Cover
Titel
Century of Genocide. Utopias of Race and Nation


Autor(en)
Weitz, Eric D.
Erschienen
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
$29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Holler, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Der amerikanische Historiker und Deutschland-Experte Eric D. Weitz legt mit seinem Buch eine ausführliche Studie über das Problem des Völkermords im 20. Jahrhundert vor. Als persönliches Motiv für eine komparative Studie nennt er das Bedürfnis, über den perspektivischen Tellerrand der reinen Holocaust-Forschung hinauszuschauen, um neue Erkenntnisse über das Phänomen des Genozids als Menschheitsproblem zu erlangen. Trotz der Sonderstellung des Holocaust hält er den Vergleich der Völkermorde nicht nur für möglich, sondern auch dringend notwendig: „If we insist on the incomparability of the Holocaust, we place it outside of history“. (S. 12)

Der Titel „A Century of Genocide“ suggeriert eine umfassende Abhandlung aller bekannten Fälle des vergangenen Jahrhunderts. Tatsächlich beschränkt sich Weitz jedoch auf die stalinistische Sowjetunion, den Nationalsozialismus, Kambodscha unter den Roten Khmer und den Bosnienkrieg. Er begründet dies mit dem gemeinsamen Bezug dieser Fälle zur Ideologie des Kommunismus sowie mit seinem persönlichen Wissenshorizont (S. 13). Die theoretische Grundlage bildet ein etwas knappes ideengeschichtliches Kapitel, in welchem Weitz die Entstehung der Begriffe „Rasse und Nation“ aus dem Geist der Aufklärung sowie der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts ableitet. Streitbar ist seine Entscheidung, keine den Ereignissen angepasste Definition von Genozid zu erarbeiten. Weitz stützt sich bewusst auf die Auslegung der Völkerrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1948, obwohl er sie selbst als unzureichend (insufficient) empfindet (S. 10). Mit diesem „Kunstgriff“ umgeht er kurzerhand die Problematik einer definitorischen Grauzone zwischen „ethnischer Säuberung“, Massenmord und Völkermord.

Weitz möchte eine additive Abhandlung vermeiden und vielmehr nach Verbindungsgliedern der einzelnen Geschehnisse Ausschau halten. Der Aufbau der einzelnen Hauptkapitel folgt daher einem strengen Muster charakteristischer Schlüsselmerkmale: „Power and Utopia“; „Categorizing the Population“; „Purging the Population“; „The ultimate Purge“; „Rituals of Population Purges“. Biografische Einsprengsel und ausführliche Faktendarstellungen machen die Lektüre flüssig und eingängig, auch wenn die Studie dadurch an manchen Stellen Gefahr läuft, der rein dokumentarischen Wiedergabe bekannter Ereignisse einen zu großen Platz einzuräumen.

Eine grundlegende Gemeinsamkeit aller untersuchten Fälle erkennt Weitz in einer utopischen Zukunftsvision der Machthaber auf der Basis vollkommener Homogenität. Die Radikalität der angestrebten gesellschaftlichen Umgestaltung lasse alle vier Regime als „revolutionär“ erscheinen. Die sozialistische Utopie war mit ihrem inklusiven Charakter dabei weltweit am einflussreichsten. Terror wurde indes weder von den Bolschewiki noch von den Roten Khmer als Widerspruch zur Utopie empfunden, sondern als selbstverständliches staatliches Herrschaftsinstrument (S. 63, 146). Kaum nachvollziehbar ist Weitz’ Einordnung Serbiens in die Reihe der utopiegestützten revolutionären Regime. Aus seiner eigenen Darstellung geht nämlich hervor, dass die Politik Milosevics einem im 19. Jahrhundert wurzelnden extremen Nationalismus entspringt. Mit einer gesellschaftlichen Utopie hat das wenig zu tun.

Das Verlangen nach Eindeutigkeit führte nach den Worten des Autors zu einer wahren „Kategorisierungsobsession“. Entgegen ideologischer Vorgaben griffen alle vier untersuchten Regime auf einen durchlässigen, wenn nicht gar willkürlichen Mix politischer, sozialer und ethnischer Kriterien zurück, um ihre Bevölkerung einzuteilen. Schließlich waren selbst die Nationalsozialisten, die Weitz als „radical simplifiers“ (S. 140) bezeichnet, auf überlieferte Dokumente und religiöse Bekenntnisse angewiesen, um einen „rassischen Juden“ zu definieren.

In der Sowjetunion stellte neben der Klassenzugehörigkeit die Nationalität das wichtigste Klassifizierungsmerkmal dar. Sehr anschaulich beschreibt Weitz den grundlegenden Widerspruch im bolschewistischen Weltbild, in welchem das Postulat menschlicher Formbarkeit mit der Vorstellung vererbbarer nationaler und charakterlicher Eigenschaften konkurrierte. Ob man die sowjetische Nationalitätenpolitik unter Stalin deswegen als „racial logic at work“ (S. 84) bezeichnen kann, ist indessen umstritten. 1 Der Khmer-Kommunismus radikalisierte wiederum das sowjetische Vorbild, indem er die Einteilung in „alte“ und „neue“ Menschen zusätzlich vom Wohnort und der Familienstruktur des Einzelnen abhängig machte. Ethnische Kriterien stellten sich jedoch auch hier als die dauerhaftesten und folgenschwersten heraus, wie Weitz überzeugend darlegt.

Die Kategorisierung der Bevölkerung lief Hand in Hand mit einer allmählichen Ausgrenzung der betroffenen Minderheiten. Die staatliche Lenkung der Gewalt schaffte die Voraussetzung für die physische Vernichtung. Heißt das, dass der Genozid von vornherein geplant war? Weitz verneint diese Annahme generell. Der Übergang von Diskriminierung zu Mord erklärt sich für ihn aus einer extremen gesellschaftlichen Krise, die entweder durch Krieg oder innere Umbrüche herbeigeführt wurde. So sieht Weitz die „Euthanasie“ in NS-Deutschland zwar als geplanten Übergang und Modell zum Völkermord, womit er Henry Friedlander 2 folgt, doch sei der Holocaust in seinem gesamten Ausmaß erst durch die brisante Mischung aus Kriegseuphorie und Ernüchterung möglich geworden. Den entgültigen Befehl, alle Juden Europas zu ermorden, habe Hitler im Zuge der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten erteilt. (S. 130) 3 Weitz nimmt somit innerhalb der traditionellen Kontroverse um den Nationalsozialismus eine Mittelstellung zwischen Intentionalisten und Strukturalisten ein.

Eine besondere Stärke des Buches liegt darin, dass Weitz die Frage nach der Mittäterschaft nicht allein auf die Führungsriege des Regimes beschränkt, sondern auf die gesamte Bevölkerung ausweitet. Gute Gründe liegen hierfür auf der Hand: „Genocides on the scale discussed in this book were possible only with the participation of these many thousands, some of whom were active agents in mass killings, others of whom reaped the benefits, material and otherwise, of the removal of their neighbors.“ (S. 243) Die Kultur der Straflosigkeit ermöglichte ferner spezifische Ausformungen der Grausamkeit, die nicht von der Zentrale aufdiktiert und doch in jedem der untersuchten Fälle zu finden waren. Die Rituale der Erniedrigung wurden durch die Entweihung des Körpers der Opfer ultimativ. Entkleidung, Haarscheren und Massengräber waren Symbole für die Allmacht der Täter. Anhand von Zeitzeugenberichten wie Interviews und Memoiren, aber auch Poemen und Novellen beschreibt Weitz konkrete Beispiele mit teilweise schwer erträglicher Eindringlichkeit.

In seiner abschließenden Bilanz erkennt Weitz bei allen Unterschieden drei Grundvoraussetzungen für den Völkermord: eine Ideologie von Rasse und Nation, ein revolutionäres Regime mit hohen utopischen Ambitionen und Momente extremer gesellschaftlicher Krisen wie Kriege oder Revolutionen. Das Phänomen des buchstäblichen Gewaltausbruchs im ehemaligen Jugoslawien wird durch die angebotenen Kriterien allerdings nur bedingt nachvollziehbar und verharrt innerhalb des komparativen Spektrums als irritierender Sonderfall. Hier wäre die Rekonstruktion des welthistorischen Kontextes sinnvoller gewesen. Die kritische Hinterfragung der Rolle der UNO und der NATO, die Weitz am Beispiel des Bosnienkriegs vornimmt (S. 217-220), verlangt geradezu nach der Erweiterung des Vergleichs auf Ruanda.

Ungeachtet einiger inhaltlich-streitbarer Werturteile beeindruckt Weitz’ Forschungsansatz durch seine methodische Stringenz. Die disziplinierte Einhaltung der erarbeiteten Untergliederung erleichtert die vergleichende Lektüre und macht die Thesen des Autors nachprüfbar. Einige Thesen verblüffen auf den ersten Blick, gewinnen im Zuge der Untersuchung jedoch an Plausibilität. So könne man neben NS-Deutschland auch das Kambodscha der Roten Khmer unter der Rubrik „genozidale Systeme“ („genocidal regimes“) einordnen, da beide - im Unterschied zu den anderen Fällen - die physische Vernichtung bestimmter Bevölkerungsgruppen zum Kern staatlicher Politik erhoben (S. 12). Andererseits seien Schauprozesse nur in stalinistischen Systemen denkbar gewesen, da hier die tiefe Kluft zwischen ideologischem Anspruch und Realität nach (imaginierten) Staatsfeinden verlangte (S. 250).

Die unbedingte Konsequenz, mit der Weitz sein methodisches Konzept einhält, birgt indes auch gewisse Mängel. Zum einen läuft er immer wieder Gefahr, offensichtliche Widersprüche in das Korsett übergeordneter Merkmale zu zwängen. Zum anderen verleitet der komparative Ansatz zur schleichenden Aufweichung historiografischer Begrifflichkeit, wenn etwa die vereinzelt nachgewiesene Verweigerung jeglicher Hilfe für Alte und Kranke im Khmer-regierten Kambodscha mit dem Ausdruck „selective euthanasia“ (S.167) belegt und damit in eine deutlich unverhältnismäßige Relation zur „Aktion T4“ der Nationalsozialisten gebracht wird.

Alles in allem halten sich die Vor- und Nachteile der gewählten Methode in etwa die Waage. Im Rahmen der vergleichenden Genozidforschung setzt „A Century of Genocide“ sicherlich keine neuen Maßstäbe, doch liefert Eric D. Weitz zumindest einen soliden wissenschaftlichen Beitrag.

Anmerkungen:
1 Weitz’ Thesen zur Sowjetunion wurden schon einmal kontrovers diskutiert. Francine Hirsch und Amir Weiner zweifelten an der Anwendbarkeit westlicher Rassismustheorien auf das sowjetische Beispiel, während Alaina Lemon Weitz’ Rassismusdefinition allgemein kritisierte. Vgl. Weitz, Eric D., Racial politics without the Concept of Race. Reevaluating Soviet Ethnic and National Purges, in: Slavic Review 61,1 (2002), S. 1-29; Hirsch, Francine, Race without the Practice of Racial Politics, in: ebd., S. 30-43; Weiner, Amir, Nothing but Certainty, in: ebd., S. 44-53; Lemon, Alaina, Without a „Concept“? Race as Discursive Practice, S. 54-61.
2 Friedlander, Henry, The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution, Chapel Hill 1995.
3 Hierbei beruft sich Weitz u.a. auf Tobias Jersak.

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