Titel
Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland


Autor(en)
Georgi, Viola B.
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Leonhard, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg

„Die Bundesrepublik Deutschland ist faktisch ein Einwanderungsland. Migrationsprozesse in Vergangenheit und Gegenwart haben dazu geführt, daß die bundesdeutsche Gesellschaft heute eine ähnliche ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt aufweist wie andere Einwanderungsgesellschaften.“ (S. 7) Mit dieser Feststellung eröffnet Viola B. Georgi ihre Dissertation über Geschichtsbezüge junger Migranten im heutigen Deutschland, die vor kurzem im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung erschienen ist. Ausgangspunkt für ihre Untersuchung ist die Tatsache, dass ein „beachtlicher Teil der heute in Deutschland lebenden jungen Menschen“ über Familien- und Kollektivgeschichten verfügt, „die sich von den ‚deutschen’ unterscheiden“. Gleichzeitig leben diese Jugendlichen jedoch in einer Gesellschaft, in der Nationalsozialismus und Holocaust im „politisch-moralischen Diskurs der Öffentlichkeit“ eine herausragende Stellung einnehmen (S. 9f.). Georgi geht daher der Frage nach, welche Bedeutung die Geschichte des Holocaust und des Nationalsozialismus für junge Migranten in der Bundesrepublik hat und in welcher Weise sich diese im Verhältnis zur deutschen Geschichte und zur deutschen Gesellschaft positionieren.

Die theoretische Basis für diese Studie stellen einerseits Arbeiten zum Geschichtsbewusstsein, andererseits Ansätze der historischen und ethnischen Identitätsforschung sowie die bekannten Erinnerungskonzeptionen von Maurice Halbwachs und Jan Assmann dar: Georgi versteht Identität als historische Selbstreflexion und zugleich als Positionierung zum Selbstverständnis sozialer Bezugsgruppen. Ihre Ausführungen über die Zusammenhänge von Geschichte, Erinnerung und Identität im Migrationskontext sind aufschlussreich und mit Blick auf die an den theoretischen Teil anschließenden Fallstudien überzeugend. Dies jedoch gilt leider nicht für das zwischen die Abschnitte „Dimensionen historischer Identität“ und „Ethnizität und Geschichte“ hineingeschobene Kapitel zur Geschichtsbewusstseinsforschung, in dem unter anderem Ansätze und Ergebnisse von Studien von Boris von Borries und Jörn Rüsen1 referiert werden, ohne dass deren Relevanz für die vorliegende Analyse erkennbar wäre – und die auch später an keiner Stelle aufgegriffen werden.

Empirisch stützt sich die Untersuchung auf 55 Interviews mit Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft zwischen 15 und 20 Jahren. Anhand von elf ausgewählten Fallstudien arbeitet Viola Georgi eine Typologie biografischer Strategien im Umgang mit der NS-Vergangenheit heraus, die auf der Identifikation mit bestimmten historischen Bezugsgruppen beruhen: Beim ersten Typus stehen die Opfer der NS-Verfolgung im Vordergrund, wobei es häufig zu Analogiebildungen kommt. „Die eigene Lebenssituation als Angehöriger einer Minderheit in Deutschland wird mit der der Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft – insbesondere mit der von den Nationalsozialisten verfolgten jüdischen Minderheit – verglichen. Daraus werden Schlüsse für das gegenwärtige und zukünftige Leben in Deutschland gezogen.“ (S. 300) Im zweiten Fall liegt der Fokus dagegen auf der Perspektive der Zuschauer, Mitläufer und Täter des NS-Regimes. Dabei kommt es häufig zur Übernahme und Reproduktion von Mythen über den Nationalsozialismus. „Wesentliches Motiv für die Teilhabe am kommunikativen Gedächtnis der deutschen Gesellschaft“ ist hier das Bedürfnis dazuzugehören. „Die Erinnerungsarbeit gewinnt dabei nicht selten verpflichtenden Charakter. Es geht darum, sich durch ein bereitwilliges Antreten des ‚negativen historischen Erbes‘ der Deutschen als ‚vollwertiger‘ Deutscher zu legitimieren und zu qualifizieren.“ (S. 302) Der dritte Typus zeichnet sich demgegenüber durch „exklusive Teilhabe am kollektiven Gedächtnis der eigenen ethnischen Gruppe aus“ (S. 303), während für den vierten Typus weder die eigene ethnische Herkunft noch die Herkunft der Opfer, Täter, Zuschauer und Mitläufer, sondern der Mensch an sich von Bedeutung ist. Das historische Interesse orientiert sich hier „vornehmlich an universalistischen Fragestellungen. Unabhängig von der eigenen ethnischen Zugehörigkeit werden verschiedene allgemeine Problemfelder identifiziert, die in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust eine Rolle spielen“ (S. 306).

Es gibt inzwischen ein Vielzahl von Studien darüber, wie der Nationalsozialismus und der Holocaust in Deutschland erinnert werden und die sich mit den Opfern, Tätern, Mitläufern und Zuschauern und vor allem deren Nachkommen beschäftigen.2 Viola Georgi gebührt das Verdienst, diese Frage aus dem genealogischen bzw. ethnisch-deutschen Kontext herausgelöst und neu, d.h. mit Blick auf die in Deutschland lebenden Menschen nichtdeutscher Herkunft gestellt zu haben. Ihre Fallstudien verdeutlichen eindringlich, dass der Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus für die Jugendlichen aus Einwandererfamilien in der Tat sehr häufig zu einem „Kernthema der Verhandlung von Identität und Zugehörigkeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft“ (S. 11) wird. Zu Recht ist daher zu fragen, inwiefern hierzulande das Festhalten an einem historisch unterfütterten ethnisch-nationalen Selbstverständnis, das unter anderem auf Vergangenheitsdiskursen beruht, die sich vorwiegend um „die (durch Abstammung begründete) deutsche Schicksals-, Verantwortungs- oder Haftungsgemeinschaft“ drehen, „zum Ausschluß von Menschen nichtdeutscher Herkunft führen kann“ (ebd.).

Die Untersuchung schließt mit einem Plädoyer für die Ausrichtung an der Kategorie „Mensch“ bzw. „Menschheit“ (Typus IV) als Ausweg aus einer rein national fokussierten Erinnerungsgemeinschaft. Dabei werden Kriterien formuliert, die eine zukunftsfähige historisch-politische Bildung in der deutschen Einwanderungsgesellschaft erfüllen müsste. Doch so einleuchtend die hier vorgetragenen Argumente im Einzelnen sind – als Schlussfolgerung der Arbeit können sie nicht ganz überzeugen. Denn nach der reinen Beschreibung der Typologie wäre eine abschließende Diskussion der Ergebnisse aus den Fallstudien mit Blick auf die eingangs aufgeworfenen Fragen wohl nahe liegender gewesen: Was folgt beispielsweise daraus, dass „die Bedeutung des nationalkulturellen Hintergrundes der befragten Jugendlichen für die Aneignung der NS-Geschichte in der überwiegenden Zahl der Fälle eher gering veranschlagt werden muß“ (S. 309)? Welche Rolle spielt die deutsche Staatsbürgerschaft, die manche der Jugendlichen besitzen, und wie wirken sich Ausgrenzungserfahrungen in Deutschland für die Positionierung zur Einwanderungsgesellschaft und ihrer Vergangenheit aus? Schließlich zeigen die Interviews sehr deutlich, welche Schwierigkeiten jugendliche Migranten haben, aufgrund phänotypischer Unterschiede als „Deutsche“ anerkannt zu werden, und wie stark die nationale Zugehörigkeit in Deutschland letztlich ethnisch definiert wird. Bedauerlicherweise ist es Georgi letztlich nicht gelungen, all das aus ihrem Material herauszuholen, was dort – wie die einzelnen Fallbeispielen belegen – angelegt ist.

Nichtsdestotrotz hat Viola Georgi insgesamt eine interessante Studie mit wichtigen Erkenntnissen über die Geschichtsbezüge jugendlicher Migranten vorgelegt. Wie sie dabei zeigt, lohnt es sich durchaus, die von Jugendlichen erzählten Geschichten über die NS-Zeit nicht, wie es in der Geschichtsbewusstseinsforschung häufig der Fall ist, auf ihren wissenschaftlich gesicherten historischen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, sondern als Ausdruck der spezifischen „Geschichtsaneignung einzelner Subjekte“ (S. 63) ernst zu nehmen und zu untersuchen. Ihre Arbeit macht darüber hinaus deutlich, wie wichtig es ist, die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust in Deutschland nicht nur als Aufgabe oder Angelegenheit der „Deutschen“, sondern aller hier lebenden Menschen zu begreifen. Schade ist nur, dass die Gesamtstruktur des Buches, insbesondere der theoretisch Teil, nicht durchgängig konsistent und vor allem die „Schlußbemerkung“, wie dieses Kapitel – durchaus passend – heißt, so knapp ausgefallen ist, was auch durch die jeweiligen Zusammenfassungen und Kommentare am Ende der meisten Fallstudien (bei den letzten beiden fehlt ein solches Resümee) nicht kompensiert werden kann.

Anmerkungen:
1 Borries, Boris von u.a., Geschichtsbewusstsein im interkulturellen Vergleich, Pfaffenweiler 1994; Rüsen, Jörn, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, S. 137-168.
2 Siehe z.B. Bar-On, Dan, Furcht und Hoffnung. Von den Überlebenden zu den Enkeln. Drei Generationen des Holocaust, Hamburg 1997; Kohlstruck, Michael, Zwischen Erinnerung und Geschichte. Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen, Berlin 1997; Moller, Sabine, Vielfache Vergangenheit. Öffentliche Erinnerungskulturen und Familienerinnerungen an die NS-Zeit in Ostdeutschland, Tübingen 2003; Leonhard, Nina, Politik- und Geschichtsbewusstsein im Wandel. Die politische Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit im Verlauf von drei Generationen in Ost- und Westdeutschland, Münster 2002; Rosenthal, Gabriele (Hg.), Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern, Giessen 1997; Schwelling, Birgit, Wege in die Demokratie. Eine Studie zum Wandel und zur Kontinuität von Mentalitäten nach dem Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik, Opladen 2001; Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.

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