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Titel
Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung


Autor(en)
Holz, Klaus
Erschienen
Anzahl Seiten
615 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wyrwa, Berlin

Eines der ersten groß angelegten Forschungsprojekte zum Antisemitismus, das zudem auch methodisch ungemein ambitioniert war, wurde in den 1940er-Jahren von dem nach Amerika emigrierten Frankfurter Institut für Sozialforschung durchgeführt. Auch eine der ersten geschichtswissenschaftlichen Studien zum Antisemitismus - Paul Massings auch heute noch lesenswerte und anregende ,Vorgeschichte des politischen Antisemitismus' - war Teil dieses Projektes. Dennoch hat sich die Soziologie seither, abgesehen von empirischen Erhebungen über die Einstellung und die Haltung der Bevölkerung zum Antisemitismus, nur wenig mit diesem Thema befasst. Umso begrüßenswerter ist es, dass nun mit der Habilitationsschrift von Klaus Holz eine soziologische Studie vorliegt, die die Methoden der Systemtheorie, der Begriffsgeschichte sowie der strukturalen Hermeneutik verknüpft und als Beitrag zur Wissenssoziologie ausgewiesen ist.

Ausgangspunkt von Holz ist die Überzeugung, dass der Antisemitismus vor allem durch die Verbindung mit dem Nationalismus gekennzeichnet ist, und dass dieser Zusammenhang in der Forschung bisher ungenügend analysiert wurde. Sein Ziel besteht darin, die Struktur der nationalistisch-antisemitischen Weltanschauung zu rekonstruieren, wobei er den Antisemitismus als eine in sich strukturierte politisch-soziale Semantik fasst. Semantik wiederum bestimmt er als sozial und kommunikativ konstruiertes Sinngebilde, dass dezidiert nicht auf ein individuelles Bewusstsein reduziert werden könne. Daher unterscheidet Holz erstens zwischen der Sozialpsychologie der Antisemiten und der Soziologie des Antisemitismus sowie zweitens zwischen dem Text der antisemitischen Semantik und dem historischen Kontext der Antisemiten. Die antisemitische Semantik als eine in sich strukturierte Kommunikation ist zwar in Kontexten situiert, deren Struktur aber wird in den Texten selbst und nicht, so Holz Überzeugung, in den Kontexten produziert. Aus soziologischer Sicht müsse sich die Antisemitismusforschung daher konstruktivistischen und kommunikationstheoretischen Ansätzen der Soziologie öffnen, und die bisher diskutierten Theorien zum Antisemitismus - funktionalistische oder kausale Theorien, Korrespondenz- oder Differenztheorien - hätten das gleiche Problem, sie bestimmten den Antisemitismus allein aus deren Kontext, und nicht als eine eigenständige kulturelle Dimension des Sozialen. Um diese Dimension, die antisemitische Semantik, angemessen zu erfassen, hat Holz sechs Fallstudien durchgeführt und Schlüsseltexte aus der Geschichte des Antisemitismus einer genauen sprachlichen Analyse unterzogen. Ziel ist es, die Struktur und die innere Logik der antisemitischen Semantik sowie dessen Regelwerk zu rekonstruieren.

Nach Heinrich von Treitschkes Text ,Unsere Aussichten' von 1879, mit dem er den später so genannten ,Berliner Antisemitismusstreit' eröffnet hatte, untersucht Holz die semantische Struktur von Adolf Stoeckers Rede ,Unsere Forderungen an das moderne Judenthum' von 1880. Um auch europäisch vergleichende Aspekte in die Rekonstruktion der Semantik aufnehmen zu können, analysiert Holz im folgenden Kapitel das 1886 erschienene Buch des französischen Journalisten Èdouard Drumont ,La France Juive', von dem allein im ersten Jahr 100.000 Exemplare verkauft wurden und dessen Gesamtauflage auf über eine Million geschätzt wird. Die Rekonstruktion dieses Textes macht deutlich, dass der Antisemitismus in Frankreich dieselbe Struktur hat wie in Deutschland. Als nächsten Schlüsseltext hat Holz die Rede Adolf Hitlers ,Warum sind wir Antisemiten?´ - gehalten im August 1920 im Münchner Hofbräuhaus vor über 2.000 Zuhörern - herangezogen. Durch seine präzise sprachliche Analyse kann Holz zeigen, dass der Antisemitismus für Hitler und die NSDAP schon 1920 im Mittelpunkt der Weltanschauung stand und dass es keiner Transformation des Antisemitismus bedurfte, um die nationalsozialistische Vernichtungspolitik zu ermöglichen. Auf der Ebene der Semantik, so Holz Resümee, genügten einige Variationen, und diese zielten bereits 1920 auf die Umsetzung der Verfolgungspraxis durch den Rassenstaat. Um auch den Antisemitismus nach dem Holocaust in die Rekonstruktion einzubeziehen und um zu zeigen, dass der Antizionismus zu einem Moment der antisemitischen Semantik wurde, analysiert Holz im folgenden Kapitel das Gerichtsprotokoll des Prager Slansky-Prozesses von 1952, in dem hohe Funktionäre der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei vor Gericht gestellt und Slansky zusammen mit zehn weiteren Angeklagten zum Tode verurteilt wurde. Die Besonderheit dieses Antizionismus besteht in der Integration der antisemitischen Semantik in den Marxismus-Leninismus, da darin, dass das ,jüdischen Volk' als Feind aller ,werktätigen Völker' definiert wird.

Schließlich geht es Holz darum, auch die aktuellen Formen des Antisemitismus in die soziologische Rekonstruktion der antisemitischen Semantik einzubeziehen. Als Beispiel hat er einen Kommentar der österreichischen ,Neuen Kronen Zeitung' vom März 1986 zur Waldheim-Affäre ausgewählt. Die Sprache dieses Beitrages reproduziert nach Holz die antisemitische Rhetorik, wobei wesentliche Elemente derselben latent bleiben.

So präzise und beeindruckend die Analysen von Holz auch sein mögen und so anregend sie, insbesondere die Untersuchung der Hitler-Rede von 1920, gerade auch für die Geschichtswissenschaft sind, die den Antisemitismus Hitlers vielfach sträflich missachtet hat, die kategorische Trennung von Text und Kontext, die Holz programmatisch einfordert, ist nicht unproblematisch. Wenn Holz schreibt, dass die Reduktion des Antisemitismus auf Antisemiten, bzw. von Texten auf Kontexte die Analyse der antisemitischen Semantik blockiert, so lässt sich ebenso die These vertreten, dass die Konzentration auf die antisemitische Semantik keine Einsicht in die soziale Praxis und die konkrete Haltung der Antisemiten zulässt, oder, um das Wort Hegels "Der Begriff des Hundes bellt nicht" zu variieren: "Die Semantik des Antisemitismus tötet nicht."

Darüber hinaus gerät mit der Reduktion auf Texte eine Dimension des Antisemitismus aus dem Blick, die für die jüdischen Erfahrungen von zentraler Bedeutung war. Juden wurden in unterschiedlichen Kontexten und verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich wahr- und aufgenommen. Mitunter nahmen dieselben Personen je nach Situation und Kontext changierende Haltungen ein. So konnte ein Intellektueller wie Theodor Fontane antijüdische Gemeinplätze von sich geben und gleichzeitig seine Hochachtung Juden gegenüber zum Ausdruck bringen, wie umgekehrt ein Schriftsteller wie Gustav Freytag in seinen Texten antisemitische Klischeebilder präsentierte, später aber dem Abwehrverein gegen den Antisemitismus beitrat.

Die Probleme, die die Konstruktion einer in sich kohärenten Logik der antisemitischen Semantik, die sich allein auf Texte stützt, rühren methodisch auch daher, dass Holz den in der philosophischen Hermeneutik Gadamers so zentralen Begriff der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte sowie den Begriff der Traditionsbildung nicht rezipiert hat. Diese würde es nicht nur erlauben das Verhältnis von Texten und Kontexten angemessener zu analysieren, sondern können auch zu einer historischen Semantik des Antisemitismus beitragen.

Schließlich ist Holz' Begriff des nationalen Antisemitismus, der ihm zufolge den des modernen Antisemitismus ersetzten könne, problematisch, denn dieser Begriff verdeckt die Ambivalenzen und inneren Widersprüche des Projektes der Nation. Zunächst versprach der Nationalstaat der jüdischen Bevölkerung Freiheit, rechtliche Gleichheit und volle Bürgerrechte. Nur so wird verständlich, warum die überwältigende Mehrheit der Juden im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens und als deutsche Patrioten, ja mitunter selbst als Nationalisten verstanden hat. Zudem zeigt etwa das Beispiel Italiens, dass der Nationalismus nicht notwendigerweise antisemitisch sein musste, wie umgekehrt eine nicht-nationale Institutionen wie die katholische Kirche extrem antisemitisch eingestellt war und mitverantwortlich ist für die Entstehung und Entwicklung der antisemitischen Rhetorik. Trotz dieser Bedenken ist die Studie von Holz eine ungemein anregende Lektüre, die zumal durch die Genauigkeit, mit die Schlüsseltexte des Antisemitismus gelesen werden, besticht. Produktiv ist sie vor allem deshalb, weil sich nun die Soziologie eines Themas angenommen hat, das sie seit dem großen Forschungsprojekt des Instituts für Sozialforschung sträflich vernachlässigt hat.

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