L. Gall (Hg): Politikstile im Wandel

Titel
Politikstile im Wandel. Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks


Herausgeber
Gall, Lothar
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 5
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ewald Frie, Fachgruppe Geschichte, Universität Essen

Wie verwandelte sich der politische Stil im Kaiserreich unter den Bedingungen des von Hans Rosenberg so bezeichneten „politischen Massenmarktes“? Das war die Leitfrage der dritten wissenschaftlichen Tagung der Otto-von-Bismarck-Stiftung im Oktober 2001. Behandelt wurden drei Bereiche: Zunächst Voraussetzungen des Stilwandels (Dieter Langewiesche: Politikstile im Plural; Andreas Biefang: Reichstag als Symbol der politischen Nation, Bernd Sösemann, Presse), dann die Entwicklung vom Honoratioren- zum Berufspolitiker in den Parteien (Volker Stalmann: Konservative, Harald Biermann: Nationalliberale, Ulrich von Hehl: Zentrum, Thomas Welskopp: Sozialdemokratie), schließlich beispielhaft einzelne Reichstagswahlkämpfe (Bernd Braun: antisozialistischer Wahlkampf 1878, Elfi Bendikat: Funktion und Einsatz von Symbolisierungen im Wahlkampf 1887, Andrea Hopp: Antisemitismus im Wahlkampf 1881). Theoretischer Gewährsmann der meisten Autorinnen und Autoren ist Max Weber, vor allem seine späte Schrift „Politik als Beruf“. Der so entstandene Band hat etwas Handbuchartiges: die Gliederung ist sachlich und konzise, der theoretische und thematische Hintergrund ist stets präsent, wichtige Felder der Bismarckschen Zeit (nur Langewiesche, Stalmann und von Hehl thematisieren auch die Wilhelminischen Jahre) werden einbezogen. Freilich, nach der Einleitung von Gall, die die Beiträge nüchtern zusammenfasst, und dem eher überraschungsarmen Überblicksaufsatz von Langewiesche stellt sich die Frage nach der innovativen Kraft des Unternehmens – schließlich sind Rosenbergs und Webers Thesen keine wirklichen Novitäten. Doch in den einzelnen Aufsätzen stecken durchaus nicht nur abschließende Resümees, sondern auch Diskussionsanregungen und Aufbrüche.

Andreas Biefang zeigt im Rahmen einer Presseuntersuchung, dass das deutsche Parlament „während der Kanzlerschaft Bismarcks einen herausragenden Platz in der politischen Berichterstattung und der öffentlichen Wahrnehmung ein[nahm]“ (S. 40). Der Reichstag wurde „zum wichtigsten Symbol der politischen Nation“ (S. 41). Biefang positioniert das Parlament genau dort, wo Wolfgang Hardtwig einmal ein staatssymbolisches Vakuum diagnostiziert hat. Den sich ergebenden Widerspruch mildert er durch den Vorschlag einer chronologischen Differenzierung, indem er seine Beobachtungen auf die Bismarckzeit eingrenzt, die Konkurrenz verschiedener alltagspolitikenthobener Symbolsysteme mit ihrer für das politische Bewusstsein der Bürger fatalen Wirkung aber für die wilhelminischen Jahre gelten lässt. Doch das ist nicht mehr als eine Hypothese, solange nicht die Wirkung verschiedener Symbolsysteme vergleichend wirkungsgeschichtlich untersucht wird und Biefang selbst die Parameter, auf denen seine Thesen für die Bismarcksche Zeit fußt, bis 1914 weiter beobachtet.

In der von Max Weber skizzierten Entwicklung vom Honoratioren- zum Berufspolitiker sind zwei Linien verknüpft: erstens, dass Politik zum hauptsächlichen Lebensinhalt von Individuen wird, und zweitens, dass Politik zum bezahlten Brotberuf wird. Harald Biermann stellt die politische Organisationsgeschichte der Nationalliberalen als eine frühe Ausbildung der ersten und – daraus resultierend – eine Verspätung der zweiten Entwicklungslinie dar. Bis in die 1890er-Jahre wurde die nationalliberale Partei durch eine kleine Gruppe von Generationsgenossen der Jahrgänge 1820-1830 dominiert, die ihren Lebensunterhalt aus außerpolitischen Quellen gewannen. Sie entsprachen dem Bild des Honoratioren, des Amateurpolitikers, und setzten dies als Legitimation für eine Politik, die vorgeblich dem Gemeinwohl diente, auch ein. Faktisch aber waren sie bereits „Berufspolitiker“ (S. 137), weil sie ihre ganze Kraft und Zeit der Politik widmeten, im Gegensatz zu den meisten ihrer Reichstags- und Landtagskollegen, die sich ein Leben für die Politik einfach nicht leisten konnten. Als sie in den 1890er-Jahre abtraten, als Parteistrukturen und Vereinsnetze an die Stelle eingeübter und informeller Hierarchien traten, war der Bruch, so Biermann, weniger scharf als angenommen. Die abtretende nationalliberale Elite war „ gleichsam contre cœur – [...] Wegbereiter“ (S. 150) des Trends zur Professionalisierung. „Für sie war Politik zum Beruf geworden.“ (S. 150)

Bei den Sozialdemokraten gab es in der Zeit vor dem Sozialistengesetz keine Honoratiorenpolitiker im Weberschen Sinne. Dafür fehlte den meist autodidaktisch gebildeten Arbeiterintellektuellen die materielle Basis. Welskopp wendet sich aber dagegen, nur von frühen Brotberufspolitikern zu reden. Er spricht von „Äquivalente[n] zu den Honoratioren der liberalen und konservativen Parteien“ (194), und meint damit Personen, die für die Partei lebten, „ohne die Frage der beruflichen Existenz [...] in den Vordergrund zu rücken“ (S. 194). Was sie von bürgerlichen Honoratioren unterschied, war die fehlende materielle Basis, die fehlende „Abkömmlichkeit“, und das in Ausmaß und Intensität gesteigerte politische Engagement. Welskopp stellt fünf dieser Personen in beeindruckenden Kurzbiografien vor, Berufspolitiker, was das Engagement betraf, Honoratioren im Hinblick auf die Entlohnung und die Hoffnung auf verlässliche Positionen und Karrieren. Viele zerbrachen an dieser Dauerüberforderung. Welskopp schließt mit Überlegungen, die die Frühgeschichte der bundesdeutschen Grünen zum Klingen bringen: „Es ist die Frage, ob ein solcher Politikstil, ob solche politische Karrieren nicht das Kennzeichen von Parteien in ihrer Bewegungsphase sind, wenn sich alle Strukturen noch im Fluss befinden. Denn dass ein solches Politikverständnis auf längere Sicht nicht durchzuhalten war, erwies sich schon im Übergang zur nächsten Generation professioneller Politiker in der Sozialdemokratie“ (S. 222). Nun wurde der Versammlungsredner, der Parteijournalist zum Brotberuf. Verschiedene Positionen im parteinahen Kleingewerbe boten Existenznischen. Politiker aus Berufung wurden, früher als in den anderen Parteien und unter dem Druck der materiellen Not, Berufspolitiker im ökonomischen Sinn.

Nach der Lektüre von zehn meist angenehm zu lesenden Beiträgen bleibt die Frage nach dem sich wandelnden Politikstil und seiner Bedeutung für die Interpretation des Kaiserreichs. Für Dieter Langewiesche besteht die „unverwechselbare Kontur“ (S. 21) des Kaiserreichs aus dem besonderen Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit, das durch den „unaufgelöste[n] Konflikt zwischen dynamischer Demokratisierung der Gesellschaft und blockierter Demokratisierung der staatlichen Herrschaftsordnung infolge unvollendeter Parlamentarisierung“ (S. 21) hervorgebracht wurde. Aber lassen sich solche Beschreibungen auf der Basis nationaler Forschung noch halten? Vielleicht sollten wir den gut lektorierten, gediegenen Band doch eher als Abschluss einer Forschungsphase zu politischem Stil und politischer Kultur betrachten. Wer mehr und Neues darüber wissen will, wird das Kaiserreich von außen und im internationalen Vergleich betrachten müssen.

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