H. M. Harrison: Driving the Soviets Up the Wall

Titel
Driving the Soviets Up the Wall. Soviet-East German Relations, 1953-1961


Autor(en)
Harrison, Hope Millard
Reihe
Princeton Studies in International History and Politics
Erschienen
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
€ 39,56
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Auf der Basis von Archivdokumenten der früheren UdSSR und DDR stellt Hope Harrison die Entwicklung des Verhältnisses zwischen beiden Staaten dar. Die Entscheidungen von 1953 zum "Neuen Kurs", zum 17. Juni und zu den Auseinandersetzungen an der SED-Spitze, die Konflikte von 1956 bis 1958 über die politische Orientierung und die Führung in Ost-Berlin, das Bemühen um Beseitigung der westlichen Präsenz in Berlin im Gefolge des sowjetischen Ultimatums vom November 1958 und schließlich die Vor- und Nachgeschichte des zweiten Ultimatums von Anfang Juni 1961 mit der Kulmination des Mauerbaus dienen der Autorin als Fallstudien. Ihr Untersuchungsansatz verbindet geschichtswissenschaftliche mit politologischen Herangehensweisen: Es geht nicht nur darum zu zeigen, wie es war, sondern zugleich auch darum, ein durchgängiges Beziehungsmuster aufzuweisen. Daher kommt generalisierenden Betrachtungen eine zentrale Bedeutung zu. Notwendigerweise werden die Einzelvorgänge zuweilen eher summarisch festgestellt, so dass den Details nicht immer letzte historische Genauigkeit zuteil wird. Die Darlegungen sind klar, in sich konsistent und zeichnen sich durch Lebendigkeit aus. Das Vorwort, in dem Hope Harrison ihren persönlichen Zugang zur Thematik - namentlich den Anstoss, den sie durch einen Berlin-Besuch just in den Tagen des Mauerfalls im November 1989 erhielt - deutlich macht, nimmt den Leser sogleich für das Buch ein.

Fruchtbar ist der Gedanke, das Verhältnis der DDR zur UdSSR nicht nach der Dichotomie von Abhängigkeit und Selbstständigkeit, sondern nach dem Kriterium einer "asymmetrischen Interdependenz" zu beurteilen. Das ermöglicht es, die Entwicklung der SED-Führung von einem Satellitenregime, das bei der Staatsgründung 1949 dem sowjetischen Besatzungsregime voll unterworfen war und ausdrücklich nur administrative Befugnisse zugewiesen bekommen hatte, zu einem Juniorpartner mit wachsendem Selbstbewusstsein gegenüber dem Hegemon in Moskau differenziert zu verstehen. Im Jahr 1953 hatten die Nachfolger Stalins zwar begonnen zu prüfen, ob sie nicht die "Autorität der DDR" durch Übertragung von mehr Kompetenzen stärken könnten, waren dann aber zu dem Entschluss gekommen, sie müssten wegen der galoppierenden Krise in der DDR zunächst einmal mit einem innenpolitischen Oktroi (dem "Neuen Kurs") Ordnung schaffen. Der offene Ausbruch der Krise am 17. Juni überzeugte sie davon, dass sie diese Politik mit verstärkten Eingriffen in die Strukturen der inneren Sicherheit und mit einer Entscheidung für Ulbricht gegen seine Kritiker Zaisser und Herrnstadt fortführen mussten, ehe sie (was dann im März des folgenden Jahres geschah und im September 1955 nochmals mit Nachdruck bestätigt wurde) unter Beibehaltung eines besatzungsrechtlichen Rahmens einen größeren politischen Freiraum gewährten. Ulbricht sah sich daher anderen Umständen gegenüber, als er es nach Chruschtschows Anklage gegen Stalin auf dem XX. KPdSU-Parteitag erneut mit Rivalen - diesmal mit Schirdewan und Wollweber - zu tun bekam, die ihm stalinistische Orientierung vorwarfen und damit dem verbreiteten Verlangen nach einer gemäßigteren Parteilinie Rechnung trugen.

Ab November 1958 hatte sich die Lage ein weiteres Mal verändert. Chruschtschow hatte nicht nur zur Herstellung einer weniger unausgewogenen Partnerschaft im sozialistischen Lager die Tätigkeit der sowjetischen Instrukteure und Berater in der DDR reduziert, sondern auch durch sein erstes Berlin-Ultimatum den Willen bekundet, das Besatzungsrecht insgesamt aufzuheben. Das richtete sich zwar gegen die Westmächte, deren Rechtsposition und Militärpräsenz in West-Berlin auf diese Weise unhaltbar gemacht werden sollte, doch unausweichlich verband sich damit die Konsequenz, dass die UdSSR gegenüber ihrem ostdeutschen Verbündeten keine übergeordneten Okkupationsbefugnisse mehr geltend machen konnte. Anforderungen an Ost-Berlin ließen sich demnach nur noch mit der Pflicht zu kommunistischer Solidarität und zu allianzkonformem Verhalten begründen. Wie Hope Harrison überzeugend darlegt, wollte Ulbricht die damit gegebenen Möglichkeiten ausnutzen. Je länger Chruschtschow zögerte, dem Standpunkt reale Geltung zu verschaffen, dass die auf Besatzungsrecht gestützte westliche Präsenz illegitim und daher zu beseitigen sei, desto ungeduldiger wurde der SED-Chef und versuchte in wachsendem Maße, unter Hinweis auf die sowjetische Rechtsposition vollendete Tatsachen zu schaffen, noch bevor der Kreml die Forderungen gegen den Westen durchgesetzt hatte. Wegen des damit verbundenen Konfrontationsrisikos konnte Chruschtschow das nicht dulden, sah sich aber durch das Verlangen, erst nach erreichter Regelung dürfe Schluss mit den illegitimen Ansprüchen der Westmächte sein, ins moralische Unrecht gesetzt.

Vor diesem Hintergrund sieht Hope Harrison sechs Faktoren, die Ulbricht zur Einflussnahme auf Chruschtschow befähigten. Erstens habe er das Gewicht in die Waagschale werfen können, das die DDR als militärisches Glacis für die UdSSR gehabt habe. Verstärkend sei dabei die innenpolitische Schwäche des ostdeutschen Staates hinzugekommen, die den sowjetischen Führer genötigt habe, dessen drohendem Zusammenbruch durch Erfüllen von Forderungen entgegenzuwirken. Zweitens habe die geographische Entfernung die Entwicklung Ost-Berliner Eigenständigkeit begünstigt. Drittens sei Ulbricht durch einen sehr selbstbewussten Charakter zur Durchsetzung divergierender Standpunkte befähigt gewesen. Viertens habe er sich darauf verlassen, dass die UdSSR die DDR nicht fallenlassen könne. Fünftens habe er auf das Verdammungsurteil von 1953 gegen den "Verbrecher Berija" hinweisen können, das sich nicht zuletzt auf dessen angebliche Absicht zum "Verrat an der DDR" stützte. Sechstens habe er den Kreml durch Kollusion mit China unter Druck gesetzt, das der Sowjetunion mangelnden Einsatz für die DDR und damit Verletzung einer sozialistischen Solidaritätspflicht vorwarf. Mit der Aufzählung der sechs Determinanten macht die Autorin deutlich, dass nach ihrer Ansicht die Beziehungen auf sowjetischer Seite entscheidend durch Sachfaktoren - und nicht etwa durch Chruschtschows persönliche Einstellungen und Präferenzen - bestimmt wurden. Das entspricht dem politologischen Ansatz, der auf Ermittlung objektiver Regelhaftigkeit abzielt und folglich die Tendenz hat, subjektive Komponenten zu vernachlässigen.

Hope Harrison war vor Beginn ihrer Arbeit an dem Thema an den Ulbricht-Klischees aus den Zeiten des härtesten Kalten Krieges orientiert, wonach der SED-Chef nur ein gehorsamer Empfänger sowjetischer Befehle war, und entdeckte dann aufgrund der mittlerweile zugänglichen Archivdokumente, dass er - in Ansätzen bereits 1953, voll entfaltet jedoch seit 1958 - mit Nachdruck eigene Interessen verfolgte, die sich mit denen Moskaus nicht deckten, und sich nicht scheute, seinen Willen gegen den Kreml geltend zu machen. Da Chruschtschow vor allem nach dem Schock des Ungarn-Aufstandes die Vorstellung hatte, die Stabilität des sozialistischen Lagers könne und solle durch eine möglichst weitgehende Respektierung der Selbständigkeit seiner Mitglieder stabilisiert werden, hatte Ulbricht mit seinem Widerspruch und seiner Eigenmächtigkeit vielfach Erfolg.

Daraus zieht Hope Harrison den Schluss, der SED-Chef habe nicht nur erheblichen Einfluss in Moskau ausgeübt, sondern sei mit seinem Drängen auf Maßnahmen gegen West-Berlin zum bestimmenden Akteur auf östlicher Seite geworden. Dem Kreml seien 1960/61 zunehmend Handlungen aufgenötigt worden, die dieser gar nicht gewollt habe. Ulbrichts Bemühen, "mit dem [ostdeutschen] Schwanz kühn den [sowjetischen] Hund zu wedeln," war demnach sehr wirkungsvoll. Wie der Werktitel andeutet, ließ der von ihm ausgehende Druck Chruschtschow vor Verzweiflung die Wände hinaufgehen. Diese zugespitzte These, die in den Ausführungen des Buches weniger radikal zum Ausdruck kommt, gibt natürlich zu einer Kontroverse Anlass. Vor allem Michael Lemke, der die Beziehungen von UdSSR und DDR in der Berlin-Krise auf der Basis der ostdeutschen Akten detailliert untersucht hat, und Aleksandr Fursenko, der die einschlägigen russischen Archivbestände wie kaum ein anderer Historiker kennt, haben klar widersprochen und deutlich gemacht, dass, wie es bei Fursenko ausdrücklich heißt, "der Schwanz nicht mit dem Hund gewedelt" habe.

Ein weiterer potenzieller Streitpunkt ist, dass Hope Harrison als Zeitpunkt für Chruschtschows Entschluss zur Schließung der Sektorengrenze und Abriegelung West-Berlins Anfang Juli 1961 nennt, ohne dass es in den Akten Angaben darüber gibt. Matthias Uhl und Armin Wagner setzen auf der Grundlage militärischer DDR-Akten, die freilich auch keine direkte Auskunft enthalten, die Entscheidung früher an, während Aleksandr Fursenko - in diesem Falle ebenfalls ohne Nachweis - glaubt, der Kremlchef habe mit seinem Entschluss auf die Rede Kennedys vom 25. Juli 1961 reagiert.

Bei einem Thema, dessen Untersuchung durch eine mangelhafte Überlieferungsbasis erschwert wird, sollte es nicht überraschen, dass Fragen offen bleiben und daher zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen werden. Vor diesem Hintergrund ist die Lektüre des Buches von Hope Harrison zu empfehlen: Die Darstellung ist eingängig, gut lesbar und insgesamt sehr zuverlässig; sie gibt einen hervorragenden Einblick vor allem in die Geschehnisse, die zum Bau der Berliner Mauer führten.

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