Titel
Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien


Autor(en)
Kundrus, Birthe
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
339 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ravi Ahuja, Department of History, South Asia Institute, Heidelberg

Im Jahre 1912, so berichtet Birthe Kundrus, wurde am Geburtstag des Kaisers in Windhoek ein Kriegerdenkmal zu Ehren der in den Kriegen gegen Nama und Herero gefallenen deutschen Soldaten enthüllt. „Der eherne Reiter der Schutztruppe“, so wurde auf der Einweihungsfeier erläutert, „[…] verkündet der Welt, daß wir hier Herren sind und bleiben werden“ (S. 216). Das viereinhalb Meter hohe Reiterstandbild war Resultat eines mehrjährigen Prozesses kolonialen Räsonierens, einer Suche nach einer Denkmalform, die geeignet war, die deutschen Kriegstoten zu ehren, ohne „daß die Eingeborenen in der Darstellung einen Triumph für sich erblicken können“ (S. 214). Im Ergebnis wurden nun keine gefallenen Schutztruppler dargestellt, und auch die Nama und Herero fanden weder als kämpfende noch als besiegte Gegner Eingang in die Denkmalsgestaltung. Diese verwies, wie Kundrus treffend bemerkt, „die Kolonisierten […] visuell nach außen“ (S. 218). Die Kolonisierten besaßen in dieser Darstellung weder Gesicht noch Gliedmaßen, sie als denkende und handelnde Subjekte anzuerkennen, wollten die Denkmalstifter ja gerade vermeiden. Dies scheint ein generelles Charakteristikum aller Kolonialdiskurse zu sein, nicht nur des wilhelminischen, den Kundrus untersucht. Auf die Konsequenzen dieses Phänomens für die Geschichtsschreibung werden wir noch zu sprechen kommen.

Zunächst wollen wir uns aber den Intentionen der Autorin zuwenden, die eingangs klarstellt, dass ihre Studie nicht als Beitrag zur Geschichte der Kolonisierten in „Deutsch-Südwestafrika“, sondern als Versuch der „Integration kolonialer Vorstellungswelten in eine Mentalitäts- und Kulturgeschichte des Kaiserreiches“ (S. 26) verstanden werden solle. Sie begreift Kolonialismus als „reflexive[n] kulturellen[n] Vorgang“ (S. 10) und interessiert sich besonders für jene Spuren, die „der Imperialismus bei den Imperialisten und zwar in deren individueller und kollektiver Identitätsbildung“ hinterließ (S. 17). Kundrus erkundet also in theoretischer Anlehnung an gegenwärtige Trends der Kolonialforschung im englischsprachigen Raum den deutschen „Kolonialdiskurs“. Die Stärke des Buches besteht darin, aus einer Fülle schriftlich überlieferter deutscher Stellungnahmen zur Kolonialpolitik Argumentationsmuster und Debatten zu rekonstruieren. „Kolonialinteressierte“ oder „Kolonialräsonierende“ nennt die Autorin diejenigen, deren Stimmen sie in ihrer Studie hörbar macht: Männer und (in geringerem Umfang) Frauen, die großenteils dem Bildungsbürgertum, zum Teil auch dem Adel entstammten und ein vorwiegend, aber nicht ausschließlich konservatives politisches Spektrum repräsentierten.

Die Studie widmet sich vier wichtigen Problemfeldern des „Kolonialräsonierens“, nämlich der Ansiedlungspolitik, der Naturbewältigung, dem „kulturellen Arrangement in der Fremde“ und schließlich der „Rassenpolitik“ hinsichtlich so genannter „Mischehen“. In den Debatten über diese Problemfelder scheinen drei zentrale Themen immer wieder aufgenommen worden zu sein.

Erstens scheint über alles deutsche Kolonialräsonieren der Schatten des britischen Imperialismus gefallen zu sein. Das präsentierte Material lässt bei einem Historiker, der über die britische Kolonialgeschichte arbeitet, den Eindruck entstehen, dass deutsches Kolonialräsonieren sich gewöhnlich in Denkbahnen bewegte, die von britischen Kolonialideologen seit dem späten 18. Jahrhundert angelegt und ausgetreten worden waren. Das gilt für die Ansiedlungspolitik, in der (wie in „Britisch-Indien“) Positionen dominierten, die eine Ansiedlung von „auserlesenen Söhne[n] aus den tüchtigsten Kreisen unseres Volkes“ (S. 69; gemeint sind die Mittelschichten) befürworteten, um das Prestige der Deutschen unter den „Eingeborenen“ nicht zu gefährden. Das gilt ebenso für die strapazierten Denkfiguren kultureller und „rassischer“ Segregation. Die Übernahme „fremder“ kultureller Praktiken, vom Tragen asiatischer Kleidung bis hin zur Konversion zu einer „orientalischen“ Religion, war seit dem späten 18. Jahrhundert im britischen Kolonialdiskurs zunehmend schärfer als „going native“ verurteilt worden, und die Politik der „kulturellen Selbstvergewisserung“ in „Deutsch-Südwest“, welche die „Heimatverbundenheit“ deutscher Schulkinder mit ausgestopften Igeln und die der Erwachsenen mit patriotischen Feierlichkeiten kultivierte, scheint ganz diesem Muster gefolgt zu sein. Der Schatten des britischen Empires machte sich allerdings nicht nur in Form von Imitation bemerkbar, sondern auch im ständigen Messen am britischen Beispiel, oft verbunden mit dem Hinweis, dass „der Deutsche“ seine „Ebenbürtigkeit“ erst noch beweisen müsse. In der Forderung „neben anderen ebenbürtig zu herrschen auch über den Wogen“ (S. 1) hallte das „Rule Britannia“ des „free-born Englishman“ nach. „[W]ir besitzen leider nicht den Rassestolz jener Nationen [der Engländer], sondern leiden an nationaler Weichheit und Nachgiebigkeit gegen alles Fremde und unter Gefühlsdusel, der das Rassebewusstsein oft unterdrückt“ – so die Klage eines Alldeutschen aus dem Jahre 1912 (S. 259), die mit zahlreichen gemäßigteren Aussagen in der gefährlichen (und beunruhigend an aktuelle Ergüsse erinnernden) Diagnose übereinstimmte, die Deutschen litten im Vergleich zu den Engländern an einem „Gefühl nationaler Minderwertigkeit“ (S. 284).

Das zweite zentrale Thema klang bereits an: Die Bewahrung kultureller und ethnischer „Reinheit“, ein „Diskurs“, in dem sich Kulturchauvinismus und zunehmend biologistischer Rassismus auf inkohärente Weise miteinander verbanden und eine Politik der „Rassentrennung“ legitimierten. Wie in britischen Kolonien wurde der „Import“ von Frauen aus der Metropole für ein besonders effizientes Mittel gegen die kulturelle „Assimilation“ der Siedler oder, wenn wir den gängigen zeitgenössischen Terminus bemühen wollen, gegen das „Verkaffern“ angesehen. Sexuelle Kontakte zwischen europäischen Männern und afrikanischen Frauen wurden von der Mehrheit der Kolonialräsonierenden als „unschön“, Ehen in dieser Konstellation als „gemeinschaftsgefährlich“, Beziehungen zwischen deutschen Frauen und afrikanischen Männern aber als „niederträchtiger Verrat am eigenen Volk“ (S. 223) bewertet. Auch hier wurden britische Denkfiguren nachexerziert, wenngleich entsprechendem Fehlverhalten in deutschen Kolonien nicht nur durch gesellschaftliche Ächtung und administrative Methoden, sondern auch durch gesetzliches Verbot entgegen gewirkt wurde. Auch gab es offenbar keine Versuche, aus dem legitimen oder illegitimen Nachwuchs europäischer Männer und „eingeborener“ Frauen eine „Zwischenethnie“ (wie etwa die „Eurasians“ in Indien) zu konstruieren und dieser in einem ethnisch kompartimentierten Herrschaftssystem eine Mittlerstellung zuzuweisen. Kundrus betont Kontroversen und Inkohärenzen in Segregationsdebatten, betont Differenzen zu späteren ideologischen Konstrukten und insbesondere, dass sich kein „geschlossen rassistisches Menschenbild“ herausbildete, „wie es die Nationalsozialisten später perfekt entwickelten“ (S. 276). Die Frage nach der langfristigen Wirkung dieser im deutschen Kolonialkontext erzeugten oder umgeformten geistigen Unterströmung ist damit jedoch nicht beantwortet.

Drittens wird in den Debatten der Kolonialräsonierenden die Kolonie immer wieder als positives Gegenbild zu einer bedrohlich empfundenen „Moderne“ dargestellt; nicht selten geraten sie zum Schauplatz einer gegen „sozialistische Gleichmacherei“ gerichteten Utopie. Auf dem Hintergrund der Umwälzungsprozesse kapitalistischer Modernisierung in der Metropole wurde der „Farmer“ als Idealbild des deutschen Siedlers konstruiert, dem eine „Mischform adeliger und bürgerlicher Lebensstile“ (S. 66) zugeschrieben wurde. Den Gefahren der Industrialisierung, die „gefährliche Klassen“ hervorbrachte und „wirtschaftlich und mental selbständige Existenzen bedrohe“ (S. 76), wurde das Bild eines neuen „Herrentums“ entgegengestellt, in dem wahrhafte „Freiherren“ und „Hirtenfürsten“ paternalistische Herrschaft über afrikanische Bedienstete ausübten und eine harte Natur bezwangen. Kundrus betont, dass diese kolonialen Gesellschaftsentwürfe nicht als „rückwärtsgewandter antimoderner antiindustrieller Agrarromantizismus“ (S. 76) eingeordnet werden dürften, zitiert aber an anderer Stelle den liberalen Journalisten M. J. Bonn, der die Beamten, die er 1906/07 in Windhoek traf „als Sprösslinge preußischer Junkerfamilien [charakterisierte], die in Afrika so als Herren auftreten würden, wie sie es in Hinterpommern schon lange nicht mehr dürften“ (S. 134). Auch für den britischen Kontext ist bemerkt worden, dass Mitglieder der aristokratischen und bürgerlichen Oberschichten in Kolonien patriarchalische Herrschaftsverhältnisse zu etablieren versuchten, die in der Metropole zunehmend unter Beschuss gerieten.

Der besprochene Band ist zweifellos gründlich recherchiert und präsentiert in differenzierter Weise eine Fülle von Material, das neues Licht auf die koloniale Seite der deutschen Geistesgeschichte wirft. Kundrus selbst verweist in den letzten Zeilen ihrer Studie darauf, wie sehr sich „viele deutsche Kolonialkonzepte“ an denen anderer Imperialmächte orientierten – man könnte von einem weitgehend „abgeleiteten Diskurs“ sprechen. Für die britischen Kolonien liegen hierzu zahlreiche Veröffentlichungen vor; diese Thematik in der deutschen Forschungsdiskussion zur Geltung zu verhelfen, ist aber zweifellos ein nützlicher Beitrag. Die Schwäche der Studie liegt allerdings in einer historischen Perspektive, die Kolonialideologie weitgehend unabhängig von der Gesellschaftsgeschichte der Kolonien untersucht. So wie die Nama und Herero beim deutschen Kriegerdenkmal „visuell nach außen“ verwiesen wurden, ergeht es der afrikanischen Bevölkerung „Deutsch-Südwestafrikas“ letztlich auch in Kundrus’ Monografie. Diese Externalisierung deutet sich bereits im Titel der Studie an: Die Kolonien werden als „Spiegel“ des Kaiserreiches angesehen, anderenorts wird ihnen der Status einer „Folie“ (S. 281) oder „Projektionsfläche“ (S. 9) zugewiesen. Damit wird implizit davon ausgegangen, dass die Kolonisierten bei der Entstehung des Kolonialdiskurses eine rein instrumentelle, passive Rolle spielten – das von Kundrus scharfsinnig analysierte Phänomen der „Unsichtbarmachung“ des „Eingeborenen“ schleicht sich so in die Prämissen ihrer eigenen Arbeit ein. Deshalb kann die Autorin zwar den Anspruch einlösen, einen Beitrag zur Ideengeschichte des Kaiserreiches geleistet zu haben, die ideologischen Effekte der zeitweiligen Verflechtung einer metropolitanen Gesellschaft in Europa mit einem kolonialen Sozialgefüge im Süden Afrikas lassen sich aus dieser Perspektive allerdings nur sehr eingeschränkt ermessen: Selbst die Kriege gegen die Nama und Herero scheinen für den deutschen Kolonialdiskurses nur eine marginale Rolle zu spielen, während das alltägliche soziale Kraftfeld, auf dem Kolonialherren und Kolonisierte einander begegneten, fast gänzlich ausgeblendet bleibt. So finden etwa die kolonialen Debatten um „Eingeborenverordnungen“ und die Kontrolle afrikanischer Arbeitskräfte keinen Eingang in Birthe Kundrus’ Geschichte deutschen Kolonialräsonierens. Das von afrikanischen und deutschen Akteuren konstituierte Kraftfeld, die hierdurch bedingten Erfahrungen, die im „Kolonialdiskurs“ verarbeitet wurden, werden nicht sichtbar: Der Blick kann sich vom Reiterdenkmal nicht lösen; was verborgen werden sollte, bleibt unscharf. Die Untersuchung bleibt so letztlich Gefangene ihres Gegenstandes.

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