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Titel
Aufbruch aus dem Glauben?. Katholische Heimatvertriebene in den gesellschaftlichen Transformationen der Nachkriegsjahre 1945-1965


Autor(en)
Bendel, Rainer
Reihe
Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 34
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
647 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hirschfeld, Institut für Geschichte und Historische Landesforschung, Hochschule Vechta

„Aufbruch aus dem Glauben?“ Wer erwartet hätte, diese im Titel von Rainer Bendels neuem Buch gestellte Frage mit Hinweis auf die Situation des deutschen Katholizismus im Jahre 1945 eindeutig negiert zu bekommen, wird bei der Lektüre eines Besseren belehrt. Von einer Erosion des als brüchig empfundenen und einer tragfähigen Substanz entbehrenden Katholizismus der ersten Nachkriegszeit, wie ihn Bendel gemeinsam mit Joachim Köhler in einem ersten Zugriff auf sein Projekt vorab beschrieben hatte1, ist in seiner hier vorliegenden Monografie, einer Tübinger Habilitationsschrift, nicht mehr allzu viel zu spüren. Um es kurz zu sagen: Bendel legt zwar eine grundsolide Arbeit vor, welche die Frage nach verpassten Chancen und Leistungen der Vertriebenenseelsorge2 ernsthaft aufgreift. Er verharrt jedoch im Diskussionsstadium der von ihm aufgezeigten Impulse der katholischen Vertriebenenseelsorge. So ließe sich ein erster Eindruck nach der Lektüre der Studie formulieren, der im Verlauf dieser Besprechung noch einer Vertiefung bedarf.

Zentral für Bendels Werk ist zunächst einmal zum einen die Tatsache, dass hier erstmals der Versuch gewagt wird, die katholischen Vertriebenen in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Zum anderen erscheint der Ansatz fruchtbar, durch das Herausgreifen von vier Vertriebenengruppen, nämlich der Sudetendeutschen, Schlesier, Ermländer und Donauschwaben, Schneisen in das Dickicht des Vertriebenenkatholizismus mit seinen vielfältigen traditionellen bzw. nach der Vertreibung neugeschaffenen, z.T. konkurrierenden Strukturen zu schlagen. Der hier gewählte biografische Zugriff lässt ohne Frage die pastoralen und gesellschaftlichen Impulse der einzelnen Herkunftsgruppen am Beispiel ihrer wichtigsten Exponenten exzellent vor Augen treten. Damit ist auch schon der erste, von Bendel als „Historischer Teil“ (S. 57 - 409) bezeichnete Block des gewichtigen Bandes im Wesentlichen vorgestellt. Ihm folgt ein zweiter, so genannter „Thematischer Teil“ (S. 411- 591), der auf der Reflexionsebene angelegt ist und zum Ziel hat, die Wirkungskraft der einzelnen Impulse zu analysieren. In beiden Zugriffen wird der „rote Faden“ Bendels durchaus konsequent erkennbar, einerseits pastorale und gesellschaftliche Konzepte der kirchlichen Vertriebenen zu rezipieren und andererseits den Begegnungsprozess zwischen Vertriebenen und Einheimischen zu fokussieren, wobei er die Vertriebenenseelsorge zu Recht als ein bisher unterbelichtetes „kardinales Thema für die kirchliche Zeitgeschichte in Deutschland“ (S. 3) charakterisiert.

Diese Lücke hat Bendel im Großen und Ganzen füllen können, wenngleich ihm die Energie zu wünschen gewesen wäre, die zwischen Einreichen der Habilitationsschrift 2001 und dem Erscheinen neu erschienene einschlägige Literatur zum Vertriebenenkatholizismus wenn nicht inhaltlich einzuarbeiten, so doch zumindest vollständig in das ansonsten umfangreiche Literaturverzeichnis aufzunehmen.3

Anschaulich versteht es Bendel die Traditionen des sudetendeutschen, schlesischen, ermländischen und donauschwäbischen Katholizismus aus der Vorkriegszeit darzustellen. Breiten Raum nehmen dabei der vom barocken Frömmigkeitsideal gespeiste donauschwäbische Katholizismus, der aus seiner kulturellen und sozialen Geschlossenheit lebende ermländische Katholizismus und nicht zuletzt der von der Jugend- und Liturgiebewegung der Zwischenkriegszeit geprägte sudetendeutsche (Staffelstein) und vor allem schlesische (Quickborn) Katholizismus ein. Ihre jeweiligen Impulse für den Vertriebenenkatholizismus sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung, obgleich Bendel beispielsweise konstatieren muss, dass eben „doch nur ein Teil der in der Vertriebenenseelsorge führenden Schlesier aus dem Quickborn kommt“ (S. 253). Ohnehin sind die Passagen zu Quickborn und Staffelstein, so spannend sie zu lesen sind, doch teilweise weit ausholend, während anderen Aspekten des schlesischen Katholizismus, wie z.B. der typisch schlesischen Toleranz und der spezifischen Frömmigkeit wenig Beachtung geschenkt wird. Der Stellenwert des Breslauer Fürsterzbischofs Adolf Kardinal Bertram wird allein aus seinen Hirtenbriefen abgeleitet, gemäß denen er lediglich „ein sehr zeitbedingtes Seelsorgeverständnis“ (S. 229) aufwies. Auch der theologischen Prägung der ermländischen Priesteramtskandidaten wird mit dem Hinweis auf fehlende Vorstudien keine nähere Beachtung geschenkt. Dabei hätte gerade eine Auseinandersetzung mit den zeitweise um Brückenbau zum Nationalsozialismus bemühten Braunsberger Professoren eine sinnvolle Bereicherung zu einer mentalitätsgeschichtlich orientierten Kollektivbiografie des Vertriebenenklerus bieten können.

Denn um den Klerus geht es Bendel mit seinen aufschlussreichen Einblicken in Leben und Denken der führenden Vertriebenenseelsorger, wobei die Informationen zur Auswahlkriterien der Persönlichkeiten sicherlich schon an den Beginn dieses Abschnitts gehört hätten (vgl. S. 59, statt S. 113). Etwas stiefmütterlich wird im Übrigen in diesem Kontext der Grafschafter Priester Georg Goebel behandelt. Überaus charismatisch und mit einem weit reichenden Aktionsradius als Redner auf Vertriebenenkundgebungen, der seelsorgliche und politische Aspekte zu verknüpfen suchte, ist er Bendel nur zwei Randbemerkungen wert und erscheint im Personenregister auch noch fälschlich unter dem Namen Lutz Goebel (S. 638).

Aber dieser kleine Lapsus verdient nur eine Randnotiz, zumal das eigentliche Problem von Bendels Darstellung eher in der Fülle des verarbeiteten Materials liegt. Als auffälliges Kennzeichen ziehen sich jedenfalls die oftmals über eine halbe Seite reichenden Zitate durch den Band, die man sich gekürzt und in manchen Fällen paraphrasiert wiedergegeben gewünscht hätte, um einen konzisen Argumentationsstrang zu entwickeln. Statt dessen werden vielfach Konzepte wortwörtlich referiert, was dem Werk den Stellenwert einer – zugegebenermaßen sehr gelungenen - Literaturumschau verleiht. Und wo Bendel sich zu Gewichtungen durchringt, lassen sich gelegentlich Bedenken anmelden: So war etwa der schlesische Pfarrer Johannes Smaczny nicht gemeinsam mit dem Glatzer Generalvikar Monse Mitbegründer des Osnabrücker St.-Hedwigs-Werkes, sondern holte Monse nur als Galionsfigur an Bord dieser Kulturinstitution für die katholischen Vertriebenen. Des Weiteren ist es zu undifferenziert, von einer „sehr vergleichbaren Zielsetzung“ (S. 306) von Hedwigs-Werk und Eichendorffgilden zu sprechen, da letztere primär in größeren Städten West- und Süddeutschlands für die geistige Elite, erstere hingegen flächendeckend in einigen Diözesen auf Ortsebene und zudem für alle Bevölkerungsschichten gegründet wurden.

Kritisch wird man einwenden müssen, dass die Frage nach dem „Aufbruch aus dem Glauben“ nicht nur eine Frage nach Konzepten sein kann, sondern auch aus dem konkreten Lebensalltag heraus beantwortet werden muss. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Bendels Studie in vielen Passagen statisch wirkt, weil sie eben Vertriebenenseelsorge mit gewissen Scheuklappen betrachtet. Exemplarisch wird dies im Hinblick auf den überregional umtriebigen Kölner Vertriebenenseelsorger Gerhard Moschner erkennbar, der bei Bendel pejorativ als „Manager der Jugendbewegung“ charakterisiert wird. Dass Moschner auch individuelle Seelsorge betrieben hat, wie aus seiner umfangreichen Korrespondenz mit katholischen Schlesiern der jungen Generation abzulesen ist, ignoriert Bendel. Angesichts der grundsätzlichen Problematik, pastorale Erfolge empirisch zu messen, erscheint es dann auch obsolet, im Falle der von Bendel vorgenommenen Fokussierung auf seelsorgliche Strategien und institutionelle Bindungen der katholischen Vertriebenen gleichzeitig das Fehlen innerer seelsorglicher Konzepte zu beklagen. Insofern erscheint es unter dem gewählten Ansatz ein Leichtes, die meisten dargestellten Priesterpersönlichkeiten aufgrund ihrer Durchsetzungsfähigkeit voraussetzenden überregionalen Wirksamkeit als „patriarchalische Figur(en)“ (S. 403) zu kennzeichnen.

So fragwürdig diese oder andere Pauschalisierungen sein mögen: An manchen Stellen hätte man sich eine entsprechende aggressive Diktion gewünscht, um der Studie ein wenig mehr Biss zu verleihen. Denn durch die Zurückhaltung Bendels mit Deutungen bekommt die Darstellung insgesamt – selbst im zweiten, der Reflexion dienenden Block - einen vornehmlich deskriptiven Charakter. Das Resultat kann somit nur nüchtern und wenig streitbar ausfallen. Und weniger als das: Am Ende stehen Fragen über Fragen, die offenbar den weiteren Forschungsbedarf auf dem Sektor des Vertriebenenkatholizismus deutlich machen sollen, in der Praxis aber dazu führen, dass Bendel dem Leser die erwarteten Antworten schuldig bleibt. Nun lebt aber der Fortgang der fachlichen Diskussion von der Urteilsfreudigkeit der Wissenschaftler, da nur durch Deutungen auch Reibeflächen entstehen, welche die Forschung nachhaltig befruchten. Positiv sticht in diesem Zusammenhang hervor, dass Bendel seine Eingangsthese von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (S. 36) abschließend dahingehend verifiziert, dass Auflösungs- und Stabilisierungstendenzen des katholischen Milieus parallel gewirkt hätten (vgl. S. 561). Eine solche Erkenntnis hätte man sich im Hinblick auf die innerhalb der Katholizismusforschung herrschende Diskussion um den Zeitpunkt der Erosion des katholischen Milieus aber stärker akzentuiert gewünscht. Insofern besteht auch bei diesem durchaus fundamentalen Resultat Bedarf nach deutlicherer Positionierung und Konturierung, die ein Manko der ansonsten fleißigen Arbeit darstellt.

Für dieses Desiderat entschädigt ein wenig die geschickt angelegte Struktur der Abhandlung, die auch einem breiteren historisch-theologisch interessierten Publikum instruktive Einblicke in die vielfältigen Facetten des Vertriebenenkatholizismus ermöglicht, sowie die im Geleitwort des Herausgebers der Reihe hervorgehobene Methodenvielfalt (vgl. S. XVI), mit deren Hilfe es Bendel gelungen aus theologischen, historischen, soziologischen und volkskundlichen Aspekten einen geschlossenen Gedankenkreis zu formen. Entstanden ist ein Opus magnum, um das die Katholizismusforschung künftig nicht mehr herumkommen wird. Gleichzeitig aber bleibt die von Bendel in anderem Kontext selbst konstatierte „Spannung zwischen Einzelfällen [...] und Methode“ (S. 494) ein kontinuierlich spürbares Charakteristikum dieser Studie.

Anmerkungen:
1 Vgl. Köhler, Joachim; Bendel, Rainer (Hgg.), Bewährte Rezepte oder konventionelle Experimente? Zur Seelsorge an Flüchtlingen und Heimatvertriebenen. Anfragen an die und Impulse für die Katholizismusforschung, in: Joachim Köhler; Damian van Melis (Hgg.), Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft (Konfession und Gesellschaft 15), Stuttgart 1998, S. 199-228, hier v.a. S. 213.
2 Vgl. ebd., S. 226.
3 Vgl. Hirschfeld, Michael, Katholisches Milieu und Vertriebene. Eine Fallstudie am Beispiel des Oldenburger Landes 1945-1965 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 33), Köln 2002; Lempart, Matthias, Der Breslauer Domvikar und Jugendseelsorger Gerhard Moschner als Organisator der vertriebenen katholischen Schlesier (Arbeiten zur schlesischen Kirchengeschichte 12), Stuttgart 2001; Holzapfel, Christoph; Vogt, Gabriele, Durch den gemeinsamen Glauben eine Heimat finden (Arbeiten zur schlesischen Kirchengeschichte 13), Münster 2002, wobei letzterer Titel nicht im Literaturverzeichnis auftaucht.

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