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Titel
Die fremde Stadt. Breslau 1945


Autor(en)
Thum, Gregor
Erschienen
Berlin 2003: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
639 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

Was wird aus einer Stadt, wenn sie ihre alten Bewohner auf einen Schlag verliert und neu besiedelt wird? Die ehemaligen deutschen Ostgebiete bieten unendlich viele Möglichkeiten, die faszinierenden Prozesse von Neuaneignung und Konstruktion lokaler bzw. regionaler Identität zu untersuchen. Gregor Thum hat sich westlich der Oder als erster der Aufgabe gestellt, in extenso aufzuzeigen, welche mentalen und sozialen Prozesse nach 1945 in den nunmehrigen polnischen Westgebieten vor sich gingen. Im Zentrum seiner als Dissertation an der Frankfurter Viadrina (bei Karl Schlögel) entstandenen Arbeit steht die Stadt Breslau, deren Bedeutung für die deutsche und europäische Geschichte der Neuzeit erst noch rekonstruiert werden muss. Allerdings zeichnet sich in den letzten Jahren eine Wende ab: Nachdem mehrere Arbeiten der deutschsprachigen Historiografie die grandiose Bürgerstadt des 19. Jahrhunderts zumindest partiell behandelt haben1 und ein englisches Autorengespann eine – teilweise problematische – populäre Geschichte der „Blume Europas“ vorgelegt hat2, konzentriert sich Thum nun auf das 20. Jahrhundert. Seine Leitfrage ist jene nach den Konsequenzen des Bevölkerungsaustausches im Kontext von deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte, der Geschichte der Vertreibungen und der Forschungen zum kollektiven Gedächtnis.

Herausgekommen ist ein faszinierendes Buch. Thum unterteilt es in zwei Abschnitte – einen sozusagen faktografischen und einen zum Thema „Gedächtnispolitik“. Zunächst verfolgt Thum die Geschicke der Stadt zwischen dem Ende der Kampfhandlungen nach der Kapitulation der Festung Breslau am 6. Mai 1945 und dem Ende der ersten Wiederaufbauetappe am Ende der 1950er-Jahre, immer wieder ergänzt um Betrachtungen, die über den lokalen Rahmen hinausgehen und die Entwicklungen vor dem Hintergrund der nationalen Situation erläutern. Er schildert den Beginn der polnischen Behördenorganisation mit all ihren guten Vorsätzen, drastischen Personalproblemen und Kompetenzrangeleien. Er zeichnet die Aussiedlung der Deutschen, die Ansiedlung der Polen, die lange Koexistenz polnischer Neusiedler und deutscher Breslauer nach und kommt zu dem Befund einer „Verdörflichung“ der Stadt. Erst 1981 erreichte sie wieder den Bevölkerungsstand von 1939; nur ein kleiner Teil der Neubürger stammte aus Großstädten (S. 163): „[...] mit der Aussiedlung der deutschen Einwohner aus Breslau [...] ging von einem Tag auf den anderen die soziale Basis der Urbanität verloren.“ Thum behandelt den „Substanzverlust“: Nicht nur durch unmittelbare Kriegseinwirkung, auch nicht durch „Freudenfeuer“ der Roten Armee – wie in Polen häufig behauptet –, sondern vor allem durch das Zusammenbrechen der öffentlichen Ordnung (Feuerwehren!) gingen nach der Einnahme der Festung Breslau noch ungezählte Gebäude verloren (S. 174f.). Demontagen und Plünderungen kamen hinzu. Und schließlich schreibt Thum über den Wiederaufbau der Stadt, der recht rasch beschlossen wurde und in den Jahren des Stalinismus soweit gedieh, dass zentrale Bereiche der Innenstadt in Anlehnung an alte Bauformen wiederentstanden.

Thums zweiter Abschnitt heißt „Gedächtnispolitik“. Dieser Begriff wird nicht explizit erklärt – und so stellt sich die Frage, ob es Thum nicht vielmehr um die Instrumentalisierung des Gedächtnisses durch die Steuerung der kollektiven Erinnerung geht, Erinnerungspolitik eben. Thum kommt hier zum faszinierenden Kern seines Themas: zur kompletten Neukonstruktion von individuellen und kollektiven Identitäten im lokalen Raum in allen nur erdenklichen Dimensionen, im Buch an einer Stelle gar – überspitzt – bezeichnet als die Kreation eines „Gesamtkunstwerks“ (S. 56). Die Beweggründe waren verschieden: Zum einen war die deutsche Geschichte der Stadt desavouiert; die neuen polnischen Bewohner der Stadt wollten nach den traumatischen Kriegserfahrungen oft nichts mehr von ihr wissen und machten sich an die Konstruktion einer neuen, polnischen Geschichte der Stadt. Zum anderen wurden sie an diesem unwirtlich-zerstörten Ort von einem Gefühl der Fremdheit ergriffen – nicht selten eingezogen in komplett eingerichtete deutsche Bürgerwohnungen, konfrontiert mit deutschen Aufschriften, Traditionen, Erzählungen. Aus diesem Fremdheitsgefühl entwickelte sich eine über Jahrzehnte hin andauernde Grundstimmung provisorischer Existenz in den polnischen Westgebieten – nicht nur in Breslau.3

Die Aneignung des lokalen Raums durch allumfassende Polonisierung der Stadt speiste sich aus zwei Quellen – aus einem individuellen Bedürfnis nach lokaler Verortung und Vernetzung sowie aus einem politischen Begehren, den Besitz der ehemaligen deutschen Ostgebiete zu legitimieren. Die Untersuchung individueller Verhaltensweisen wird durch den Mangel an zeitgenössischen Quellen erschwert – neben den wenigen Tagebüchern und Erinnerungen hat Thum Archivmaterial aus Breslau und Warschau herangezogen, auf eine systematische Zeitzeugenbefragung jedoch verzichtet. Dafür werden zentrale Bereiche der offiziellen Geschichtspolitik detailliert dargestellt. Die auf den polnischen Westgedanken der Vorkriegszeit aufbauende Geschichtspropaganda von den „wiedergewonnenen Gebieten“ „reduzierte ein Jahrtausend einer komplexen mitteleuropäischen Beziehungsgeschichte auf einfache Formeln“ (S. 279) – und es waren genau diese Formeln, aus welchen die traditionsenthobene Stadtbevölkerung ihre neue lokale (raumbezogene) Identität webte. Diese Westgebietspropaganda diente nicht nur der Legitimation, sondern auch der Normalisierung per se unnormaler Lebensumstände unter dem totalitären Regime, indem die Ideologien von Kommunismus und Nationalismus erfolgreich zusammengekoppelt wurden. Dies spiegelte sich auch in der Alltagssprache wider – in Begriffen wie „Mutterland“, „Repolonisierung“, „Entdeutschung“ etc. Zudem zeigte es sich an der Neuerfindung eines lokalen Kontinuitätsgefüges, die von der wissenschaftlichen Historiografie und der populären Stadtgeschichtsschreibung betrieben wurde. Kaum beachtet wurde hier das „preußische“ 19. Jahrhundert, in dem sich abseits von der Bedrückung einer (oft auch nur imaginierten) polnischen Minderheit kaum erzählenswerte und erzählbare Elemente fanden. Und so wurde dieses für die Entwicklung der modernen Stadt so wichtige Säkulum marginalisiert, was bis heute insofern von Bedeutung ist, als der Rückgriff der neuen liberalen Eliten in Breslau und anderswo auf die Traditionen der Bürgerstadt ein Rückgriff in einen Topf voller Ungewißheiten und Halbwahrheiten ist. So leben auch heute noch Geschichtsmythen der kommunistischen Zeit weiter.

Jene Mythenbildung wurde unterstützt durch konkrete geschichtspolitische Maßnahmen: Denkmäler wurden beseitigt, Straßen umbenannt. Hier schießt Thum ein wenig über das Ziel hinaus, wenn er eine weitgehende Korrespondenz zwischen den einstigen deutschen und den polnischen Straßennamen annimmt und die Verkehrung deutschnationaler Zeichen in polnischnationale als „eine Art von Exorzismus“ bezeichnet (S. 356): Nach meinem Eindruck griff die Namensgebung vielmehr auf praktische Argumente zurück; die Ersetzung beispielsweise des Namenspatrons Tauentzien durch Kosciuszko war der direkten historischen Assoziation (beide waren Militärs) sowie der Bedeutung der Straße (die einen „großen“ Patron erforderte) geschuldet. Weil die überwiegend noch im Laufe des Jahres 1945 ersetzten deutschen Namen im Gedächtnis der polnischen Bevölkerung nicht vorkamen, konnten die neuen Namen auch in keinerlei unterbewusster Kommunikation mit den alten Namen stehen. Ähnlich vorsichtig wäre ich bei der Denkmalsgeschichte, wo „die Macht des einmal geweihten Ortes“ nicht aus der Weihe, sondern aus der städtebaulichen Brache nach dem Denkmalsturz herrührt (S. 409).

In einem Ausblick fasst Thum die Entwicklung des lokalen Identitätsdiskurses zwischen den 1960er-Jahren und der Gegenwart zusammen. Er schreibt über das „schizophrene Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Raum“ (S. 500), also zwischen propagandistischer „Entdeutschung“ und der jahrzehntelangen Nutzung deutscher Gebrauchsgüter („Vorkriegsware“), und urteilt, dass auf dieser Grundlage von Halbwahrheiten „keine stabile lokale Identität entstehen“ konnte (S. 502). Es ist schade, dass Thum nicht ausführlicher auf die überaus spannenden Prozesse der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre eingeht, in denen neue politische und wirtschaftliche Trägerschichten der Stadt auch nach einer neuen lokalen Geschichte gesucht haben und sich lokale Identität fast explosionsartig neu generiert – aus „der fremden Stadt“ wird „die eigene Stadt“. Auch hat er nicht alle einschlägigen Werke der Sekundärliteratur zu Rate gezogen4 und das Fortleben der Stadt im Gedächtnis ihrer einstigen Bewohner nicht thematisiert.5 Als Quellengattungen vermisse ich die Tagespresse sowie die schöne Literatur. Schließlich wäre zumindest ein Namensregister sehr hilfreich gewesen.

Es bleibt zu hoffen, dass die polnischen Westgebiete verstärkt das Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft, aber auch anderer Disziplinen (Soziologie!) auf sich ziehen. Thum kommt jedenfalls das Verdienst zu, erstmals in großer Breite auf deutsch fundiert und ausgewogen über die Nachkriegsgeschichte einer vermeintlich „geschichtslosen“ Region geschrieben zu haben. Vielleicht gelingt es durch dieses Buch – und andere, noch zu schreibende Texte –, die deutsche Erinnerung an den deutsch-polnischen Zwischenraum wieder zu aktivieren.

Anmerkungen:
1 Hettling, Manfred, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918, Göttingen 1999; van Rahden, Till, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000; vgl. jüngst auch Gürtler, Christian, Vereine und nationale Bewegung in Breslau 1830–1871, Frankfurt am Main 2003.
2 Davies, Norman; Moorhouse, Roger, Die Blume Europas. Breslau – Wroclaw – Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt, München 2002.
3 Unlängst dargestellt bei Niedzwiedzki, Dariusz, Odzyskiwanie miasta. Wladza i tozsamosc spoleczna [Wiedergewonnene Städte. Herrschaft und soziale Identität], Kraków 2000; Siehe dazu meine Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-081>.
4 Z.B. das allerdings stellenweise problematische Buch von Suleja, Wlodzimierz, Historia Wroclawia. W Polsce Ludowej, PRL i III Rzeczypospolitej [Geschichte Breslaus. In Volkspolen, der Volksrepublik Polen und der Dritten Republik], Wroclaw 2001; bereits in den 1970er-Jahren mit sehr ausgewogenen Urteilen zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte in Schlesien: Zientara, Benedykt, Henryk Brodaty i jego czasy [Heinrich der Bärtige und seine Zeit], Warszawa 1975 (dt. Ausg. München 2001).
5 Herbert Hupkas kritisch-verständnislose Rezension (Die andere Stadt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.10.2003, S. 11) zeigt das Eigenleben „vertriebener Geschichtskultur“ auch fast 60 Jahre nach der Vertreibung deutlich auf.

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