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Titel
Die Sophistik. Eine Bedrohung für die Religion und Politik der Polis?


Autor(en)
Scholten, Helga
Erschienen
Berlin 2003: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karen Piepenbrink, Seminar für Alte Geschichte, Universität Mannheim

Die Sophistik ist zweifelsohne eine der schillerndsten, aber zugleich eine der umstrittensten Erscheinungen der griechischen Geschichte des 5. Jahrhunderts v.Chr. Nicht nur in der philosophischen und philologischen Forschung, auch in der Alten Geschichte wird sie seit langem kontrovers diskutiert. Einigkeit ist unter den Althistorikern mittlerweile zumindest insoweit erzielt, als man die Sophistik einhellig als ein historisches Phänomen begreift, das nur in seinem politischen, sozialen und kulturellen Kontext angemessen zu erfassen ist. Dabei betont man - angesichts der Tatsache, dass die Sophisten schwerpunktmäßig in Athen tätig geworden sind - besonders den Zusammenhang mit der Herausbildung und Entwicklung der attischen Demokratie. Man fragt etwa nach den Entstehungsbedingungen der Sophistik oder eruiert ihre praktische Bedeutung für die Polis.1

Mit derartigen Ansätzen setzt sich Helga Scholten in ihrer Habilitationsschrift allerdings nicht wirklich auseinander, sondern greift die altbekannte Kritik an der Sophistik wieder auf, die bereits von den Zeitgenossen formuliert wurde: Sie möchte noch einmal prüfen, ob jene Bedenken nicht vielleicht doch gerechtfertigt waren und sich die Sophistik damit als primär dysfunktional für Athen verstehen lässt.

Scholten untersucht im ersten Teil ihrer Monografie die Positionen der wichtigsten Sophisten zum Mythos, zu den herkömmlichen Götterkonzeptionen sowie zum politischen Gemeinwesen. Sie stützt sich dazu soweit möglich auf die Fragmente und Testimonien, um den Verzerrungen, die große Teile der Rezeption prägen, zu entgehen. Die Beispiele, denen sie sich eingehend widmet, sind Protagoras, Gorgias, Prodikos, Thrasymachos, Hippias, Antiphon (wobei sie von der Identität des Sophisten und des Rhetors ausgeht) und Kritias. Neben deren Auffassungen zu den genannten Themenbereichen nimmt sie auch ihre Biografien in den Blick, um zu ermitteln, ob sich ihre religiösen und politischen Haltungen im konkreten Wirken niedergeschlagen haben.

Im Falle des Protagoras stellt Scholten fest, dass seine politischen Ansichten eindeutig demokratische Elemente enthalten hätten und seine agnostizistische Haltung keineswegs zur Verweigerung gegenüber der Kultpraxis geführt habe. Dennoch sieht sie in dem Mann aus Abdera eine potentielle Gefahr für die Polis, die sie mit seinen Beziehungen zu Kallias und dem möglichen Kontakt zu Alkibiades begründet. Gorgias schätzt sie demgegenüber als einen expliziten Kritiker der Demokratie ein und betrachtet ihn als einen der geistigen Wegbereiter der Stasis von 411 v.Chr. Ähnliches gilt nach ihrem Verständnis für Antiphon, bei dem sie sogar eine aktive Beteiligung am Sturz der demokratischen Ordnung für möglich hält. Bei Prodikos betont sie die besondere Distanz zu den althergebrachten religiösen Vorstellungen. Eine göttliche Begründung sozialer Normen sei für ihn daher gänzlich unvorstellbar gewesen, was ihn aber nicht zu einer amoralischen Haltung geführt, sondern zu der Position veranlasst habe, dass die Bürgerschaften sich selbstverantwortlich Werte setzen müssten. In der Auseinandersetzung mit Thrasymachos hebt Scholten seine deutliche Kritik an der bestehenden Demokratie hervor, die ihn motiviert habe, für eine Konzeption der patrios politeia einzutreten, die wesentlich zur metabole politeion von 411 v.Chr. beigetragen habe. Für Hippias arbeitet sie heraus, dass er zwar die Nomoi als eine notwendige Einrichtung akzeptiert, den Einzelnen aber dennoch weniger als Teil der Polis, denn als Individuum gesehen habe, welches für sich selbst Maßstäbe formuliert. Seine politische Position beschreibt sie als oligarchienah. Zu Kritias schließlich bemerkt sie, dass er sich mit seiner Haltung zu den Göttern wie auch zum Recht gänzlich von den Normen der Polis entfernt und als einer der 'Dreißig' offenkundig entscheidenden Anteil an der Zerstörung der Demokratie hatte.

Ein Desiderat bleibt in diesem Teil der Studie die Beschäftigung mit dem Anonymus Iamblichi, der - vermutlich gegen Ende des Peloponnesischen Krieges und damit etwas später als die meisten der hier untersuchten Sophisten - ausnehmend konstruktive Vorstellungen zur politischen Ordnung entwickelt hat. Diese knüpfen in einigen Punkten an Ideen anderer Sophisten, etwa Protagoras und Prodikos, an, gehen zum Teil aber darüber hinaus und enthalten Überlegungen, wie sie sich einige Jahrzehnte später bei Demosthenes und weiteren Rhetoren des 4. Jahrhunderts wiederfinden.

Im zweiten Teil der Studie untersucht Scholten die Reaktion der Zeitgenossen auf die Sophistik. Dazu nimmt sie vorrangig die einschlägigen Komödien des Aristophanes (die 'Wolken', die 'Vögel' und die 'Frösche') ins Visier. In der Kritik, die dort besonders am 'Demagogentum' und seinen vermeintlich desaströsen politischen Folgen laut wird, macht sie eine ausgeprägte Furcht davor aus, dass die Sophisten mit ihren neuartigen Auffassungen zu Politik und Religion die Grundfesten der Polis ins Wanken bringen könnten.

Scholten bewertet die zeitgenössische Kritik als grundsätzlich und hält sie als solche auch für im Wesentlichen gerechtfertigt. Gleichzeitig konzediert sie aber, dass die massiven Bedenken gegen die Sophisten, die in der Komödie zum Ausdruck kommen, wie auch die konkreten Maßnahmen der Polis gegen Angehörige dieses Personenkreises - hier sind besonders die Asebieprozesse zu nennen - nur im Kontext des Peloponnesischen Krieges und der speziellen mentalen Verfassung der Athener in dieser Zeit zu verstehen sind. Mit Letzterem schließt sie sich der communis opinio der althistorischen Forschung an, falsifiziert damit aber de facto ihre zuvor formulierte These.

Ein fundamentales Problem - das Scholten nur am Rande berührt - besteht darin, einzuschätzen, wie die Sophisten von der Mehrzahl der Athener des 5. Jahrhunderts wahrgenommen wurden. Im Speziellen stellt sich die Frage, inwieweit die Inhalte ihrer Lehren der breiten Bevölkerung bekannt waren und von ihr rezipiert wurden. Die Komödie gibt hier zweifellos wichtige Anhaltspunkte, deren Interpretation aber mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet ist, die sowohl mit den Spezifika des Genres wie auch mit der Komplexität der persönlichen Anschauungen des Aristophanes zu tun haben. Die Mehrzahl der Athener dürfte die Sophisten primär als Rhetoren bzw. Rhetoriklehrer wahrgenommen haben - darin ist sich die Forschung heute weitgehend einig.2 Das Wissen über ihre 'erkenntnistheoretischen' Auffassungen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen wird in der Bürgerschaft hingegen eher gering gewesen sein. Damit ist unwahrscheinlich, dass die Athener hierin eine Gefahr für ihr Gemeinwesen gesehen haben.

Folgt man Scholtens Gedankengang, so ergibt sich ein weiteres Desiderat: Es müsste erkundet werden, inwieweit von sophistischem Gedankengut tatsächlich Gefahren für die Polis ausgingen, ob es also gegen Ende des 5. Jahrhunderts zu einer politischen und religiösen Krise gekommen ist, an der die Sophistik einen maßgeblichen Anteil hatte. Dass diesem Problem in den letzten Jahren bereits in verschiedenen Untersuchungen nachgegangen worden ist, die zu weitestgehend negativen Befunden geführt haben, berücksichtigt Scholten nicht.

Irritierend ist, dass Scholten an vielen Stellen begrifflich nicht eindeutig zwischen 'Demokratie' und 'Polis' unterscheidet, sondern die beiden Termini nahezu gleichbedeutend verwendet. Hier wäre eine genauere Differenzierung unbedingt notwendig, um die zum Teil diffizilen politischen Positionen der Sophisten korrekt erfassen zu können. So stellen verschiedene ihrer Vertreter bekanntlich Überlegungen an, die mit der Demokratie nicht in Einklang zu bringen sind; ob sie damit aber die Polis als politische Gemeinschaft grundsätzlich ablehnen, ist eine andere Frage, der eigens nachgegangen werden muss.

Scholten hat zu Recht auf die innovative Kraft der Sophistik hingewiesen und damit offenkundige Brüche mit Früherem angesprochen. Nahezu vollständig übersieht sie dagegen das Phänomen der Kontinuität traditioneller Haltungen und Wertvorstellungen im sophistischen Gedankengut. Beispielhaft seien nur die Betonung des agonalen Prinzips, die Propagierung kompetitiver sozialer Normen und die Hervorhebung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft genannt. Insbesondere wenn man nach den 'destruktiven' Momenten in der Sophistik und ihrer möglichen Inkompatibilität mit der Polis - sei sie nun demokratisch oder andersartig verfasst - forschen möchte, dürften in dem Bereich die eigentlichen Anhaltspunkte zu finden sein.

Anmerkungen:
1 Richtungweisend wirkte hier besonders der Aufsatz von Martin, Jochen, Zur Entstehung der Sophistik, Saeculum 27 (1976) S. 143-164.
2 Die Diskussion darüber hat zuletzt stattgefunden in: Rubel, Alexander, Stadt in Angst. Religion und Politik in Athen während des Peloponnesischen Krieges, Darmstadt 2000, S. 60-75, zusammengefasst.

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