S. Siewert: Germanische Religion und neugermanisches Heidentum

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Titel
Germanische Religion und neugermanisches Heidentum. Zur Rezeptionsgeschichte germanischer Religionen und zum Problem der Kontinuitätsfrage aus religionswissenschaftlicher Sicht


Autor(en)
Siewert, Sylvia
Reihe
Europäische Hochschulschriften XXIII 741
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 37,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Hufenreuter, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

In jüngster Zeit sind eine Reihe historischer, religions- und kulturwissenschaftlicher Beiträge zur Geschichte neuer und alternativer Religionen und Religiosität seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschlands erschienen, wobei auch dezidiert auf die Rolle neuheidnischer bzw. neugermanischer Religionsentwürfe eingegangen wurde. Im Speziellen auf die Entwicklung und Ausformung moderner neuheidnischer Religiosität konzentriert sich auch Sylvia Siewert in ihrem Buch, wobei sie sich mit der Frage nach möglichen Kontinuitäten zwischen germanischer Religion und dem neugermanischen Heidentum unserer Zeit auseinandersetzt. Den roten Faden der Arbeit bildet dabei die Rezeptionsgeschichte und damit gleichfalls die Konstruktionsgeschichte germanischer Religion seit dem 15. Jahrhundert, dem Zeitpunkt der Wiederentdeckung der „Germania“ von Tacitus bis in unsere Gegenwart. Das Buch steht auf drei thematischen Säulen.

Am Beginn stehen archäologische und sprachwissenschaftliche Kapitel, die das Bild der „Germanen“, ihrer Religion und ihrer Geschichte entwerfen. Hierbei werden auch antiken Ethnografen, etwa Tacitus und Caesar und die skandinavischen Eddas und Sagas einbezogen, um Leben, Religion und Mythologie der „Germanen“ auszuleuchten. Der zweite Teil steht dagegen ganz im Zeichen der rezeptionsgeschichtlichen Entwicklung der vermeintlichen Vorfahren vom Beginn des Humanismus über die Aufklärung unter Einbeziehung solcher Schlagworte, wie der „Skandinavischen Renaissance“ oder den Gebrüder Grimm und endet mit Kaiserreich und der Weimarer Republik und der dortigen Aufnahme und Deutungsvielfalt germanischer Religion. Im dritten Teil stehen schließlich die Gruppierungen und Organisationen im Vordergrund, die sich auf neuheidnische Religionen rückbesinnend, seit Beginn des 19. Jahrhunderts gebildet hatten und teilweise noch heute (wieder-)bestehen. Aber auch zeitgenössische Neugründungen innerhalb der Bundesrepublik werden betrachtet und nach ihrem religiösen Selbstverständnis befragt.

Was auf den ersten Blick spannend scheint, stellt sich in Anbetracht des übergroßen Bogens, den die Autorin von der Ur- und Frühgeschichte bis in unsere heutige Zeit zu schlagen versucht, schnell als ein Operieren mit bekanntem Wissen und üblichen Verdächtigen heraus. Das die Archäologie in Bezug auf eine germanische Religion, deren Riten und Bräuche nicht viel weiterhelfen kann ist bekannt, ebenso, die nur bedingte Auswertbarkeit einschlägiger Quellen, wie die, als Sittenspiegel für das spätantike Rom gedachte Germania von Tacitus. Ähnliches gilt für die vor christlichen Hintergrund entstandenen Eddas und isländische Sagas. Es gibt somit kaum etwas über eine germanische Religion zu berichten. Das Kapitel zur Rezeptionsgeschichte biete ebenfalls inhaltlich nichts Neues. In einer nicht immer nachvollziehbaren Vorgehensweise arbeitet die Autorin Schlagworte und Repräsentanten der gängigen Rezeptionsforschung ab. Sie beginnt mit einem frühneuzeitlichen Germanenbild, das unter anderen von Zeitgenossen wie Rousseau und Klopstock definiert wird, geht über, in das religiöse Verständnis für Tiere und die Natur anhand der Gebrüder Grimm, behandelt den Begriff „Nation“ kursorisch ab, streift Helena Petrovna Blavatski und deren Theosophie, den Biologismus und Religionsbegriff eines Gobineau, dazu noch Nietzsche und Housten Steward Chemberlain und deren Religionsbegriffe.

Etwas unmotiviert wird hieran ein Kapitel zur Germanenforschung dieser Zeit eingefügt, dass sich mit Männerbünden, Lily Weiser, Otto Höfler und Hans F. K. Günther beschäftigt. Ein Zeitsprung versetzt die Leserschaft dann in die Weimarer Republik und den dortigen religiösen Ideen, nennt kulturelle Gegenbewegungen (die es jedoch bereits lange vor der Weimarer Republik gab), erwähnt eine neugermanische Linke und mündet in Bemerkungen zu völkischen Religiosität. Der dritte Teil behandelt die wichtigsten Repräsentanten und Organisationen völkischer Religionssuchender zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Da sind Guido List mit seinem Armanen-Orden, die Germanische Glaubensgemeinschaft und die Deutschgläubige Gemeinschaft. Dem schließen sich, das Buch beendend, für die Nachkriegszeit die organisatorische Tiefausläufer der Genannten und eine Reihe von Neugründungen an. Das Fazit von Sylvia Siewerts besteht in der Feststellung, dass Überreste germanischer Religiosität sich in christlichen Brauchtum und Sagen niedergeschlagen hätten, nur definierbar oder herauszufiltern seien sie nicht. Eine einheitliche germanische Religion habe es so nie gegeben und kontinuierliche germanische Religiosität von der „Urzeit“ bis heute auch nicht, doch Beweggründe und Motive für die Entstehung zeitgenössischer neugermanischer Religionsgruppierungen werden genannt.

Sylvia Siewerts Buch ist deutlich die Last des thematischen Umfanges anzumerken. Unentschlossen und ohne rechte Begründung zitiert sie seitenweise aus Quellen wie der Germania oder erzählt Handlungsstränge der Edda nach, eine Wertung hingegen fehlt ihren Wiedergaben zumeist. Monolithisch stehen sich die drei Kapitel gegenüber, ohne dass der Autorin eine schlüssige analytische Verbindung zwischen ihnen gelingt. Was man aus einem Kapitel oder Teilkapitel in das Nächste mit hinübernimmt, findet dort nicht zwingend Verwendung und nicht immer ist klar, was die Autorin mit einem Unterkapitel zu bezwecken, beweisen oder vorzubereiten versuchte. Ähnlich schwer nachvollziehbar gestaltet sich die inhaltliche Schwerpunktsetzung, die bereits erforschte ‚Klassiker’ einzelner Teilthemen scheinbar willkürlich aneinander reiht. Werden der archäologische Teil mit Germania und Edda noch in enger thematischer Linienführung durchgearbeitet, so hechtet die Autorin sich und die Leserschaft im zweiten Kapitel regelrecht durch vier Jahrhunderte komplexer historisch-soziologischer, geistesgeschichtlicher Gemengelage und streut zwischendurch begriffliche Definitionen ein. Dabei gilt beispielsweise die Nation im Mittelalter als „gängige Bezeichnung für völkische Einheiten, ohne eine politische Bestimmung“ (Rainer Flasche) oder der Beginn der völkischen Bewegung wird mit Herder, Fichte und Jahn an den Anfang des 18. Jahrhunderts gesetzt (Ekkehard Hieronimus), wobei sich die Autorin nicht entscheiden kann, ob es eine völkische Bewegung ist oder verschiedene völkische Bewegungen.

Diese überholten Definitionen und Unsicherheiten resultieren aus der sehr kleinen Substanz von zumeist älterer Forschungsliteratur, was nicht nur inhaltliche Lücken in der Arbeit hinterlässt, sondern sich auch im abermals viele Seiten umfassenden Reproduzieren von bereits bekanntem Wissen niederschlägt. Weite Teile neuere Forschung wurden schlicht vernachlässigt und notwendige Begrifflichkeiten, wie ‚Religion’ und ‚Religiosität’ nicht grundlegend geklärt.

Gemessen an dem Vorsatz des Buches, germanische Religion anhand einer Rezeptionsgeschichte in religionswissenschaftlicher Sicht auf die Kontinuität von ihren Anfängen bis in unsere Gegenwart nachzuzeichnen, bleibt festzustellen, dass die Autorin nicht über die Wiedergabe vorhandener, zum Teil unvollständiger und überholter Forschungsstände hinweg kommt und leider keinen neue Erkenntnisse bieten kann. Dabei kann jedoch berücksichtig werden, dass es sich bei dem Buch um eine Magisterarbeit handelt, deren Thema schlicht und ergreifend zu ausufernd gehalten wurde, um es in dieser Form zu erarbeiten und gewinnbringend zu bewältigen.

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