P. Blickle u.a. (Hgg.): Gute Policey

Cover
Titel
Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland


Herausgeber
Blickle, Peter; Kissling, Peter; Schmidt, Heinrich R.
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
596 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Willem Huntebrinker, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Das rege Interesse, das Policeyordnungen seit langem in der Frühneuzeitforschung erfahren, erklärt sich schon allein aus der erstaunlichen Vielfalt der Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens, die in ihnen geregelt wurden. Auch der vorliegende Sammelband verdeutlicht in drei thematisch differenzierten Teilen die Vielfalt der Fragestellungen, die durch Policeyordnungen als Quellenmaterial inspiriert sind. Das Ziel dieses Bandes besteht darin, den Terminus „gute Policey“, der laut Peter Blickle andere Begriffe wie „Sozialdisziplinierung und Absolutismus als Paradigmen zur Beschreibung der Frühen Neuzeit zunehmend verdrängt“ (S. VII), als eigenständiges Konzept zu etablieren. Dazu lenkt der Band den Blick auf die Policeytätigkeit als Bestandteil des politischen Diskurses und Handelns. Ausgangspunkt ist dabei die aristotelische Begriffsbedeutung von Politik, worunter „die Kunst, gute Gesetze zum Wohl der Allgemeinheit zu machen“ (ebd.) zu verstehen sei. Motiviert durch diesen Gedanken erhält die Ordnungsgesetzgebung ihre gesellschaftspolitische Relevanz.

Der Band gliedert sich in drei thematische Hauptteile, in denen die „gute Policey“ aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht wird. Dabei werden divergierende Herrschaftsformen wie auch konfessionell unterschiedlich geprägte Gebiete zwischen Augsburg und Zürich in den Blick genommen, um Vergleiche zu ermöglichen. 1 Vorangestellt ist den drei Teilen ein Forschungsüberblick von Andreas Hieber zum Thema Policey in diesem Raum. Den ersten Hauptteil bildet – sehr unkonventionell für einen Sammelband – die Edition einer Landesordnung des Fürststifts Kempten, mit der sich im Anschluss mehrere kurze Beiträge beschäftigen. Der zweite Teil „Die Ordnung des öffentlichen Raumes durch Policeyen“ widmet sich lokalen Fallstudien. Der dritte Teil ist schließlich mit „Normative Aspekte der guten Policey“ betitelt und enthält Beiträge, die den lokalen Rahmen größtenteils verlassen.

Einen großen Raum des ersten Teils nimmt die Edition der Landesordnung des Fürststifts Kempten ein, die Peter Kissling vorgelegt hat. Hieran schließen sich sieben kürzere Beiträge zu einzelnen Materien und Aspekten der Ordnung an. Betrachtet werden im Einzelnen die Religionsbestimmungen (Monica Di Mattia), die Strafrechtsartikel, die Sittendelikte, die Kauf- und Verkaufsbestimmungen (Andrea Schüpbach) sowie die Verordnungen gegen Juden und „gartende“ Knechte (Daniel Schönmann). Ferner werden die Legitimation und Implementation der Ordnung (Andreas Hieber) analysiert sowie die Ordnung mit dem so genannten Memminger Vertrag verglichen (Nora Mathys). Die Beiträge bieten aufschlussreiche Informationen, können hier allerdings nicht einzeln erörtert werden. Abgerundet wird der erste Hauptteil durch zwei längere Aufsätze, in denen die Kemptener Ordnung als Ausgangspunkt für vergleichende Analysen herangezogen wird. Peter Kissling vergleicht die Policey der Reichsstadt und des Fürststifts Kempten. Der besondere Reiz dieses Vergleichs liegt zum einen darin, dass hier eine reformierte und eine altgläubige Obrigkeit in ihrer Policeytätigkeit kontrastiert werden können. Zudem nimmt er die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Reichsstadt und Territorium in den Blick. Da der Autor auch die Rezeption des Reichsrechts in beiden Gebieten in die Analyse mit einbezieht, gelingt es ihm, ein umfassendes Bild der Spezifika beider Gesetzgebungen zu zeichnen. Gängige Thesen über die Unterschiede städtischer und territorialer Gesetzgebung sowie zur Rolle der Reichsgesetzgebung werden dabei überprüft und für den Untersuchungsraum sinnvoll modifiziert. Ebenfalls mit einem vergleichenden Ansatz beleuchtet Lucas Marco Gisi die Interaktion zwischen Landes- und Reichspolicey. Er fragt, ob die Reichspoliceyordnungen tatsächlich Initiator für den Erlass von Landesordnungen waren oder ob man die Wechselwirkung zwischen Landesgesetzgebung und Reichsgesetzgebung bei der Gestaltung von Normen komplexer denken muss. Der Autor behandelt diese Frage sehr umsichtig und liefert dabei eine spannende Analyse ebenso zur Entstehung der Reichspoliceygesetzgebung, wie zur Interaktion zwischen dieser und der territorialen Policeyaktivität. Der Beitrag weist somit weit über die Betrachtung der Verhältnisse in Kempten hinaus.

Die zentrale Fragestellung des Sammelbandes nach der politischen Qualität der „guten Policey“ wird im ersten Teil leider wenig berücksichtigt. Zumindest fehlt meist die argumentative Bezugnahme darauf. Im zweiten Teil hingegen gelingt die Einordnung der Beiträge unter das Rahmenthema trotz sehr unterschiedlicher Untersuchungsfelder und Einzelfragestellungen wesentlich überzeugender.

Lokale und regionale Fallbeispiele zur politischen Qualität der Policeytätigkeit werden im zweiten Hauptteil behandelt. Philipp Dubach setzt sich in seinem Aufsatz „Policey und Konflikt“ mit der Frage auseinander, unter welchen Umständen Policeygesetze Konflikte zwischen Obrigkeit und Untertanen schufen. In einer bestechend genauen Rekonstruktion des Widerstandes gegen ein 1603 im Hochstift Augsburg erlassenes Religionsmandat untersucht der Autor, ob sich der Protest nur gegen einzelne Inhalte richtete oder darüber hinaus die gesetzgeberischen Befugnisse der Obrigkeit angreifen konnte. Obwohl letzteres nicht explizit formuliert wurde, kann der Autor dennoch verdeutlichen, dass dies keinesfalls außerhalb des Denk- und Handlungshorizontes der Untertanen lag.

Das Spannungsfeld zwischen konsensual gewiesenem Recht und obrigkeitlichen Gesetzen ist das Thema des Beitrags „Die Klosterherrschaft Ochsenhausen. Rechtliche Garantien als Grundlage für obrigkeitliche Politik“ von Laurenz Müller. Ein 1502 geschlossener Vertrag zwischen dem Abt, dem Konvent und den Untertanen wird einer Gesetzessammlung aus dem Jahr 1603 gegenübergestellt. Der Autor zeigt, dass der Vertrag von 1502 – durch den ein gewaltsamer Konflikt zwischen Bauern und Abt beigelegt wurde – rechtliche Zugeständnisse an die Bauern machte. Der Streitpunkt zwischen Bauern und Abt, die Durchsetzung schriftlich fixierter Gesetze gegenüber dem konsensual gewiesenen Recht, blieb allerdings im Vertrag ausgespart. Der Autor interpretiert dies als Zugeständnis an den Abt, der dadurch einen politischen Handlungsspielraum gewinnen konnte, den er – wie die Gesetzessammlung aus dem Jahr 1603 demonstriert – zu nutzen verstand.

Philipp Dubach bezieht sich in seinem Beitrag „Policey auf dem Lande“ auf die Behauptung der Forschung, die Policeygesetzgebung habe sich in den Städten entwickelt, wobei sie auf spezifisch städtische Problemlagen reagiert habe, und sei dann in ländlichen Gebieten lediglich adaptiert worden. Anhand zweier ländlicher Gemeinden, die eine starke Autonomie und eine ausgeprägte politische Partizipationsstruktur aufweisen (Glarus und Appenzell), zeigt der Autor jedoch, dass ländliche Gesellschaften eigene ordnungspolitische Vorstellungen hervorbrachten und zudem sogar ein Instrumentarium entwickelten, um eine landesweite Ordnungspolitik umzusetzen.

„Die Wirtschaftspolicey des Landes Glarus im 16. Jahrhundert“ ist der Titel des Beitrags von Adrian Bürki. Vor dem Hintergrund der spezifischen Wirtschaftsstruktur des Landes wird die Wirtschaftspolicey daraufhin untersucht, welche rechtspolitischen Steuerungselemente etabliert wurden, um natürliche Ressourcen zu schonen, die Subsistenz des Landes zu sichern und dabei den Markt funktionsfähig zu erhalten. Er zeigt, dass die wirtschaftliche Elite, die zugleich die politische Führungsschicht bildete, ihre eigene Expansion auf dem Markt zu einem gewissen Teil selbst einschränkte, was der Autor mit der starken Position der Landgemeinde erklärt.

Arman Weidenmann untersucht die „Züricher Policeymandate im Spiegel zwinglischer Sozialethik“. Herausgearbeitet wird der Einfluss des Konzepts des „idealen Gottestaates“ auf das Policeyhandeln der Züricher Obrigkeit. Gefragt wird, inwieweit die rechtliche und politische Legitimation der Mandate auf das Konzept zurückgreift. Ein Vergleich zu den Verordnungen in Bern und der Kurpfalz zeigt die spezifische Prägung der Züricher Policey während der Reformation. Interessant ist zudem die unterschiedliche Deutung religiöser Legitimationsargumente durch Rat und Bauern.

Den dritten Teil des Werkes leitet Blaise Kropf ein, indem er sich mit dem „Entstehen der police im frühneuzeitlichen Frankreich“ auseinandersetzt. Der Untertitel „Der Begriff aus der politischen Theorie – das Konzept aus der administrativen Praxis“ deutet bereits daraufhin, dass die Begriffsbildung „police“ eng mit der Aristoteles-Rezeption verbunden war. Der Autor zeigt eindrucksvoll, dass der Terminus für eine auf das Gemeinwohl fixierte Ordnungspolitik der städtischen Administration Verwendung fand, die sich zuvor als Reaktion auf die Krisen des 14. Jahrhunderts herausgebildet hatte. So konnte der König später von einer Übernahme dieser Gesetzespraxis profitieren.

Peter Kissling analysiert unterschiedliche Normvorstellungen von Genossenschaft und Obrigkeit anhand der Nutzungsrechte am Wald, die in Verordnungen geregelt wurden. Die Policeytätigkeit zum Schutz natürlicher Ressourcen und die Rolle des Konzepts der „Nachhaltigkeit“ werden dabei thematisiert. Letzteres wird von den Genossenschaften anders definiert als von der Obrigkeit, obgleich sich beide auf vergleichbare Prinzipien berufen. Spannend ist der Beitrag vor allem auch für die Frage nach den konservierenden oder zukunftsgerichteten Absichten von Policey. Wollten die hier behandelten Policeyaktivitäten den alten Zustand bewahren oder wurden mit dem Konzept der „Nachhaltigkeit“ Elemente der Zukunftsplanung angestrebt?

Den Zusammenhang zwischen „Beschwerden und Polizeien“ beleuchtet Peter Blickle in seinem Beitrag mit dem Untertitel „Die Legitimation des modernen Staates durch Verfahren und Normen“. Dabei wird deutlich, wie eng das Verhältnis zwischen den Beschwerden und Bitten der Untertanen und der Gestaltung von Policeyordnungen war. Die Policey muss als komplexer Kommunikationsprozess betrachtet werden, der auf der Interaktion zwischen Obrigkeit und Untertanen basierte. Der beiderseitige normative Bezugspunkt ist dabei der „gemeine Nutzen“. Dem Territorialstaat allerdings sei – so Blickle – im Laufe des 16. Jahrhunderts eine Herauslösung des Konzepts „gemeiner Nutzen“ aus der Gemeinde und eine Nutzung des Begriffs für die Legitimation territorialstaatlicher Gesetzgebung des Landesherren gelungen.

Der Band wird mit Hans Maier von einem Pionier der Policeyforschung abgeschlossen. „Polizei als politische Theorie zu Beginn der Frühneuzeit“, so der Titel seines Beitrags, der einen knappen, aber gehaltvollen Überblick über die Forschungsgeschichte zur Policey und über die Konzeption von Policey in der theoretischen Diskussion der Frühen Neuzeit bietet. Dabei belegt die Verwendung des Begriffs bei „späten Autoren“ wie Kant oder Goethe dessen Wirkungskraft und Potenzial.

Der Sammelband bietet eine reiche Fundgrube für Einzelfragen im Kontext der Policey, ist aber auch als Gesamtwerk ein innovativer Beitrag für die Policeyforschung. Dass die Interaktion zwischen Obrigkeit und Untertanen in der Gestaltung von Policeynormen und in der Auseinandersetzung um deren Legitimation, Implementation und Durchsetzung bei vielen Beiträgen im Vordergrund steht, ist positiv hervorzuheben. Denn gerade hier wird deutlich, dass die „gute Policey“ durchaus als politisches Handeln gedacht und untersucht werden kann, womit der Sammelband seinem Anspruch, einen neuen Blickwinkel auf die „gute Policey“ einzunehmen, gerecht wird. Gerade deshalb ist es schade, dass dies im ersten Teil nicht immer deutlich wird. Der Editionstext der Landesordnung und die Beschäftigung mit den einzelnen Gesetzesmaterien nehmen zu viel Raum ein, ohne den Bezug zum Politischen explizit herzustellen. Eher implizit bleibt im Gesamtwerk auch die Bezugnahme auf den Untertitel des Buches. Peter Blickle erklärt zwar im Vorwort knapp und plausibel, warum die Policey einen öffentlichen Raum generierte (S. VIII ), dieser Aspekt wird in den einzelnen Aufsätzen allerdings zumeist vernachlässigt. Insgesamt aber bleibt der Eindruck bestehen, dass der Band die politische Qualität der „guten Policey“ herausarbeitet und so das Verständnis der Bedeutung von Policey für die Frühe Neuzeit nachhaltig zu erweitern vermag. Es ist zu hoffen, dass der Band Anstoß für weitere Forschungen gibt, die sich anderer Regionen annehmen und zudem weitere Aspekte der Beziehung zwischen Policey und Politik beleuchten werden.

Anmerkung:
1 Die Ergebnisse des Sammelbandes stehen in Zusammenhang mit einem durch den Schweizer Nationalfond geförderten Forschungsprojekt. Zur Zielsetzung und dem methodischen Vorgehen vgl. auch http://www.hist.unibe.ch/f-blickl.htm#polizei (Zugriff auf URL 06.11.2003).

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