B. Taylor: Politics and the Russian Army

Cover
Titel
Politics and the Russian Army. Civil-Military Relations, 1689-2000


Autor(en)
Taylor, Brian
Erschienen
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 23,94
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gumb, Berlin

Es gibt Buchtitel, die wecken hohe Erwartungen: Der des vorliegenden Buches ist einer von ihnen. Gleich zu Beginn von „Politics and the Russian Army“ macht Brian Taylor allerdings eine Einschränkung, mit der er diese Erwartungen zu dämpfen versucht. Die Felder der Verteidigungspolitik und des „societal choice“, also innen-, wirtschafts-, partei- und gesellschaftspolitische Entscheidungsprozesse, will er ausdrücklich nicht behandeln. Ihm gehe es bei seiner Untersuchung nicht um eine Gesamtdarstellung der Beziehungen von Politik und Militär, sondern, so schreibt er, lediglich um militärische Eingriffe in den Bereich, den er mit Timothy Colton 1 ganz pragmatisch als Fragen der Hoheitsgewalt (sovereign power issues) definiert. Sein Buch untersucht also das Verhältnis des Militärs zur Frage „who rules and who decides who rules“ (S. 7).

Der Hauptteil seiner Arbeit besteht aus 19 Fallstudien, mit denen er „every case of actual or potential military intervention in Russian politics from Peter the Great to Vladimir Putin“ abdecken will, wie der Klappentext nicht ganz unbescheiden angibt. Neben Materialien russischer Archive verwendet Taylor die einschlägigen Werke der Sekundärliteratur, zeitgenössische Publikationen und Memoiren von Beteiligten. Auffällig ist, dass für den Zeitraum bis 1941 neuere Forschungsarbeiten nicht berücksichtigt werden. Kritisch anzumerken ist weiterhin, dass der Verlag auf ein Literatur- und Quellenverzeichnis verzichtete, was den Gebrauchswert der Untersuchung erheblich einschränkt.

Taylor lässt seine Untersuchung mit einer unerwarteten Feststellung beginnen: Der letzte erfolgreiche Eingriff des Militärs in der russischen und sowjetischen Geschichte liegt nach seiner Lesart bereits über 200 Jahre zurück. Es war dies die Ermordung Pauls I. im Jahre 1801 bei einer „Palastrevolution“ in der Tradition des 18. Jahrhunderts (S. I). Dabei hat es den Militärs an Möglichkeiten und Motiven für Interventionen in den darauffolgenden beiden Jahrhunderten wahrlich nicht gemangelt: Situationen, in denen der Staatsapparat schwach und seinen Aufgaben nicht gewachsen schien, oder in denen Armeeinteressen fundamental verletzt wurden, lassen sich zur Genüge nachweisen.

Taylors Hauptinteresse gilt der Organisationskultur. Sie bestimmt er als „patterns of assumptions and values held by members of an organization that help make them sense of the world and orient their choices” (S. 16). Die Geschichte, die Taylor von der Armee Russlands und der Sowjetunion erzählt, ist die vom Entstehen und Fortdauern dieser spezifischen Normen und Werte der militärischen Eliten. Obwohl er sich gegen monokausale Erklärungen ausspricht (S. 327f.), steht die apolitische Haltung der militärischen Führung, die sich der zivilen Macht unterordnete und ihre Aufgabe in der Landesverteidigung nach außen sah, im Mittelpunkt seines Interesses. Ihr Entstehen verortet er im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt habe sich das Selbstverständnis der zarischen Armee gewandelt: War sie bisher einer der wichtigsten Akteure in den Auseinandersetzungen um die Thronfolge, so sahen die militärischen Eliten nun ihre Aufgabe im Kampf gegen die äußeren Feinde des Vielvölkerreiches (Kap. 2). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sei somit noch die Herausbildung einer „praetorian culture“ des russischen Offizierskorps wahrscheinlich gewesen (S. 42). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts aber hätten drei Faktoren zu einem Wandel im Selbstverständnisses der militärischen Eliten geführt: der kläglich gescheiterte Putschversuch der Dekabristen im Jahre 1825, die als Reaktion darauf unter Nikolaus I. eingerichteten politischen Kontroll- und Überwachungsapparate sowie die stärkere Ausrichtung der Armee am Ideal eines modernen Massenheers westlicher Prägung in den Jahren 1861 bis 1881 (S. 63, 325). Generationen russischer und sowjetischer Militärs bis hin zum russischen Verteidigungsminister Pawel Gratschow sollten es später auf eine einfache Formel bringen: „Armija – wne politiki“ - „Die Armee steht außerhalb der Politik.“

Für das Zarenreich schreibt Taylor mit diesem Befund somit die Ergebnisse älterer Forschungen fort.2 Doch übernimmt er auch deren Defizite, denn die russische Armee war nicht nur eine der zentralen Machtstützen, sie war gleichzeitig auch ein Instrument zur Durchsetzung der kulturhegemonialen und imperialen Wunschvorstellungen der westeuropäisch geprägten Eliten. Diese sahen sich mit der ihnen unverständlichen Welt der Bauerndörfer und der multiethnischen Realität des Vielvölkerreiches konfrontiert. In älteren Forschungen wurde dies kaum berücksichtig. Taylor analysiert nun zwar detailliert die Kommunikation und die Entscheidungsprozesse der militärischen Eliten. Zum kulturellen und gesellschaftlichen Kontext, in dem diese sich bewegten aber hat er selten Neues zu sagen. Besonders deutlich tritt dies bei seiner Darstellung der Jahre 1914 bis 1921 zu Tage (Kap. 3, 4). Hier sei die Armeeführung buchstäblich „against its will“ (S. 136) in die Politik verstrickt worden und habe sich bei machtpolitischen Auseinandersetzungen in der Rolle eines Schiedsrichters wiedergefunden – was die Generäle eigentlich stets zu vermeiden gesucht hätten. Neuere Forschungen dagegen zeichnen ein anderes Bild: Nicht wenige der Herren, die sich bei Taylor an die vermeintlichen Grenzen ihrer Profession hielten und ihre Zeit ausschließlich dem Kampf gegen äußere Feinde widmeten, begegnen uns hier als Sozialtechnokraten, die – gemeinsam mit den „progressiven“ Teilen der Verwaltungsapparate - bereits während des Ersten Weltkriegs planwirtschaftliche, bevölkerungs-, ethnopolitische und überwachungsstaatliche Praktiken gegenüber der eigenen Bevölkerung anwandten. 3 Hatten sie damit dem alten Staatsaufbau und somit der Autokratie nicht bereits vor den Revolutionen ihre Unterstützung entzogen? 4 Das Verhalten der Bauernsoldaten in jenen Jahren fügt sich ebenfalls kaum in Taylors Deutung: Die Massendesertationen waren ja nicht zuletzt auch eine „Abstimmung mit den Füßen“ über das Schicksal der jeweiligen Machthaber – die Soldaten liefen ihnen einfach davon. Der letzte Oberbefehlshaber der zarischen Armee jedenfalls wurde, wie Taylor auch schildert (S. 125f.), von meuternden Soldaten schlicht erschlagen.

Die Organisationskultur der Armee erlebte, folgt man Taylor, unter der Herrschaft Stalins eine weitere Transformation (Kap. 4): Neben die Kontinuitäten apolitischer Traditionen aus der Armee des Zarenreiches trat die bewusste „political indoctrination“ durch die stalinistischen Machthaber. Nun predigten diese den Primat der Partei als ziviler Führung. Es war aber der, zumindest in Taylors Sicht, extrem starken Sowjetunion Stalins mit ihren Kontroll- und Überwachungsapparaten geschuldet, dass in der Roten Armee wohl von Kritik an einzelnen Maßnahmen wie der „Zwangskollektivierung“, niemals aber von Plänen zu „bonapartistischen“ Umsturzversuchen die Rede sein konnte. Die Anklagen, die im Jahre 1937 gegen Marschall Tuchatschewski und andere hochrangige Militärs erhoben wurden, entsprangen dem Verfolgungswahn der stalinistischen Führung (S. 170).

Die Periode von Stalins Tod bis zum Beginn der Politik der Perestrojka unter Michail Gorbatschow (Kap. 5) schildert Taylor als eine Zeit, in der sowohl die Motive als auch die Möglichkeiten für eine Intervention gering waren. Die einzige Ausnahme stellt bei ihm hier die Auseinandersetzung Chruschtschows mit der so genannten „parteifeindlichen Gruppe“ dar, bei der dem Verhalten Marschall Schukows eine Schlüsselrolle zukam (S. 182ff.).

Bewegte sich Taylor bislang fast ausschließlich in den Korridoren der Macht, so berücksichtigt er in seinen letzten beiden, dem Zerfall der Sowjetunion und der postsowjetischen Russländischen Föderation gewidmeten Kapiteln (Kap. 6; Kap. 7) zunehmend auch die Perspektive derjenigen, die die Vorgaben der zentralen Institutionen vor Ort umsetzen mussten. Bei den Schilderungen des Augustputsches von 1991 und des Sturmes auf das Moskauer Weiße Haus im Oktober 1993 erfährt der Leser nun auch von den Strategien, mit denen sich hochrangige Offiziere, aber auch niedere Dienstränge den Forderungen der Politik zu entziehen suchten. Die Armee reagierte hier nicht zuletzt auf das „Tbilisi syndrome“, auf die harsche Reaktion der Öffentlichkeit gegenüber dem Massaker, das sowjetische Truppen im April 1989 in der georgischen Hauptstadt angerichtet hatten (S. 222f.). Taylor deutet dies wie auch den anfänglichen Widerstand des russischen Generalstabs gegen die Intervention in Tschetschenien als Beleg dafür, dass auch hier die Armee versucht habe, sich einer Instrumentalisierung durch die Politik zu entziehen.

Der Gesamteindruck der vorliegenden Untersuchung auf den Rezensenten ist zwiespältig: Brian Taylor gelingt es in „Politics and the Russian Army“, seine recht enggefasste Fragestellung zu beantworten. Mehr noch: Er liefert darüber hinaus einen grundlegenden Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung der „civil-military relations“. Mehr sollte man eigentlich nicht erwarten. Und dennoch - ein zentrales Problem bleibt ungelöst: Man könnte es mit der Frage nach dem zivilen Charakter der zivilen Befehlshaber in Russland und der Sowjetunion umreißen. Wie steht es beispielsweise um den von Taylor vorausgesetzten Dualismus von zivilen und militärischen Eliten, die nach je eigenen Rationalitäten zu handeln scheinen? 5 Hier zeigen sich die Grenzen einer Vorgehensweise, die Analysekategorien als gegeben voraussetzt, ihren Sinn und Nutzen für den Untersuchungsgegenstand aber nicht hinterfragt.

Anmerkungen:
1 Colton, Timothy J., Perspectives on Civil-Military Relations in the Soviet Union, in: Ders.; Gustafson, Thane (Hgg.), Soldiers and the Soviet State. Civil-Military Relations from Brezhnev to Gorbachev, Princeton 1990, S. 3-43, hier S. 7.
2 Beispielsweise: Kenez, Peter, The Russian Officer Corps Before the Revolution. The Military Mind, in: Russian Review 31 (1972), S. 226-236; Fuller, William C., Civil-Military Conflict in Imperial Russia 1881-1914, Princeton 1985.
3 So beispielsweise: Lohr, Eric, The Russian Army and the Jews. Mass Deportations, Hostages, and Violence during World War I, in: Russian Review 60 (2001), S. 404-419; Holquist, Peter, To Count, To Extract, and To Exterminate. Populations Statistics and Population Politics in Late Imperial and Soviet Russia, in: Suny, Richard (Hg.), A State of Nations. Empire and Nation-Making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford 2001, S. 111-144.
4 Sanborn, Josh, Military Reform, Moral Reform, and the End of the Old Regime, in: Lohr, Edgar; Poe, Marshall (Hgg.), Military and Society in Russia, Leiden 2002, S. 507-524.
5 Vgl. hierzu die instruktiven Überlegungen von: Mergel, Thomas, Politikbegriffe in der Militärgeschichte. Einige Beobachtungen und ein Vorschlag, in: Kühne, Thomas; Ziemann, Benjamin (Hgg.), Was ist Militärgeschichte? Paderborn 2000, S. 141-156.

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