowie einzelne Überlieferungen, Memoirenliteratur und viele, von Memorial herausgegebene Publikationen ausgewertet.

Nach diesen Ankündigungen ist die Erwartungshaltung hinsichtlich neuer Informationen sowohl über einzelne Struktureinheiten der Hauptverwaltung Lager des NKWD der UdSSR, GULAG, als auch über die einzelnen Gulags, d.h. die Besserungsarbeitslager, in den von der Verfasserin aufgesuchten Regionen außerordentlich hoch. Mit Blick auf den zu erwartenden Erkenntniszuwachs nimmt man es in Kauf, das auf die von deutschen Wissenschaftlern vorgelegten Publikationen zum Thema – hier seien nur Ralf Stettners Buch über den Gulag als Wirtschaftsgigant und Meinhard Starks Studien über die Frauen im Gulag genannt, – ausgespart bleiben.

Der erste Teil, in dem die Ursprünge des Besserungsarbeitslagersystems skizziert werden, endet mit dem Jahr 1939. Selbstverständlich sind für eine verallgemeinernde Überblicksdarstellung auch andere Zäsuren denkbar. Auf die in der Literatur verbreitetsten, die Jahre 1929, 1937 bzw. 1956, geht Applebaum in der Einleitung sowie im ersten und dritten Teil kurz ein. Im Lager, bemerkt Applebaum, ein Leitmotiv Solshenizyns aufgreifend, war es nicht anders als in der übrigen Sowjetunion (S. 23), der Unterschied war lediglich gradueller Natur (S. 25). Gleichzeitig legt sie den Akzent darauf, dass die Besserungsarbeitslager nach 1937 zeitweise (S. 212) bzw. endgültig (S. 132) zu Todeslagern wurden, in denen es keine Propaganda mehr gab (S. 136). Diese Einschätzung wird im Verlauf der Darstellung wieder relativiert. Im Abschnitt über die Wachmannschaften heißt es z.B., daß die Propaganda auch nach dem Großen Terror nicht wirklich nachließ (S. 303).

Im sowjetischen Gulag starben die Menschen anders als in den Todesfabriken der Nationalsozialisten. Die „sowjetischen Häftlinge starben nicht an der Effizienz ihrer Peiniger, sondern eher an Ineffizienz und Vernachlässigung“ (S. 38f.) schrieb Lynne Viola in ihrer Studie über die verbannten Kulaken. Anne Applebaum übernimmt diese für die Sonderumsiedler aufgestellte These für die Gulag-Häftlinge. Gulag und Auschwitz gehören ihrer Auffassung nach in die gleiche geistige und historische Tradition, „weisen aber feine, ins Gewicht fallende Unterschiede auf“ (S. 39). Während zu Zeiten Peter I. Zwangsarbeit noch effektiv war, trifft dies für die Herrschaft Stalins, der ein Bewunderer dieses Zaren war, nicht mehr zu.

Dieser erste chronologisch angelegte Teil des Buches „Die Ursprünge des Gulags 1917-1939“, in dessen Mittelpunkt das Solowetzker Sonderlager und der Bau des Weißmeer-Kanals steht, erschließt dem mit der Literatur vertrauten Leser kein unbekanntes Archivmaterial. Die Ausarbeitung ist nach Auffassung des Rezensenten auch als Einführung in das Thema für einen mit der Materie nicht vertrauten Leser ungeeignet. Sie bleibt unscharf und – was die Aussagen und Wertungen betrifft – oft völlig beziehungslos zu den folgenden Teilen und Kapiteln des Buches. Solowki fungiert gewissermaßen als das Musterlager und Belomor als das größte (wenn auch nicht typische) Bauvorhaben der Jahre 1917 bis 1939 (S. 111). Um zu den folgenden Kapiteln überzuleiten, wäre es denkbar, am Beispiel von Solowki die Kontinuität in der Kaderpolitik der Moskauer Hauptverwaltung Lager (GULAG) oder die Prägung künftiger Lagerkommandanten anderer Gulags, die hier in Solowki ihre ersten Erfahrungen bei der „Umerziehung“ von Häftlingen sammelten, zu erläutern. Anstatt vom Thema Gulag abzuschweifen und viel zu beiläufig Themen wie Sonderumsiedler, Entkulakisierung oder Kriegsgefangenschaft anzureißen, wäre es dem Gegenstand angemessener gewesen, die Auswirkungen des Bürgerkrieges auf die Zusammensetzung der Lagergesellschaft und die sich wandelnden Umerziehungsintentionen gründlicher zu untersuchen.

Auf die veröffentlichten Erschießungslisten aus den Jahren des Großen Terrors und die diesbezüglichen, u.a. von Barry McLoughlin in Deutschland und in den USA vorgelegten Untersuchungen über den Terror gegen die Bevölkerung greift Applebaum nicht zurück, sondern belässt es bei der Wiedergabe von aus russischen Veröffentlichungen übernommenen Aufzählungen der zu Opfern des Systems gewordenen ehemaligen Tätern (S. 134ff.). Völlig offen bleibt, wie sich die Umbesetzungen an der Spitze des Volkskommissariats des Inneren der UdSSR unter den Volkskommissaren G. Jagoda, N. Jeshow und L. Berija auf die Umbesetzung der Administration in den Besserungsarbeitslagern auswirkten. Auf die Frage, wie der Gulag als Staat im Staate funktionierte, geht Applebaum nicht ein. Doch die hier ausgeblendeten Fragestellungen werden in der Fachliteratur seit geraumer Zeit diskutiert. In diesem Zusammenhang ist nach dem Aussagewert und dem Charakter der Quellen in den von der Autorin benutzten „Lagerarchiven“ zu fragen.

Die sowohl im ersten und im dritten Teil weit undifferenzierter als im zweiten Teil des Buches behandelten Themen wie z.B. das Verhältnis von politischen und kriminellen Häftlingen, die Arbeitsproduktivität der Lager, die Zusammensetzung der Lageradministration, das System der Berichterstattung der einzelnen Lager nach Moskau, das Vorhandensein von Männer- und Frauenzonen, die Aufgaben der Funktionshäftlinge usw., erschweren die Lektüre. In den chronologischen Teilen überwiegen pauschale Einschätzungen wie „erstaunlich viele“, „mancherorts“, „aber nicht alle starben und nicht alle Lager wurden leergefegt“ oder „niedrige Rentabilität“ usw. War ein Sowjetbürger, der wegen Diebstahls sozialistischen Eigentums oder wegen des Verkaufes eines Schweins als Spekulant verurteilte Bauer (S. 144) wirklich ein Krimineller? Wie die Autoren zwischen den kriminellen und den kriminalisierten Häftlingen differenziert, wird nicht in diesem Abschnitt, sondern in dem Kapitel über die Gefangenen aus dem zweiten thematischen Teil deutlich, dem informativsten und interessantesten Teil des Buches, in dem die Lagerwelt, in erster Linie die Häftlingsgesellschaft, von der Verhaftung über den Transport und die Ankunft im Lager bis zur Entlassung umrissen wird. Die Lageradministration bleibt, mit Ausnahme der für die Bewachung der Häftlinge zuständigen Mannschaften, unterbelichtet. Leider fehlen Abschnitte über die dritte, für Spionageabwehr im Lager zuständige Abteilung des NKWD und über die Lagergerichte. Anhand der vorhandenen, aber in Deutschland weitgehend unbekannten Literatur über die Lagerzeitungen wäre ein entsprechender Abschnitt zur diesbezüglichen Situation in den von der Verfasserin untersuchten Gulags informativ gewesen.

Der zweite Teil beginnt mit einem Überblick über die Verhaftungen während der so genannten nationalen Operationen des NKWD. Gewiss wäre es interessant zu erfahren, wie hoch der Anteil der in diesen Operationen nicht zum Tode, sondern zu Haftstrafen verurteilten „Nationalen“ in den von Applebaum untersuchten Gulags nun tatsächlich war. In den Akten der für Registratur und Statistik zuständigen Abteilung der Lageradministration (URO Utschetno-Registrazionny Otdel) sind die entsprechenden Zahlen zu finden. Doch diese Antwort bleibt die Autorin schuldig. Der Schwerpunkt ihrer thematischen Auswahl liegt auf der Aufbereitung eines Extraktes aus bereits veröffentlichten Häftlingserinnerungen, um dem Leser das „surreale Lagerleben“ vor Augen zu führen: In der Theorie diktierte Moskau das Leben in den Lagern bis ins Detail, in der Praxis war es eher surreal (S. 213). Über die Zustände in den einzelnen Lagern und in den zahllosen Untergliederungen der Lagerabteilungen der jeweiligen Gulags „kann kaum etwas gesagt werden, das für alle gilt“ (S. 211).

In Anbetracht der neuen russischen Veröffentlichungen über die für die Besserungsarbeitslager geltenden Vorschriften, aber auch mit Blick auf die vom Rezensenten ausgewerteten Befehle der Lageradministration aus der Zeit der Existenz des Karagandinsker Besserungsarbeitslagers KARLag von Anfang der 30er bis Ende der 50er-Jahre hält die von Applebaum aufgestellte These keiner Kritik stand: „Als Erstes fällt der Unterschied zwischen den wenigen und ziemlich vagen Bestimmungen der dreißiger Jahre und den viel detaillierteren Vorschriften für die Führung der Lager ins Auge, die seit 1939 unter Berija erlassen wurden. [...] Im ersten Jahrzehnt des Systems, als noch experimentiert wurde, schrieb man offenbar nicht vor, wie die Lager auszusehen hatten. Für den Umgang mit den Häftlingen gab es kaum Regeln. Erkennbar ist nur ein allgemeiner Rahmen, dessen konkrete Ausgestaltung dem Gutdünken der einzelnen Kommandanten überlassen blieb“ (S. 212).

Um die Häftlinge auch nach ihrer Entlassung aus den Lagern an den Arbeitsort zu binden, wurden sie mit Aufenthaltsbeschränkungen belegt. Nach der Entlassung arbeiteten deshalb viele als „Freie Mitarbeiter“ im Lager weiter. Diese Lösung des Arbeitskräfteproblems ist eine für die Besserungsarbeitslager typische und in der Literatur beschriebene Erscheinung. Ehemalige Häftlinge lebten oft Tür an Tür, oder Haus an Haus, mit ihren ehemaligen Bewachern; das Lager hatten sie ständig vor Augen. In der von Applebaum ausgewerteten Literatur kommen solche Beispiele nicht vor, weil die betreffenden Memoirenschreiber – in der Regel Intellektuelle – nach ihrer Entlassung den Weg in die Heimat antraten. Für die einfachen Leute, die nicht selber zur Feder griffen, trifft das seltener zu.

Leider ist es im Zuge der Übersetzung vom Russischen ins Englische und dann ins Deutsche zu sinnentstellenden Übertragungen gekommen. Mit „Ankommende“ (S. 363) oder „Dochte“ (S. 364) sind Dochotjagi, „jene die bald krepieren“, gemeint. Raskulatschiwanie, hier mit Entkulakisierung übersetzt, bedeutete in der Praxis mehr als nur die Enteignung der Kulaken; die unterschiedlichen Formen der auf die Enteignung folgenden Repressalien gehörten dazu. Auf dem Hintergrund der im zweiten Teil beschriebenen Schicksale ist die Behauptung, dass sich der Große Terror hauptsächlich gegen die Eliten richtete (S. 132), nicht aufrecht zu erhalten.

Leider finden sich im Abbildungsnachweis keine Angaben darüber, wann, von wem und wo die im Buch verwendeten Aufnahmen entstanden. Nicht alle lassen sich aus dem Kontext erschließen. Hinzu kommt, dass einige der Bildunterschriften in der deutschen Ausgabe nicht korrekt sind. So ist z.B. auf S. 105 nicht G. Jagoda, sondern N. Jeshow an Stalins Seite zu sehen. Gerade weil die Bildarchive aus den Lagern so dürftig sind, sollte Bildmaterial aus dem Leben der Sonderumsiedler nicht kommentarlos verwendet werden wie auf S. 115.

Anne Applebaum ist nach der Lektüre ihres Buches in einem unbedingt zuzustimmen. Es muss noch viel Kärrnerarbeit geleistet werden, um eine Geschichte des Gulag schreiben zu können (S. 18).

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